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Die Begegnung
"Sie sehen traurig aus."
Erschrocken blicke ich auf. Ein Mann steht in der Tür. Er hat einen altmodischen Hut auf. Aus den Fünfzigern, glaube ich. Graublau. Sein Bart, von weißen Haaren durchzogen, erinnert mich an Lenin.
"Nun schauen Sie nicht so erschrocken", meint er jovial.
Der Zug rüttelt plötzlich und er hält sich mit der Rechten am Türrahmen fest.
"Ich darf eintreten?", sagt er und tritt ein. Schiebt die Glastür hinter sich zu, setzt sich auf die Sitzbank gegenüber. In die andere Ecke.
Ich sitze am Fenster.
"Natürlich", murmele ich. Räuspere.
Der Zug riecht verbraucht. Alt. Nach Tausenden Menschen, altem Nikotin. Ich rauche nicht mehr. Sitze in einem Nichtraucherabteil. Aber der Geruch von altem Rauch durchweht unsere Zivilisation. Ist überall zu finden. An Sachen. In Zügen, Autos, Straßenbahnen, U-bahnen, Häusern, Restaurants.
Er faltet seine Hände aufeinander. Legt sie auf das übergeschlagene Knie.
Ich mustere ihn verstohlen. Und leicht verärgert. Er hat mir mein Melancholie verdorben. Gerade sah ich zum Fenster hinaus. Verfolgte die vorbeifliegende Landschaft. Dachte traurig an die Parallelen zu meinem Leben. Alles fliegt an mir vorbei. Viel zu schnell. Hinter einer Scheibe. Ich bin unbeteiligt. Habe keinen Einfluss. Zielstrebig scheint es auf etwas zu zusteuern, von dem ich keine Ahnung habe. Ich fühle mich oft traurig und einsam. Die Werte, erstrebenswerten Ziele, Oberflächlichkeiten, die mich interessieren sollten, nach denen die gesamte moderne Welt zu streben scheint - bedeuten mir nichts.
Es ist nicht wichtig viel Geld zu haben, die neueste Mode zu kennen, sich Namen von Stars und Sternchen zu merken, die neuesten Hits zu hören, Designernamen zu kennen und sich nur ihre Produkte zu holen, die "Szene" zu kennen, "In" zu sein - welche Verschwendung von Leben.
Und doch - niemand kann mir eine Alternative zeigen. Ich blättere in Zeitungen, Magazinen, Büchern, höre Radio, sehe Fern. Es sind immer die gleichen Indoktrinationen. Überall spürt man, begreift man, dass die Menschen heute unglücklich sind. Und überall benutzt man dies Wissen um zum Konsum zu zwingen, zu einer "modernen" Lebensweise.
"Tue dies, lebe das, habe die Möbel, fahre jenes Auto, höre dies Musik, lese jenes Buch, kenne diese Kultserie, trage jene Mode, strebe nach Status, strebe nach jenem, richte dich nach diesen - und du wirst glücklich sein."
Aber ich bin es nicht. Probiert habe ich alles.
In diese Stimmung platzt dieser Mann. Mit seinem Tweedanzug aus den Siebzigern. An den Ellbogen mit Lederflecken versehen.
Oh.
Ich habe ihn zu lange angestarrt.
Verlegen blicke ich im Abteil umher.
Er lächelt.
"Sie brauchen keine Angst zu haben, wissen Sie."
`Wie meint er das?`
Ich blicke ihn, wie ich hoffe, höflich an.
"Schauen Sie nur. Nehmen Sie auf. Wozu haben wir Augen - wenn nicht um zu sehen? Wozu Ohren, wenn nicht um zu hören? Wozu einen Mund - wenn nicht um zu sprechen?"
´Er muss meine Ablehnung doch spüren´, denke ich.
Seit ich von Depressionen heimgesucht werde, kapsele ich mich ein. Will nicht in Wechselwirkung mit all diesen Oberflächlichkeiten stehen.
"Sie sind traurig, weil sie etwas vermissen. Ihnen fehlt Liebe."
Ich räuspere mich erneut, blicke ihn grimmig an.
"Sie sind so lang schon allein, dass sie ein Griesgram geworden sind", plappert er fröhlich.
Ich gebe auf.
"Sie kennen mich doch gar nicht", werfe ich empört ein.
"Oh doch. Sie fühlen eine tiefe Trauer, ekeln sich vor der Oberflächlichkeit der Anderen - und agieren doch genauso. Wie ein Schiff segeln sie über das Meer des Lebens. Wie alle. Statt einzutauchen. Zu verharren. Stehen zubleiben."
"Aber wie soll ich eintauchen, wenn doch alle sich für nichts anderes als Sportergebnisse, Filme, Essen, Sex interessieren?"
"Ist das so? Oder verurteilen Sie Menschen nicht einfach? Denken Sie tatsächlich es gäbe niemanden, der wie sie fühlt? Wie sie denkt? Dass sie der Einzige Mensch unter Milliarden sind, der sich diese Gedanke macht?"
"Milliarden? Aber um mich herum nicht. Ich kenne nur einige Hundert!"
Ich bin verärgert.
"Um so schlimmer! Sie schließen von diesen wenigen auf alle?"
Ich hole kurz Luft. Will scharf etwas erwidern. Aber da bemerke ich dieses Funkeln in seinen Augen. Ein leichtes Schmunzeln über seinem Bart.
"Sie haben Recht.", sage ich. "Und doch - ich kann doch nicht jeden Menschen in meiner Umgebung fragen, ob er wie ich empfindet? Vor Verallgemeinerung, Schubladendenken, Oberflächlichkeit, dem Tragen von Masken, Selbstverleugnung zurückschreckt?"
"Können Sie nicht? Ist das nicht der leichte Weg? Aufgeben? Ändern Sie etwas. Ziehen Sie um. Suchen Sie sich eine neue Arbeit. Reden sie mit den Menschen offener. Sagen Sie immer die Wahrheit. Wenn sie etwas oder jemand traurig oder glücklich macht - warum sollten sie nicht darüber sprechen, es der Person sagen?"
"Weil ich verletzt werden könnte?!"
"Aber dann geben Sie doch auf! Und wenn alle Menschen das tun - dann haben die Falschen gewonnen! Wie viele Menschen empfinden wohl ähnlich wie sie? Und verstecken sich auch wie sie! Gehen Sie hinaus! Verbessern sie die Welt! Sie haben etwas zu sagen. Sind etwas besonderes - wie jeder einzelne Mensch auch!"
Seine Worte berühren mich. Es ist nicht nur seine Stimme. Seine Eindringlichkeit. Ich spüre Liebe gegenüber allen Menschen. Seine Worte sind einfach und erreichen mich.
"Wer sind sie?", frage ich leise.
"Ist das wichtig? Könnte ich nicht Sie sein? Und ihnen gegenüber ein Hilfesuchender? Ich habe ihnen Heute geholfen! Aus ihrer Traurigkeit. Nur mit ein paar Worten! Die sie auch in sich haben. Denken Sie daran: Wenn sie das nächste Mal Kummer befällt, kommen Sie aus sich heraus. Reden Sie mit jemanden. Hören Sie selber aber auch zu."
Und dann - überraschend - reicht er mir seine Hand. Sie ist kräftig und warm. Dieser kurze Körperkontakt löst die in mir vergrabenen Tränen.
"Ja. Weinen Sie nur. Es ist nicht schlimm zu weinen. Es ist nicht schlimm, immer offen zu sein. Vielleicht werden Sie enttäuscht oder verletzt, denn keiner ist perfekt, aber geben sie sich und die anderen nicht auf. Der schwierige Weg wird sie am Ende belohnen. Sie finden sich -und ihr persönliches Glück!"
Ich nicke. Kann nicht sprechen. Schluchze. Weine.
Mir war nicht klar, wie viel Trauer in mir verborgen lag. Gärte.
"Danke", flüstere ich heiser.
"Nein, Nein. Danken Sie bitte nicht. Sie haben zugehört. Mir eine Chance gegeben. Ich danke Ihnen."
Langsam erhebt er sich. Streicht ein paar Falten glatt.
"Wo wollen sie hin", frage ich.
"Oh. Hier muss ich leider raus. Denken Sie stets daran - ich bin immer in ihrer Nähe, weil immer ein Mensch in ihrer Nähe ist. Alle Menschen wollen glücklich sein. Nur kennen Viele nicht den rechten Pfad."
Er öffnet die Tür, zwinkert mir vergnügt zu und - verschwindet.
Er hat sich nicht vorgestellt. Doch ich weiß, wer er war.
Gott!