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Die Banalität des Bösen (oder: Lokalrunde mit Hitler)
Man gewöhnt sich an alles im Laufe der Zeit.
Sogar an lauwarmes Astra.
Astra! Früher habe ich noch nicht einmal das Wort in den Mund genommen.
Jetzt saufe ich es flaschenweise.
Ohne Bier kann man es hier nicht aushalten. Nüchtern würde ich den Verstand verlieren. Falls ich das nicht schon längst habe. Ich greife nach einer neuen Flasche und proste David Beckham zu. Dann trinke ich das beschissene Astra in einem Zug leer. Ich bin jetzt schon ziemlich knülle, aber längst noch nicht so besoffen, wie ich es gern wäre.
Ich habe keinen blassen Schimmer davon, wie ich hier hingekommen bin. Plötzlich war ich einfach hier. Schwuppdiwupp. Muss Magie gewesen sein. Oder Scotty. Jedenfalls habe ich nichts davon gemerkt oder gefühlt. Es hat nicht einmal gekitzelt. Vielleicht träume ich schlecht. Oder ich bin gestorben.
Wahrscheinlich bin ich gestorben.
Es gibt einen einzigen verfluchten Tisch in der Kneipe. Er ist rund und fünf Personen finden daran Platz. Es gibt nur vier Stühle. Das macht aber nichts, denn der unsichtbare Junge braucht keinen. Er ist nicht wirklich unsichtbar. Wir nennen ihn so, weil er in dem großen Schrank direkt neben der Theke haust. Er ist noch nie dort herausgekommen. Keiner von uns hat jemals sein Gesicht gesehen.
Allerdings war er der erste, der mich damals bemerkte.
Ich saß plötzlich direkt neben seinem Schrank, in der Hand ein lauwarmes Bier.
„Psst!“, sagte er. „Ich habe zwei Arme, zehn Finger und einen Kopf. Aber du kannst sie nicht sehen. Niemand kann das. Weil ich unsichtbar bin”
Das war alles. Dr. Dr. Uwe Barschel ist überzeugt, dass der unsichtbare Junge ein Schwindler ist. Kein Mensch, sondern ein Ding mit Tentakeln und Saugnäpfen. Dr. Dr. Uwe Barschel behauptet felsenfest, einen seiner Fangarme mit eigenen Augen gesehen zu haben. Außerdem kennt er sich mit Schwindlern aus. Darauf sein Ehrenwort!
Keiner glaubt ihm. Wir wissen alle, was sein Wort wert ist.
Vermutlich ist dieser Gasthof eine Art Vorhölle. Eine Vorhölle für fünf Personen. So viele sind wir nämlich. Fünf Kerle. Der unsichtbare Junge, sofern er denn einer ist. David Beckham. Dr. Dr. Uwe Barschel. Adolf Hitler. Und ich.
Keine Frau. Für Frauen muss es einen anderen Ort geben. Dort gibt es wahrscheinlich Prosecco ohne Kohlensäure.
Auf den Gedanken mit der Vorhölle bin ich vor allem durch das lauwarme Astra gekommen. Eine Kneipe, in der es kein vernünftiges Bier gibt! Das stinkt doch zum Himmel!
Und natürlich durch Hitler. Ich frage mich, was ich verbrochen habe, um am selben Ort leben zu müssen wie er. Ich habe niemanden umgebracht. Und selbst wenn ich es hätte ... Mensch, Adolf Hitler!
Ich finde nicht, dass das in irgendeiner Relation steht.
Den anderen muss ich mit dieser Thematik gar nicht erst kommen. Es ist sinnlos. Keiner spricht darüber. Außer Beckham. „Die versemmelten Elfmeter!“, sagt er. „Diese verdammten Elfmeter sind schuld.“ Manchmal schimmern dann Tränen in seinen Augen.
Es gibt nur diesen einen Raum und die Toilette. Die einzige Tür führt zum Klo. Man kann es nicht abschließen, aber es gibt ein Besetzt-Schild. Kein Ausgang, noch nicht einmal ein Fenster. Bloß ein kleiner Zimmerlift, groß genug, um Essen herunter zu lassen. Und Bier. Das lauwarme Astra kommt kistenweise. Ich weiß bis heute nicht, wer uns die Verpflegung herunterschickt. Dr. Dr. Uwe Barschel sagt, dass es Gott sei. Das muss er wohl sagen, schließlich war er Christdemokrat. Beckham glaubt, dass es Victoria macht. Hitler sagt, die Bolschewiken, weil ihm das Essen nicht schmeckt. Außerdem hat er ständig Probleme mit der Verdauung. Der unsichtbare Junge sagt gar nichts dazu. Er isst einfach nur das, was wir ihm in seinen Schrank stellen.
Dr. Dr. Uwe Barschel will nicht, dass wir „es” füttern. Wir tun es aber trotzdem. Einfach nur, um überhaupt irgendwas zu tun und ihn zu ärgern.
Dr. Dr. Uwe Barschel hat immer nasse Haare. Außerdem legt er großen Wert auf seine beiden Akademischen Titel. „Man hat mir meine Ehre genommen, mein Ansehen und eventuell mein Leben“, doziert er oft. „Doch meine Doktortitel lasse ich mir von niemandem nehmen.” Verglichen mit Hitler ist er ein wirklich netter Kerl, mir persönlich aber zu blasiert. Deshalb rufe ich ihn, um ihn zu ärgern, absichtlich nur Dr. Uwe Uwe Barschel. Er versucht meinen Scherz mit Würde zu tragen. Es gelingt ihm aber nie und sein schmollender Gesichtsausdruck gehört zu dem Wenigen, das mir hier drinnen zumindest ein wenig Freude bereitet.
Hitler ist ein Arschloch. Früher war er angeblich mal Abstinenzler, heute säuft er wie ein Loch. Keiner von uns will etwas mit ihm zu tun haben. Oft versucht er deshalb, sich bei uns anzubiedern, und ruft lautstark: „Lokalrunde auf meine Kosten!“ Wie plump kann man eigentlich sein? Natürlich erreicht er damit bei mir gar nichts. Bei den anderen Gott sei Dank auch nicht. Nicht einmal bei Beckham. Dabei ist der Engländer und kennt Hitler nur aus Steven-Spielberg-Filmen.
Hitler trinkt immer allein.
Scheiße Mann, ich lass mich doch nicht von Hitler zum Bier einladen.
Hitler – und wirklich nur Hitler – ist der Grund, warum ich glaube, bloß in der Vorhölle und noch nicht in der endgültigen Hölle zu sein. Dieser Mann hat Millionen auf dem Gewissen und wird von Milliarden gehasst. Ich finde, dass da noch einmal gesiebt werden muss. Die meisten von uns sind wahrscheinlich irrtümlich hier. Ich bin es auf jeden Fall. Der unsichtbare Junge wahrscheinlich auch. Dr. Uwe Uwe Barschel mag die Hölle verdient haben, das kann ich nicht einschätzen. Aber bitte eine weitaus weniger schlimme als Hitler.
Nein, ich glaube nicht, dass irgendwer von uns Hitler in die wirkliche Hölle folgen muss. Außer vielleicht Beckham. Den hassen Millionen von Engländern.
Diese verdammten Elfmeter.
Armer Kerl.
Ich glaube, dass die Freiheit mit dem Lift kommen wird. Irgendwann wird der runterfahren und es ist kein Essen und Bier drauf. Stattdessen Pergamentrollen. Auf Hitlers wird „ewige Verdammnis” draufstehen. Auf meiner „Freispruch“. Und dann werde ich entschädigt. Mit Milliarden von Euros. Kaltem Jever. 70 Jungfrauen.
Drauf einen Schluck Bier.
Derzeit ist es ziemlich ruhig bei uns. Dr. Uwe Uwe Barschel spielt mit Beckham Tipp-Kick und schwört Stein und Bein, dass sein Ball nicht im Aus wahr. Der macht aus so etwas immer ein Mordstrara, der Barschel. Der unsichtbare Junge poltert leise in seinem Schrank. Ich trinke lauwarmes Astra und warte auf den Lift.
Hitler liest in der nie veröffentlichen Biographie von Ronald Schill. „Mein Kämpfchen“ steht auf dem Buchrücken. Manchmal grinst er breit, ab und zu schlägt er sich vor Lachen sogar auf die Schenkel. Meistens aber schüttelt er nur den Kopf. „Der hat es nicht drauf, der Schill“, murmelt er dann. Er betont jedes Wort überdeutlich, spricht wieder einmal abgehackt. „Der-hat-es-nicht-drauf-der-Schill.“
Ausnahmsweise muss ich ihm mal Recht geben.
Der Lift kommt. Ich schlurfe hin und schaue, was man uns runter schickt. Bratwurst mit Kartoffelbrei. Zum Nachtisch Fruchtzwerge. Die Zweifarbigen. Und lauwarmes Astra.
Pergamentrollen sind keine dabei.
Die Mühlen der Justiz mahlen langsam.
Beim Essen redet keiner ein Wort. Plötzlich steht Hitler auf und hält sich den Bauch. Er kramt hektisch in seiner Aktentasche und zieht etwas heraus. Rosa Toilettenpapier, schon halb abgerollt. Mit verkniffenem Gesicht läuft er an uns vorbei. „Scheiss Bolschewistenfrass!“, schimpft er.
Eigentlich passiert das nach jeder Mahlzeit. Anfangs hielt ich das noch für spektakulär. Hitler, Dünnpfiff und rosa Klopapier. Ein Witz.
Mittlerweile schaue ich nicht einmal mehr hin, wenn er zur Toilette eilt.
Ich weiß längst, dass auch Bösewichte kacken müssen.
Ich höre einen Schrei.
Aus den Augenwinkeln sehe ich noch, wie Dr. Uwe Uwe Barschel von einem Tentakelarm in den Schrank gezogen wird.
Danach ein fürchterliches Knacken und dann widerliche Schlürfgeräusche.
Ehrenwort.
Beckham verwandelt mit dem Tipp-Kick-Männchen einen Elfmeter und ballt triumphierend die Faust.
Hitler lässt hinter dem Besetzt-Schild laut einen fahren und flucht dabei.
Die Banalität des Bösen.
Ich sitze auf meinem Stuhl, öffne ein weiteres Astra und warte auf meinen Freispruch.