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Die Barkasse

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22.12.2002
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Die Barkasse

„Das hat sich mal wieder gelohnt!“ Jasmin blickt im Schein einer Straßenlaterne zufrieden in ihre Tüte mit den Süßigkeiten.
„Und ob. Ich liebe Halloween!“ Marco spricht mit vollem Mund. „Aber merkt ihr, dass es neblig wird? Gehen wir nach Hause.“
„Ich weiß nicht“, meint Jasmin und rückt sich den hohen Hexenhut auf dem Kopf zurecht. „Meine Mutter nimmt mir wieder den ganzen Naschkram weg und will, dass ich ihn mir einteile.“
„Gehen wir doch runter ans Wasser“, schlägt Tom vor. „Da können wir in Ruhe sitzen und essen, bis wir platzen. Was weg ist, kann dir deine Mutter nicht mehr nehmen.“ Er grinst.
Marco und Jasmin sehen ihn entgeistert an.
„Bist du blöd?“, will Marco wissen. „Du kannst doch von hier aus sehen, wie dicht der Nebel über dem Fluss ist. Und es ist Halloween! Wer weiß, was sich da im Nebel herumtreibt.“
„Jeder weiß doch, dass in dieser Nacht Geister und Dämonen umgehen“, erinnert ihn Jasmin.
Tom lacht. „Ihr benehmt euch nicht wie Viertklässler, sondern wie Babys aus dem Kindergarten! Geister und Dämonen gibt es doch gar nicht!“
„Und warum bist du dann als Vampir verkleidet?“, will Jasmin wissen.
„Aus demselben Grund, aus dem du eine Hexe bist und Marco ein Skelett – weil die Nachbarn uns dann Schokolade und Bonbons geben. Na los, kommt schon mit! Es sei denn, ihr wollt euch die Sachen lieber von euren Eltern zuteilen lassen.“ Er marschiert los, ohne auf die beiden zu warten, geradewegs auf die Landungsbrücken zu. Als er die Brücke zu der Stelle hinuntergeht, wo tagsüber die Barkassen für die Hafenrundfahrten anlegen, hört er hinter sich die schnellen Schritte seiner Freunde und grinst wieder. „Dämonen, so’n Schwachsinn“, murmelt er. Aber insgeheim muss er zugeben, dass es hier schon etwas unheimlich ist. Der Nebel wird immer dichter, je näher sie ans Wasser kommen.
Einen Augenblick später sitzen die drei auf einer Treppe und blicken auf die Elbe, während sie sich einen Schokoriegel nach dem anderen in den Bauch schlagen. Sie können das gegenüberliegende Ufer mit den Hafenanlagen nicht erkennen. Selbst das Wasser direkt vor ihnen hören sie eher, als dass sie es sehen.
Als sich etwas neben ihnen bewegt, erschrecken sich alle drei. Aber es ist nur eine Möwe, die aus dem Nebel herausgehüpft kommt, um etwas von ihren Süßigkeiten zu erhaschen.
Sie haben sich kaum von dem Schreck erholt, als ein lautes Geräusch sie wieder auffahren lässt. Es ist ein Schiffsmotor, der ganz in der Nähe angelassen wird. Im nächsten Moment hören sie eine kleine Glocke, und ein Mann ruft: „Letzte Gelegenheit! Wir legen gleich ab! Die ganz besondere Rundfahrt – nur einmal im Jahr!“
Neugierig gehen sie auf die Stimme zu. Aus dem Nebel tauchen die Umrisse einer Barkasse auf. Durch die Fenster sehen sie ein paar Leute an Bord. Anscheinend sind alle gruselig kostümiert – aber so genau können die Kinder das nicht erkennen. Das einzige Licht verbreiten zwei Laternen außen am Schiff und Kerzen auf den Tischen im Innern. Vor dem Brett, das hinüber auf das kleine Schiff führt, steht ein Mann in einer Kapitänsuniform. Er hat die kleine Glocke in der Hand, die sie gehört haben.
„Na, Jungs un Deern, wollt ihr nich mitfahrn? Kostümiert seid ihr ja man schon.“
Jasmin zeigt auf ein Plakat, das unter einer der Laternen an der Barkasse hängt. Darauf steht:
DIE GROSSE GRUSELRUNDFAHRT
NUR ZU HALLOWEEN
DAUER: EINE STUNDE
NUR 5 EURO
KOSTÜMZWANG
„Cool!“, ruft Marco. „Eine Halloweenfahrt! Und seht mal“, er deutet durch die Tür der Barkasse, „der Raum ist mit künstlichen Fledermäusen und Spinnen geschmückt!“
„Ich hab aber kein Geld“, sagt Jasmin.
„Na“, meint der Kapitän, „wenn ihr einsteigen wollt – denn man to. Ihr könnt heut mal mit’m Stück Schokolade bezahln. Weil ihr’s seid.“ Er zwinkert ihnen zu, und begeistert kramen Marco und Jasmin etwas aus ihren Tragetaschen und drücken es dem Mann in die Hand.
„Oh Gott!“, ruft Tom. “Ich hab meine Tasche hinten bei der Treppe liegen lassen! Ich hol sie schnell!“
Er läuft los, während seine beiden Freunde an Bord gehen. Kaum hat er seine Tasche mit den Leckereien gefunden, ist er auch schon wieder zurück – aber zu spät: Die Barkasse hat nicht gewartet. Das Brett ist verschwunden, und das Schiff ist bereits fast zwei Meter vom Anleger entfernt. Der Kapitän steht in der Tür und ruft ihm zu: „Mach dir nix draus, mien Jung, vielleicht klappt’s ja nächstes Jahr!“
Und dann lacht er so laut und schaurig los, dass es Tom durch Mark und Bein geht.
Toms Blick fällt auf den Namen am Bug des Schiffes. SAMHAIN steht da. Merkwürdiger Name, denkt er. Sonst tragen die Barkassen doch immer die Namen von Mädchen oder Stadtteilen.
Ein grauenvoller Schrei reißt ihn aus seinen Gedanken. Jasmin erscheint in der Tür des Schiffes und ruft verzweifelt: „Hilfe! Hol Hilfe! Das ist alles echt hier!“ Fledermäuse kreisen um ihren Kopf, und eine riesige Spinne krabbelt an ihrem Arm hoch. Eine Mumie erscheint neben ihr und zieht sie zurück in die Dunkelheit im Innern des Schiffes, das jetzt schon fast von den Nebelschwaden verschluckt wird.
Das einzige, was im Schein der Laterne noch zu erkennen ist, ist das Plakat. Aber der Text ist jetzt ein ganz anderer! Tom liest:
DIE GRUSELIGE FAHRT
IN DIE ANDERE WELT
DAUER: DIE EWIGKEIT
NUR HIN – NICHT ZURÜCK
KEINE KOSTÜME – ALLES ECHT
Die Barkasse verschwindet im Nebel. Tom hört noch das Dröhnen des Schiffsmotors, das Lachen des Kapitäns und die Schreie seiner Freunde.
Er rennt los. Er will nur weg, will nach Hause, so schnell er kann. Über ihm kreist die Möwe von vorhin. Ihr Kreischen klingt, als wolle sie ihn auslachen. Tom läuft und läuft. Er bekommt Seitenstiche und ist außer Atem, aber er bleibt nur einmal ganz kurz stehen, als es gar nicht mehr geht. Da ist er schon fast zu Hause. Dann läuft er auch das letzte Stück, klingelt Sturm und kann kaum abwarten, bis die Wohnungstür sich endlich öffnet.
Wortlos springt er an seinem Vater vorbei. Soviel seine Eltern auch fragen, an diesem Abend redet er kein Wort mehr. Er hockt nur verängstigt auf seinem Bett und denkt darüber nach, dass Jasmin und Marco viel klüger waren als er.
Hat ihnen natürlich nichts genützt.
Aber er selbst wird in Zukunft aufpassen. Er weiß ja jetzt, dass es stimmt.
An Halloween gehen Geister und Dämonen um.

 
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Hey Roy,

ich habe schon auf deine Halloween-Geschichte gewartet. :D
:sconf:
Ist wirklich gruselig. Ich musste mich am Ende zusammen nehmen, damit ich nicht Zeilen überspringe und schon 'vor'lese, um zu erfahren, ob es echt ist oder nicht.
Aber wir sollten vielleicht eine Altersfreigabe dazu schreiben oder noch besser "Nur für gruselgeeignete Kinder". Meiner Tochter dürfte ich die Geschichte nicht vorlesen. Wobei sie nicht wirklich als Maßstab gilt, da sie gestern bei Barbie in Schwanensee vor Angst beinahe unter der Decke gekrochen wäre. ;)

Das Ende gefällt mir besonders gut. Keine 'vernünftigen' Erklärungen, keine Erzählung, was passiert ist, keine Suche nach den Kindern. Die Geschichte endet mit dem Verschwinden der Kinder, macht die Sache besonders gruselig. Obwohl ich meinen Sohn schon sehr genau befragt hätte, wenn er nach so einem Abend völlig verstört nach hause käme und nichts mehr sagt. Aber ist schließlich Halloween, die Zeit, in der die reale Ordnung auch mal aus den Fugen gerät und Dämonen nun mal umgehen.

Schön, dich endlich mal wieder in Kinder zu treffen. :kuss:
Sylvia

 

Hallo Roy,

endlich wieder eine Geschichte von Dir! :)

Spannend und wirklich unheimlig! Mir war am Ende fast ein bisschen übel (zwei Kinder, die nachts im Nebel spurlos verschwinden - das hält mein Mutterherz irgendwie kaum aus ... ) Ich hatte zwar schon damit gerechnet, dass echte Dämonen auftreten, aber ich war zuerst auch ganz sicher, dass es eine beruhigende Auflösung geben würde ...

Also: wie immer flüssig und abwechslungsreich geschrieben! Spannend! Wunderbar!

ABER: Welchen Kindern soll die Geschichte vorgelesen werden? Ich glaube, sie müssten unbedingt etwas älter sein (zehn? zwölf?).

Meine Söhne hätten, solange sie im Grundschulalter und jünger waren, nach dieser Geschichte sicher nicht mehr schlafen können.

Allerdings denke ich gerade, dass vielleicht Fünft- oder Sechstklässler, wie die Autoren der Stormarnschul-Lesung, ihren Spaß an Deiner Geschichte gehabt hätten ...

Eine Geschichte, die man sich nachts auf Klassenreisen in überfüllten Sechsbettzimmern vorlesen kann, wenn sich dann die ganze Clique gemeinsam gruselt und man nur noch zu viert aufs Klo gehen kann :D.

Herzlichen Gruß
Barbara

 

Hallo Roy!

Eine richtig schöne gruselige Geschichte. Ich kann mich da meinen "Vorrednern" nur anschließen. Ich war gefesselt vom ersten bis zum letzten Satz. Wenn ich auch beim spannensten Teil drauf und dran war, zu linsen, wie die Geschichte ausgeht. ;) (Habe aber durchgehalten.)

Kleineren Kindern würde ich die Geschichte auch nicht vorlesen, dafür wäre ein beruhigenderes Ende wohl von Vorteil gewesen.
Aber es gibt ja auch ältere Kids. Und die finden den Text bestimmt cool. :cool:

Ansonsten flüssig geschrieben, gut zu lesen, keine Holpersteine, einfach gut und Halloween-tauglich!

Liebe Grüße

flitze2000 (Birgit)

 
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hey Roy!

Ewig nicht gelesen, sind Dir die Kindergeschichten ausgegangen? Naja, wenigstens jetzt. :)

Also... in Bayern würde ich dringen empfehlen, "Barkasse" in Schiff oder Boot oder was-weiß-ich umzubenennen - das versteht hier kein Mensch.
Davon abgesehen sehr sehr gern gelesen. Spannend und locker geschrieben, die Dialoge empfinde ich als locker und lebendig.
Kurz und gut, gern gelesne, für ältere Kinder sicher geeignet.

schöne Grüße
Anne

 

Hallo Sylvia, Barbara, Birgit und Anne,

vielen Dank für die netten Kritiken; ich freue mich, daß meine Geschichten Euch immer noch gefallen. :)

Irgendwie habt Ihr alle ein bißchen recht. Diese Geschichte ist natürlich nichts für die ganz Kleinen. Deshalb werden ja im Text auch Viertklässler erwähnt. Ganz sicher ist die Story von unserer Lesung am Vortag beeinflußt. Allerdings hat sich da nur ein Eindruck bestätigt, den ich angesichts von Harry Potter und co. schon lange hatte - daß ich nämlich oft viel zu sanft mit meinem jungen Publikum umgehe. :cool:

Eine Rolle spielt aber sicher auch, daß meine beiden wichtigsten Leserinnen allmählich erwachsen werden (die Kleine ist gerade zehn geworden und die Große feiert diesen Monat in Amerika ganz ohne uns ihren siebzehnten Geburtstag) - insofern gehen mir vielleicht tatsächlich langsam die Kindergeschichten aus. Mal abwarten. Allerdings habe ich vor einiger Zeit eine ganz zahme Monstergeschichte geschrieben, evtl. poste ich die in den nächsten Tagen mal... ;)

Ach ja, außerdem muß ich noch gestehen, daß ich irgendwie auch ziemlich von den Halloween-Folgen der Simpsons beeinflußt bin. :Pfeif: Im Gegensatz zu den sonstigen Folgen haben die selten ein Happy-End. :D

Zum Thema "Barkasse": Diese Geschichte hat ja doch ein gewisses Lokakolorit, vom Hafen bis hin zu der plattdeutsch durchsetzten Ausdrucksweise des "Kapitäns", und die Barkassen sind schon ziemlich typisch für Hamburg - ich glaube, ich lasse das einfach so. Scheint mir irgendwie auch origineller als ein "typisches" Geisterschiff.

Schöne Grüße
Roy

 

Hallo Roy,

gut geschrieben, nix zu meckern! Besonders gelungen finde ich die alltägliche Fassade hinter der sich das Grauen verbirgt - halt wie im richtigen Leben ;)

„denkt darüber nach, dass Jasmin und Marco viel klüger waren als er.
Hat ihnen natürlich nichts genützt.“ - Guter Schachzug: Die Moral liegt nicht in der Auflösung des Mystischen.

Tschüß... Woltochinon

 

Hallo Woltochinon,

danke für's Lesen, und schön, daß es Dir mal wieder gefallen hat! :)

Schöne Grüße
Roy

 

Hi Roy,

ich glaube ich muß wirklich mal mehr von dir lesen. ;)

Unter Kindergeschichten stelle ich mir immer "Gänseblümchenliteratur" vor.
Doch auch deine Wahlgeschichte hat mich schon überrascht.

Jetzt diese Gruselstorry.
Das ist ja ein richtiger Alptraum, dazu noch mit keinem glücklichen Ende, ohweia. :schiel:

Klasse geschrieben, spannend, unheilverkündend.
Die Barkasse kam mir gleich so merkwürdig vor.
Als das Mädchen um Hilfe ruft, mit Spinne auf dem Arm und Mumie im Hintergrund, da habe ich gedacht: Nein, das kannst du (Roy) doch nicht machen.
Ich würde sagen: Eine Kindergeschichte für Erwachsene. :D

ganz lieben Gruß, coleratio

 

Hallo coleratio,

vielen Dank für das Lob! :)

Unter Kindergeschichten stelle ich mir immer "Gänseblümchenliteratur" vor.
Das erinnert mich wieder an ein Interview mit einem Verleger, das ich vor einigen Jahren mal gelesen habe. Darin sagte er, Harry Potter hätte in Deutschland nie eine Chance auf Veröffentlichung gehabt, aber in den englischsprachigen Ländern habe Kinderliteratur eben eine weniger sanfte Tradition. :D

Wie auch immer, ich glaube, ich werde gleich mal wieder eine Geschichte für die Kleineren posten, die habe ich sowieso schon seit drei Monaten rumliegen. Ist aber auch wieder was mit Monster. :Pfeif:

Schöne Grüße
Roy

 

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