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Die Barkasse
„Das hat sich mal wieder gelohnt!“ Jasmin blickt im Schein einer Straßenlaterne zufrieden in ihre Tüte mit den Süßigkeiten.
„Und ob. Ich liebe Halloween!“ Marco spricht mit vollem Mund. „Aber merkt ihr, dass es neblig wird? Gehen wir nach Hause.“
„Ich weiß nicht“, meint Jasmin und rückt sich den hohen Hexenhut auf dem Kopf zurecht. „Meine Mutter nimmt mir wieder den ganzen Naschkram weg und will, dass ich ihn mir einteile.“
„Gehen wir doch runter ans Wasser“, schlägt Tom vor. „Da können wir in Ruhe sitzen und essen, bis wir platzen. Was weg ist, kann dir deine Mutter nicht mehr nehmen.“ Er grinst.
Marco und Jasmin sehen ihn entgeistert an.
„Bist du blöd?“, will Marco wissen. „Du kannst doch von hier aus sehen, wie dicht der Nebel über dem Fluss ist. Und es ist Halloween! Wer weiß, was sich da im Nebel herumtreibt.“
„Jeder weiß doch, dass in dieser Nacht Geister und Dämonen umgehen“, erinnert ihn Jasmin.
Tom lacht. „Ihr benehmt euch nicht wie Viertklässler, sondern wie Babys aus dem Kindergarten! Geister und Dämonen gibt es doch gar nicht!“
„Und warum bist du dann als Vampir verkleidet?“, will Jasmin wissen.
„Aus demselben Grund, aus dem du eine Hexe bist und Marco ein Skelett – weil die Nachbarn uns dann Schokolade und Bonbons geben. Na los, kommt schon mit! Es sei denn, ihr wollt euch die Sachen lieber von euren Eltern zuteilen lassen.“ Er marschiert los, ohne auf die beiden zu warten, geradewegs auf die Landungsbrücken zu. Als er die Brücke zu der Stelle hinuntergeht, wo tagsüber die Barkassen für die Hafenrundfahrten anlegen, hört er hinter sich die schnellen Schritte seiner Freunde und grinst wieder. „Dämonen, so’n Schwachsinn“, murmelt er. Aber insgeheim muss er zugeben, dass es hier schon etwas unheimlich ist. Der Nebel wird immer dichter, je näher sie ans Wasser kommen.
Einen Augenblick später sitzen die drei auf einer Treppe und blicken auf die Elbe, während sie sich einen Schokoriegel nach dem anderen in den Bauch schlagen. Sie können das gegenüberliegende Ufer mit den Hafenanlagen nicht erkennen. Selbst das Wasser direkt vor ihnen hören sie eher, als dass sie es sehen.
Als sich etwas neben ihnen bewegt, erschrecken sich alle drei. Aber es ist nur eine Möwe, die aus dem Nebel herausgehüpft kommt, um etwas von ihren Süßigkeiten zu erhaschen.
Sie haben sich kaum von dem Schreck erholt, als ein lautes Geräusch sie wieder auffahren lässt. Es ist ein Schiffsmotor, der ganz in der Nähe angelassen wird. Im nächsten Moment hören sie eine kleine Glocke, und ein Mann ruft: „Letzte Gelegenheit! Wir legen gleich ab! Die ganz besondere Rundfahrt – nur einmal im Jahr!“
Neugierig gehen sie auf die Stimme zu. Aus dem Nebel tauchen die Umrisse einer Barkasse auf. Durch die Fenster sehen sie ein paar Leute an Bord. Anscheinend sind alle gruselig kostümiert – aber so genau können die Kinder das nicht erkennen. Das einzige Licht verbreiten zwei Laternen außen am Schiff und Kerzen auf den Tischen im Innern. Vor dem Brett, das hinüber auf das kleine Schiff führt, steht ein Mann in einer Kapitänsuniform. Er hat die kleine Glocke in der Hand, die sie gehört haben.
„Na, Jungs un Deern, wollt ihr nich mitfahrn? Kostümiert seid ihr ja man schon.“
Jasmin zeigt auf ein Plakat, das unter einer der Laternen an der Barkasse hängt. Darauf steht:
DIE GROSSE GRUSELRUNDFAHRT
NUR ZU HALLOWEEN
DAUER: EINE STUNDE
NUR 5 EURO
KOSTÜMZWANG
„Cool!“, ruft Marco. „Eine Halloweenfahrt! Und seht mal“, er deutet durch die Tür der Barkasse, „der Raum ist mit künstlichen Fledermäusen und Spinnen geschmückt!“
„Ich hab aber kein Geld“, sagt Jasmin.
„Na“, meint der Kapitän, „wenn ihr einsteigen wollt – denn man to. Ihr könnt heut mal mit’m Stück Schokolade bezahln. Weil ihr’s seid.“ Er zwinkert ihnen zu, und begeistert kramen Marco und Jasmin etwas aus ihren Tragetaschen und drücken es dem Mann in die Hand.
„Oh Gott!“, ruft Tom. “Ich hab meine Tasche hinten bei der Treppe liegen lassen! Ich hol sie schnell!“
Er läuft los, während seine beiden Freunde an Bord gehen. Kaum hat er seine Tasche mit den Leckereien gefunden, ist er auch schon wieder zurück – aber zu spät: Die Barkasse hat nicht gewartet. Das Brett ist verschwunden, und das Schiff ist bereits fast zwei Meter vom Anleger entfernt. Der Kapitän steht in der Tür und ruft ihm zu: „Mach dir nix draus, mien Jung, vielleicht klappt’s ja nächstes Jahr!“
Und dann lacht er so laut und schaurig los, dass es Tom durch Mark und Bein geht.
Toms Blick fällt auf den Namen am Bug des Schiffes. SAMHAIN steht da. Merkwürdiger Name, denkt er. Sonst tragen die Barkassen doch immer die Namen von Mädchen oder Stadtteilen.
Ein grauenvoller Schrei reißt ihn aus seinen Gedanken. Jasmin erscheint in der Tür des Schiffes und ruft verzweifelt: „Hilfe! Hol Hilfe! Das ist alles echt hier!“ Fledermäuse kreisen um ihren Kopf, und eine riesige Spinne krabbelt an ihrem Arm hoch. Eine Mumie erscheint neben ihr und zieht sie zurück in die Dunkelheit im Innern des Schiffes, das jetzt schon fast von den Nebelschwaden verschluckt wird.
Das einzige, was im Schein der Laterne noch zu erkennen ist, ist das Plakat. Aber der Text ist jetzt ein ganz anderer! Tom liest:
DIE GRUSELIGE FAHRT
IN DIE ANDERE WELT
DAUER: DIE EWIGKEIT
NUR HIN – NICHT ZURÜCK
KEINE KOSTÜME – ALLES ECHT
Die Barkasse verschwindet im Nebel. Tom hört noch das Dröhnen des Schiffsmotors, das Lachen des Kapitäns und die Schreie seiner Freunde.
Er rennt los. Er will nur weg, will nach Hause, so schnell er kann. Über ihm kreist die Möwe von vorhin. Ihr Kreischen klingt, als wolle sie ihn auslachen. Tom läuft und läuft. Er bekommt Seitenstiche und ist außer Atem, aber er bleibt nur einmal ganz kurz stehen, als es gar nicht mehr geht. Da ist er schon fast zu Hause. Dann läuft er auch das letzte Stück, klingelt Sturm und kann kaum abwarten, bis die Wohnungstür sich endlich öffnet.
Wortlos springt er an seinem Vater vorbei. Soviel seine Eltern auch fragen, an diesem Abend redet er kein Wort mehr. Er hockt nur verängstigt auf seinem Bett und denkt darüber nach, dass Jasmin und Marco viel klüger waren als er.
Hat ihnen natürlich nichts genützt.
Aber er selbst wird in Zukunft aufpassen. Er weiß ja jetzt, dass es stimmt.
An Halloween gehen Geister und Dämonen um.