Die Bedrohung
Die Bedrohung
Graubart, der Anführer der Wölfe, hatte die Tiere des Waldes zu einer wichtigen Versammlung geladen. Da jeder wusste, dass es für das eigene Leben angenehmer sein würde, einer solchen Einladung nachzukommen, waren auf der Lichtung zum vereinbarten Zeitpunkt die Vertreter sämtlicher Tierarten anwesend.
Graubart erhob sich langsam, blickte mit ernstem Gesicht in die Runde und sprach:
„Liebe Freunde und Mitglieder unserer kleinen Waldgemeinschaft, ich weiß, dass es in der Vergangenheit zu einigen Missverständnissen zwischen dem Clan der Wölfe und anderen Tieren des Waldes gekommen ist. Dies bedauere ich zutiefst, vor allem deshalb, weil wir alle heute gemeinsam einer Bedrohung begegnen müssen, die jegliches Leben im Wald auslöschen könnte.
Was soll das für eine Bedrohung sein, werdet ihr fragen. Nun, meine Frau, die Mutter meiner geliebten Kinder, hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Jungen unseres Rudels an Leib und Leben von einer Ziegenherde gefährdet wurden, die sich seit einigen Tagen in der Nähe aufhält. Wie die Kleinen so sind, haben sie sich zum Spielen auf die Weide begeben. Nicht nur, dass die Ziegen unsere Jungen mit wilden Sprüngen in Angst und Schrecken versetzten und mit ihren Hörnern bedrohten. Nein, es wurde noch viel schlimmer. Einer meiner Söhne quält sich seit Tagen mit furchtbarem Bauchgrimmen, weil er in jugendlichem Eifer etwas von dem fraß, das die Ziegen bei ihrer Wanderung hinterlassen hatten. Ich spreche von kleinen, körnerartigen Ausscheidungen, die diese Wesen aus lauter Böswilligkeit über die Wiesen verstreuen und die so giftig sind, dass sie unser aller Ende sein können.“ Die anderen Tiere sahen bei diesen Worten eine glitzernde Träne im rechten Auge von Graubart, welche einige als Zeichen tiefster Ergriffenheit auffassten, weniger Gutwillige hingegen als Zeichen hungriger Gier.
„Stellt euch vor, diese Tiere fallen über unseren schönen Wald her und vergiften mit ihren Ausscheidungen den Boden und damit unser ganzes Leben. Dann versteht ihr, wie ernst die Bedrohung für uns wirklich ist.“
Ein lautes Stimmengewirr erhob sich und nach einiger Zeit meldete sich Tambour zu Wort, der Vertreter der Füchse. Er beschwor die anderen, nicht an den Aussagen des Wolfes zu zweifeln und die Bedrohung durch die Ziegen ernst zu nehmen. Er selber habe schon von Verwandten in anderen Waldgebieten gehört, die vor solchen giftigen Ausscheidungen hatten fliehen müssen. Die anderen Tiere verstummten eingeschüchtert. Nun erhob sich Graubart wieder und rief: „Ich und meine mutigsten Mitstreiter sind bereit, dieser Gefahr zu trotzen und die Ziegen von hier zu vertreiben.“
Schon wollte sich der Fuchs wieder erheben, da röhrte der alte Hirsch aus der hintersten Ecke der Lichtung: „Wer sagt uns denn, dass du nicht nur die Ziegen fressen willst? Ich habe noch nie von einer solchen Bedrohung gehört. Daher schlage ich vor, dass sich eine Abordnung von uns zu den Ziegen begibt und deine Anschuldigungen überprüft.“
Graubart blickte giftig zum Hirsch und zischte: „Der nächste Winter wird dir schon zeigen, wie stark du wirklich bist.“
Laut antwortete er: „Ich bin dafür, so schnell wie möglich der Bedrohung Herr zu werden. Wenn man aber hier an meinen Worten zweifelt, so können wir gerne eine Abordnung zu den Ziegen schicken.“
Er sandte ein grimmiges Knurren zu den Vertretern der Hasen und Maulwürfe, dass diese vor Angst zu schlottern begannen, und sprach: „Ich schlage Hase und Maulwurf vor, um unsere friedlichen Absichten zu unterstreichen. Geht hin und untersucht, ob ich die Wahrheit gesprochen habe. Und Gnade euch Gott, ihr seid nicht gründlich genug.“
Hase und Maulwurf liefen zu den Ziegen und untersuchten deren Hinterlassenschaften. Sie fanden zwar, dass diese auf das Übelste rochen, konnten aber keine Giftigkeit feststellen. Da sie Mitleid mit den vielen Ziegen und ihren Jungen hatten, aber auch den Wolf nicht verärgern wollten, rieten sie ihnen, ihre Hörner zu stutzen. Sie forderten alle Ziegen auf, so weit wie möglich auf jede Ausscheidung zu verzichten, um nicht unnötig den Wolf zu reizen. Also ließen sich die Ziegen ihre Hörner absägen und unterdrückten ihr Knödeln so heftig, dass sich ihre Gedärme schon aufblähten.
Ängstlich liefen Hase und Maulwurf zum Wolf zurück und berichteten, sie hätten leider noch keinen endgültigen Beweis für die Giftigkeit der Ausscheidungen gefunden, doch bis zum Abschluss ihrer Untersuchung seien die Ziegen bereit, auf ihre Hörner zu verzichten und würden zukünftig keine Köttel mehr über die Wiesen verstreuen.
Da wurde Graubart furchtbar zornig, schrie und grollte, dass diese Versammlung unfähig sei, die wirkliche Bedrohung durch die Ziegen zu erkennen. Er rief alle Wölfe und Füchse hervor, die sich in der Nähe der Lichtung versteckt gehalten hatten, und sie marschierten gemeinsam aus dem Wald.
Die Zurückgebliebenen blickten sich ängstlich um. Manche hofften, dass es Wolf und Fuchs gelingen möge, die Gefahr vom Wald abzuwenden, andere wiederum schüttelten nur den Kopf.
Nach einer Weile war lautes Schreien und Blöken zu hören. Dann wurde es sehr still und alle warteten unsicher ab. Endlich erblickten die ersten die Vorhut der Wölfe, die mit blutigen Schnauzen und prall gefüllten Mägen schwerfällig heimkehrten. Und ein erleichteter Jubel brach aus, war doch die Bedrohung des Waldes erfolgreich abgewehrt worden. Die Tiere feierten drei Tage und Nächte ihre Rettung und sangen Lieder über den Heldenmut von Wolf und Fuchs. Nur der alte Hirsch blieb den Feierlichkeiten fern und führte seine Familie tiefer in den Wald hinein.