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Die Bahn kommt

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26.08.2002
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Die Bahn kommt

Hinfahrt

Es war kurz vor Ulm, als der ICE auf freier Strecke stehen blieb.
Mein Ziel war Krüzlsgrottenhausen in der Pfalz - von München aus, Abfahrt 11.26 Uhr. Nur einmal umsteigen, zwanzig Minuten Zeit zum Umsteigen, sagte der Plan.

Die Durchsage des Zugführers teilte mit, dass die Lok 'Probleme habe'; mir kam der ehemalige DB-Werbespot in den Sinn, - die ineinandergreifenden Trapezkünstler in der riesigen Bahnhofshalle - Sinnbild für sekundengenaues Timing. Aber ich hatte zwanzig lange Minuten Puffer zum Umsteigen, die Verbindung war noch lange nicht verloren - denn nach zehn Minuten fuhren wir wieder an. Hoffnung keimte wild auf.

Kurz nach Ulm ließ die Geschwindigkeit des Zugs rapide nach; mit rapide meine ich, dass ich ein Gespräch mit dem Rentnerehepaar begann, das neben dem Zug herspazierte.
Die Durchsage informierte jetzt, die Lok 'habe nur noch wenig Kraft'. Aber trotzdem würden wir 'versuchen, Stuttgart zu erreichen'.
Danach gab es die Durchsage einer stammelnden Servicefrau, die den lieben Fahrgästen mitteilte, dass es wegen eines küchentechnischen Defekts im Bordrestaurant keine warmen Speisen gebe heute; dafür aber hätten sie Schokokuchen im Sonderangebot für 4,80 Euro. Hatten die in ihrer Kindheit ihre Freizeit damit verbracht, sich gegenseitig Blumentöpfe an den Kopf zu werfen?

Inzwischen war ich froh, dass ein ICE im Unterschied zu einem Flugzeug wenigstens nicht abstürzen konnte, und vertiefte mich wieder in meinen Dostojewski (780 Seiten) - zu lesen hatte ich genug dabei, um eine Reise zum Jupiter zu überstehen. Nach Stuttgart waren es mit voller Lok-Kraft schon fast vierzig Minuten. Derweilen steigerten weitere Durchsagen die Heiterkeit im Abteil; als Stuttgart wider ernsthaften Erwartens erreicht wurde, bot man den lieben verständnisvollen Fahrgästen als 'kleine Wiedergutmachung' ein alkoholisches Freigetränk an, das man sich im Bordrestaurant holen konnte - gegen Vorlage der Fahrkarte, des Personalausweises und eines ärztlichen Gutachtens. Die Korrektur kam zwei Minuten später angestammelt: "Entschuldigung, ein nicht-alkoholisches Getränk können Sie sich holen."

Das wollte ich mir anschauen! Ganz genau wie ich’s dachte! Bis zum Bordrestaurant brauchte ich sieben Minuten, konnte aber nicht hinein, wegen der anderen 150 Fahrgäste, die in einer Schlange standen für ein freies Mineralwasser, während irgendwo weit hinten eine einzige Servicefrau bei jedem einzelnen aufgrund von Fahrkarten kontrollierte, ob er auch berechtigt war, ein Mineralwasser zu kriegen (nur die vor Stuttgart Zugestiegenen waren berechtigt).

Wir erreichten Mainz mit der Durchsage, wir hätten zwar siebzig Minuten Verspätung, aber es würden noch dreißig zusätzlich werden (also hundert dann), weil der Zug wegen einer Baustelle neben dem Rhein umgeleitet würde, ähm, liebe verständnisvolle Fahrgäste. Mineralwasser gab es diesmal keins. Vielleicht hatte sich die Servicefrau inzwischen aus dem Zug gestürzt.

Mein Anschluss auf meinem Zugverbindungsplan war hinüber, deshalb fragte ich einen Schaffner, ob ich Chancen hätte, bis zum Morgengrauen nach Krüzlsgrottenhausen durchzukommen? Den Ort kannte der Schaffner nicht, er wollte sich jedoch im 'Kursbuch schlau machen', wie die Anschlüsse dorthin seien, sagte er, bevor er fort eilte und für immer aus meinem Leben verschwand.

In Koblenz ausgespuckt, erfuhr ich von einem Schaltermenschen, dass es noch einen Weg nach Krüzlsgrottenhausen gab, "Ha-ha, da fährt ein Zug in zwanzig Minuten, da haben Sie sogar noch zwanzig Minuten Zeit, in Ruhe das Gleis zu finden!", analysierte er, lag aber falsch, weil ha-ha! ich hatte sogar hundertzehn Minuten Zeit, das Gleis zu finden, weil ha-ha! ein Leitungsschaden die Abfahrt um zusätzlich eineinhalb Stunden verzögerte, wir bitten um Ihr Verständnis!
Als ich doch noch, trotz Deutscher Bahn, Krüzlsgrottenhausen erreichte, dankte ich kurz Gott.

Rückfahrt

Krüzlsgrottenhausen nach München. Diesmal zwei mal umsteigen, sagte mein Zugverbindungsplan. Beim ersten Mal in Koblenz hatte ich fünfzehn Minuten Zeit zum Umsteigen, das musste reichen, weil irgendwann ein Zug auch mal weniger als zehn Minuten Verspätung haben musste, stochastisch. Für das zweite Umsteigen hatte ich drei Minuten; welcher wurmhirnige Die-Welt-nur-aus-dem-Fernsehen-Kenner hatte sich das einfallen lassen? Drei Minuten für einen Anschluss! Das war praktisch gar keine Verbindung, aber ich hatte mich umsonst mit dieser Thematik beschäftigt, weil bereits der erste Zug nicht fünfzig Minuten brauchte, sondern achtzig.

Diesmal verzichteten sie allerdings auf jegliche Durchsagen, weil Information in einem Regionalexpress nicht so wichtig ist. Deshalb befürchtete ich (nach einem Blick auf die Uhr) ein paar schreckliche Minuten lang, Koblenz könnte von der Landkarte verschwunden sein (und wir fahren und fahren und fahren ...).

Eine Mitreisende (die mich beruhigte, dass es Koblenz sicherlich noch gebe), war der Meinung, noch hätten wir Glück gehabt. Sie reise von München aus regelmäßig nach Rosenheim, und das immer vom selben Gleis aus, aber das letzte Mal seien ihr die vielen fremden Leute aufgefallen, so habe sie sicherheitshalber den Schaffner gefragt, ob das der Zug nach Rosenheim sei?; jaja, habe dieser gesagt, und dann sei sie eingestiegen, aber habe sicherheitshalber noch mal fragen wollen, als sie drin saß, weil es auch keine Durchsagen gegeben habe, und als nach einer halben Stunde Fahrt ein Schaffner sich blicken ließ, habe sie gefragt, ob der Zug in Rosenheim halte, und der Schaffner habe gesagt: "Nee, der fährt durch!", und sei dann schnell weiter gegangen. Sie sei ihm nachgeeilt und habe gerufen: "Wohin? Wohin denn durch?", und dann habe sich der Schaffner unwillig noch mal umgewendet und gesagt: "Nach Rom." (Wohin sonst?).
Glücklicherweise habe die Lok aber eine Stunde später den Geist aufgegeben und sei auf offener Strecke stehen geblieben, so dass sie noch vor der italienischen Grenze, irgendwo in einem Wald in Tirol, aus dem Zug entkommen konnte.

Die nächste Verbindung nach Mannheim gab’s in einer halben Stunde ("... auf welchem Gleis wissen wir noch nicht...") - 'eigentlich', wie die Reiseservicezentrumsfrau dort sagte, denn der Zug habe dreißig Minuten Verspätung, wegen der Felsbrocken, die auf den Gleisen lagen.
Sie selbst lag falsch, weil dieser Zug mit sechzig Minuten Verspätung eintraf ... für die erste 'Stunde' meiner fünfeinhalb Stunden langen Reise hatte ich drei Stunden gebraucht - würde ich als alter Mann in München ankommen? Mit ergrautem Haar aus dem Zug fallen und die letzten Worte krächzen: "Die Bahn... kommt..."?

Ich stieg ein. Die Bahn hatte es aber auch schwer ... Was würde den Zug das nächste Mal aufhalten? Ein Kosakenüberfall? Ein Bauernaufstand? Bürgerkrieg in Hessen? Aus dem Zoo entflohene Känguruherden?
Dann kam heiser krächzend eine Durchsage. Meine Kiefermuskeln verhärteten sich.
"Fahrt ... die ... München ... wichtig ... krchz ... nutzen Sie ... auf Gleis ... in ... krchz ... danke ... Aufmerksamkeit."

Was!? Den Teufel würde ich tun, diesen Zug noch mal zu verlassen! Er schien fahren zu können, niemals mehr würde ich umsteigen!
Stehen blieb er bei Augsburg. Wegen eines besetzten Gleises irgendwo 'vorn'. Wegen eines verspäteten Zugs. Oder einer defekten Weiche. Oder weil es Winter, Frühling, Sommer oder Herbst war. Ich stieg aus.
Ich erkundschaftete eine Verbindung mit hundertfünfzig Kilometer Umweg über Nürnberg - mit einer Stunde Wartezeit bis zur Abfahrt, die ich mit zwei Bier in einer Bahnhofstränke verbrachte. Als ich zum Gleis zurückkehrte, hörte ich die Durchsage: „Liebe verständnisvolle Fahrgäste auf Gleis 3 ...“ - ich blickte hoch zu meiner Gleisnummer - ich war auf Gleis 3, kein Zweifel, ich war betroffen - und grinste jetzt wie ein betrunkenes Krokodil, während mir gleichzeitig die ersten Tränen kamen. Eine verzweifelte Neugier hatte mich gepackt. Was würden sie mir zu sagen haben?

„Liebe verständnisvolle Fahrgäste, leider hat der Zug Intercity XYZ derzeit siebzig Minuten Verspätung - wegen polizeilicher Ermittlungen in den Waggons. Vielleicht wollen Sie die Zeit für persönliche Einkäufe nutzen?“

Ich nahm mir ein Taxi und zerschnitt während der Autofahrt meine Bahncard mit dem Taschenmesser in so viele Teile wie möglich. (Es waren 456).

Epilog: Ich war angekommen, mein Gepäck nicht. Es war verschollen. Um einen Nachforschungsauftrag für mein Gepäck zu stellen, brauchte ich die Servicegepäcknummer, die ich in meinem Gepäck hatte, das verschollen war; aber das ist schon fast eine eigene Geschichte. Und es war doch mein erstes Mal gewesen, dass ich den Gepäckservice der Deutschen Bahn genutzt hatte. Würde ich es nach diesem schrecklichen ersten Mal jemals wieder tun können? Vielleicht, wenn ich mit guten Freunden darüber gesprochen habe.

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Kurz nach Ulm ließ die Geschwindigkeit des Zugs rapide nach; mit rapide meine ich, dass ich ein Gespräch mit dem Rentnerehepaar begann, das neben dem Zug herspazierte.
Das müsste im Konjunktiv stehen, denn ICEs haben keine Fenster, die man öffnen könnte, um sich mit jemand draußen zu unterhalten. Diese Ungenauigkeit mindert ein wenig den Wert der ansonsten guten Geschichte, die wohl dem realen Erleben des Autors entnommen ist.

Ich bin gerade in jenen Jahren (2006 und 2007) verhältnismäßig viel Bahn gefahren und kann bestätigen, dass bei der Bahn viel Schlendrian und/oder Unvermögen vorhanden war/ist. Auch die Technik scheint nicht immer die beste zu sein, aber die Behauptung, dass man heute keine richtigen Stahllegierungen mehr herstellt, wie ein Kommentator meinte, ist ein wenig unfair: Heutige Züge fahren mit vielfach höheren Geschwindigkeiten als vor 150 Jahren, so dass auch die Anforderungen an das Material um Vielfaches größer sind.

Darüber hinaus gibt es seit 2009 ein Recht auf teilweise Erstattung der Kosten, wenn Züge mehr als 60 Minuten Verspätung haben. Es werden auch Taxifahrten und Hotels bezahlt, falls man den Zielort aufgrund der Verspätung(en) nicht bis Mitternacht erreichen konnte. An diesen Neuerungen, die wir übrigens der EU zu verdanken haben, sieht man, wie schnell so ein Text altern kann.

Allerdings könnte man jetzt eine Satire über die Kostenerstattungsbürokratie schreiben. :D

 

Hallo FlicFlac,

pünktlich wie die Bahn möchte ich deiner aus Juni 2008 stammenden Geschichte mein Feedback zukommen lassen. :D

Ich habe, obwohl das Thema ja schon bereits im Titel komplett abgehandelt ist, deine Geschichte nicht langweilig gefunden.
Überraschendes hatte ich allerdings auch nicht erwartet, du bist konsequent beim Thema geblieben und auch in der Umsetzung des Themas an keiner Stelle des Textes abgewichen.

Ich hoffe, ich langweile nicht mit meinen immergleichen Definitionen.
Deine Geschichte ist keine klassische Satire, sondern eine gut gemachte Parodie.
Keine Angst, ich bin im Laufe der Jahre, die ich hier auf kg bin, zu der Erkenntnis gelangt, dass sich in den Köpfen der Autoren und Leser, vielleicht ausgelöst durch die rein parodistischen Fernseherlebnisse, die uns als satirisch verkauft werden, kein Unterschied mehr auftut zwischen einer echten Satire und einer Parodie.
Ich käme mir langsam bescheuert vor, wenn ich nicht den Satirebegriff auch auf die Parodie ausweiten würde, allerdings möchte ich betonen, dass es dann für mich als Moderator eine wichtige Aufgabe darstellt, zum Klamauk und zur Posse hin abzugrenzen.
Das fiel mir bei deiner Geschichte allerdings nicht schwer, du hältst dich streng an das Parodieren und somit Darstellen eines tatsächlichen Geschehens, dass du allenfalls ein wenig mehr pointierst und zur gut lesbaren Geschichte aufbereitet hast.

Die Parodie erzeugt ihre Wirkung dadurch, dass man als Leser nicht mit einem Missstand konfrontiert wird, den der Autor kritisieren möchte, sondern dass man zuallererst Erinnerungen an eigene erlittene Missstände geweckt bekommt. Die Geschichte quasi als Schlüssel zur Tür der Erinnerungen, seien es nun eigene oder von anderen berichtete.

Der sog. Aha-Effekt macht die Parodie so vergnüglich, weil man sich quasi zu Hause fühlt. Man lacht gemeinsam über dieselben Idiotien, Lebensbeschränkungen und Perversionen des Alltags und diese gemeinsame Betrachtungsweise gibt der Parodie wesentlich mehr Leichtigkeit als der klassischen Satire, die zunächst nicht um die Gunst des Wiedererkennens, des Wiedererlebens zu buhlen sucht, ganz im Gegenteil, eine gute bissige Satire kann völlig abstoßend wirken.

Soweit meine Definition zur Parodie die ihre Heimat hier im Satireforum gefunden hat. ;)

Ich fand deine Geschichte insoweit tadellos, wenn auch mein Herz natürlich an der klassischen Satire hängt.

Mir hat gefallen, dass du es geschafft hast, obwohl du ja vom Sachverhalt her keine Überraschungen anbieten kannst, jeder kennt Bahnverspätungen aller Couleur, dass es nie langweilig wurde mit dem Hergang.

Mir ist ebenso aufgefallen, dass du nicht angefangen hast, zu übertreiben, denn dies wäre bei einer Parodie die Gefahr ins Klamaukige abzudriften.
Du hast diese Gratwanderung gemeistert und dafür mein Lob.

Lieben Gruß

lakita

 

Hallo Lakita,

vielen Dank für's Lob, wenn auch spät, für deinen (wie immer) fundierten Kommentar; es stimmt natürlich, dass dies eigentlich keine Satire ist. Ich gehe beim Schreiben ja nie vom Genre aus, sondern mache was mir passt und rate dann, was es sein könnte ;)

Machst du denn noch Satire?

Wenn ja hätte ich einen Vorschlag für dich!

 

Ich könnt mich wegschmeißen vor Lachen. Wirklich toll geschrieben.

Gruß
MilesEdward

 

Danke, Miles. Demnächst wird es eine Verfilmung geben: "Die Bahn kommt - Der Film!"

 

Hallo Set.
Schön beschrieben und sehr gut pointiert. Nicht zu viel des Guten und nicht zu wenig. Gerade soviel, dass man interessiert weiterlesen möchte und am Ende darüber lachen kann.... auch wenn es eigentlich traurig ist. Aber so ist sie, die Deutsche Bahn.... kommt immer pünktlich an, nur nicht da wo sie gerade gebraucht wird. Herzlich grüßt Horst

 

Gestern im Radio gehört: In Mainz halten überregionale Züge neuerdings nicht mehr, obwohl sie da laut Fahrplan halten müssten. Der Grund ist der Personalmangel. Und ab 18 Uhr ist der Mainzer Hauptbahnhof wohl ganz geschlossen. Mainz, eine Groß- und Landeshauptstadt, einfach vom Netz genommen. So kann man Personalprobleme auch lösen.

 

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