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Die Bahnfahrt
Es hatte geschneit. Und wie. Ich musste den Wagen in der Garage lassen. Heute fuhr ich mal wieder mit der Bahn. Eigentlich mag ich das Bahnfahren nicht besonders, da muss ich mich immer so nach den Abfahrtszeiten richten. Und wenn dann die Sitzung im Büro wieder etwas länger dauert, blieben mir meist nur noch wenige Anschlüsse um noch rechtzeitig zu Hause zu sein. Aber heute freute ich mich auf die eine Stunde, in der ich mich, bequem in den Sitz des Abteils geschmiegt, in Ruhe mein neues Buch lesen konnte.
Vor fünf Minuten war ich eingestiegen, der Intercity musste noch einen Schnellzug aus Lausanne abwarten. Der Zug war zwar voll besetzt, aber ich konnte mir noch einen Platz in einem Abteil in der Mitte des Wagens ergattern. Mir gegenüber sass ein älterer Herr mit Anzug und Krawatte. Er war in eine Zeitschrift über Mobilheime vertieft. Als ich mich nach dem freien Platz erkundigte, hatte er kurz aufgeschaut, genickt und sich wieder hinter das Mobilheim verdrückt. Links, neben meinem Platz sass wohl seine Frau. Ich nahm das mal so an, weil sie ihre Beine bequem ausgestreckt an seine gelehnt hatte. Auf dem Platz mir gegenüber sass ein junger Schüler mit wirrem Haar und unausgeschlafenem Gesichtsausdruck. In der einen Hand ein halbes Brötchen haltend war er in einen Stapel Notizen vertieft und machte ab und zu mit einem Leuchtstift Markierungen aufs Papier. Vielleicht hatte er heute Prüfungen, dachte ich noch, doch dann widmete ich mich meiner Tasche.
Ich schlug sie auf und holte mein neues Buch hervor, dass ich gestern per Post erhalten habe. Ich stellte die Tasche zwischen meine Beine und lehnte mich zurück. Verträumt sah ich auf den Umschlag und schlug das Buch an der Stelle auf, an welcher ich es gestern mit zufallenden Augen im Bett verlassen hatte. Ich begann gerade den ersten Absatz des fünften Kapitels zu lesen, als das leise Gemurmel und Lachen, welches das Wageninnere seit meinem Zusteigen erfüllte durch ein markerschütterndes Handyklingeln unterbrochen wurde.
- PiepelipieeepTataPiepelipieeep -
Ich schaute auf und in Richtung des hässlichen Ruftons. Es kam vom Nebenabteil, in welchem sich ebenfalls Schüler befanden. Mit bunten Schultaschen zwischen den Beinen und Rucksäcken auf dem Schoss. Alle fuhren wie von der Tarantel gestochen in ihre Taschen oder Rucksäcke und kramten ihre Handys hervor. "Oh, hallo Jule, wo bist du ?" Während einer der Schüler, ein grosser schwarzhaariger mit einer Baseballmütze auf dem Kopf und Pickel im Gesicht in sein Handy plärrte, schaute ich wieder in mein Buch und versuchte weiterzulesen. "...neeeeein, was hat sie damit gemeint, ich soll mich verpissen?" Das war doch unmissverständlich, dachte ich. Und warum muss der so in sein Handy schreien, zwei Dezibel lauter und Jule konnte ihn auch ohne Handy hören. Überhaupt schreien die meisten Leute in ihr Handy, als wären sie alleine auf einem Felsvorsprung und probierten das herrliche Echo des am gegenüberliegenden Hang gelegenen Waldes aus. "...die soll die Klappe nicht so weit aufreissen!" Ich sprang wieder zum Satzanfang, da ich durch Jules Handypartner kurz etwas abgelenkt war.
- Pieppiep, pieppiep -
Hinter mir kam gerade ein weiterer Gesprächsteilnehmer über den Äther. Ich wünschte mir ein Funkloch, jetzt gleich und für die nächsten Fünfundvierzig Minuten. "Halloooo? Oh, Martinschatz, bist du schon wach?" Bellte es mit einer hellen Frauenstimme durch die Polster meines Intercitysitzes. "Jaaa, ich vermisse dich auch." Wahrscheinlich hatte sie ihn erst vor einer halben Stunde noch mit hundert Küssen auf Wange, Ohr und was weiss ich wo noch überall verabschiedet. Jetzt war Martinschatz aufgewacht und hatte ganz doll Sehnsucht nach seiner Barbiemaus.
Ich starrte auf mein Buch, die Zeilen verschwammen, ich hörte von rechts lautes Gejohle, als das Pickelfrüchtchen eine wüste Abhandlung über die Tierwelt in Richtung Jule schickte, welches sich von hinten mit dramatisch lautem Liebesgesülze mischte. Ich sah die Wörter auf dem Papier, wie sie geduldig darauf warteten gelesen zu werden. Ich las zum x-ten Mal den gleichen Absatz.
- Plingelingplangplingelingplang -
Der ältere Herr liess die Mobilheimzeitschrift in den Schoss seiner Frau fallen und zog hastig sein Handy aus der Brusttasche. "Ja, hallo? Ach, Marianne, dass ist aber eine Überraschung. Wie geht es den lieben Enkelchen?" Marianne müsste jetzt eigentlich einen Hörschaden haben. Ich klappte das Buch zu. Meine Stimmung sank auf Null. Dabei habe ich mich so auf eine ruhige Stunde Zugfahren mit Leseerlebnis gefreut. Doch halt, ich wollte mich nicht geschlagen geben. Was glauben die denn eigentlich? Ich schlug mein Buch wieder auf, suchte nach der Stelle, fand sie und begann laut zu lesen.
"Der Magier fuchtelte sichtlich erzürnt mit dem knorrigen Stab in Richtung Rolands Weg..." Ich spürte, wie erstaunte Augenpaare sich in meine Richtung drehten. Auch hielt Mariannes Vater inne und starrte überrascht in meine Richtung. Ich war bestärkt in meinem Tun. Ha, jawohl Leute, hier kommt der große Zampano. "Staub und Dreck klebten an seinen geschnürten Lederschuhen und zeugten von einer weiten Reise voller..." fuhr ich fort, nun eine Spur lauter und selbstsicherer, wie ein Erzähler auf einem Podium. Gewillt, dem Handygestammel einen sinnvollen Gegenpol zu verpassen.
Wann es im Wagen schlussendlich zu einer gespannten Ruhe gekommen war, kann ich heute nicht mehr sagen, ich war so in meinen Text vertieft und rezitierte mit solcher Inbrunst, dass alles um mich in weite Ferne gerückt war. Ich liess mich vom Text tragen, erlebte den Ärger des Magiers und wünschte mich ebenfalls an diesen Ort. "Ihre Fahrkarte. Bitte." Ich hielt abbrupt inne, schaute auf und sah in das mitleidig blickende Gesicht des Schaffners, der mir die Hand entgegenstreckte und auf meine Fahrkarte wartete. Im Hintergrund tuschelten die Schüler und liessen ein gedämpftes Lachen ertönen. Meine Abteilgenossen hatten sich sichtlich von mir abgewandt und in ihre Ecken gedrückt. Anscheinend muss ich soeben einen ziemlich durchgeknallten Eindruck hinterlassen haben.
Ich zog meine Fahrkarte aus der Jackentasche und gab sie dem Herrn mit der Mütze. Er sah sie sich prüfend an und gab sie mir dann mit einem breiten Grinsen zurück. "Danke. Ach ja" er deutete auf ein kleines Schildchen über dem Fenster." Dies ist ein Ruheabteil, bitte lesen sie doch etwas leiser." Ich starrte auf das Schild, welches einen stilisierten Finger zeigte, der auf zwei stilisierten Lippen ruhte.
Hoffentlich wird es bald Frühling, dachte ich und schloss die Augen.