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Die Büchse Pandoras
Die Büchse sieht unscheinbar aus, schwarz schimmert sie im Moosbett. Zuerst bildete ich mir das nur ein, es gibt keine funkelnden Büchsen im Dschungel, nur Flimmern. Alles flimmert in schwüler Luft, die Bäume, Feinde, das Gras, Gedanken an Zuhause – die Zwillinge, Kaffee, schwarz und ohne Zucker, Schmorbraten, die Lenden der Liebst…
„Alarm!!!“
Routiniert hechte ich ins hohe Gras, direkt neben die Büchse, und schalte mich ab – alles ist möglich.
„Entwarnung!“
Die Büchse hat ihre Farbe gewechselt. Plötzlich ist sie unsichtbar, schimmert durchscheinend vor meinen Augen. Ich kann nicht anders, greife zu: Blitze treffen mich, ich bäume mich auf, spastisch, schwebe, sehe mich von oben. Es brummt irgendwo her, leise, anschwellend - ein Tinnitus vermutlich, doch er lässt nicht nach, steigert sich, springt Oktaven tiefer, durchdringender, lauter. Das Flimmern in der Luft beginnt zu tanzen, meine Wahrnehmung flackert, ich werde zum Spielball, knalle gegen die Atmosphäre, als wäre sie ein Trampolin – unten liegt mein Körper. Schüsse treffen die Bäume, sorgen für Blätterregen, Borkensplitter fliegen, Qualm verwehrt mir die Sicht – ich schwebe mitten in gleißend hellem Licht, das im Sound des tiefen Basses flimmert, der alles übertönt, Angst macht, und zugleich frei. Konzentration ist wichtig, Konzentration auf den stärksten Impuls, das Brummen, es muss eine Bedeutung haben. Es ist zu laut für andere Geräusche, omnipräsent – allgegenwärtig.
„Aufhören“, brülle ich, „es soll Stille sein.“ Ich atme hektisch, zu schnell für diese Art von Luft, hyperventiliere, bis mir schwarz vor Augen wird…
Vogelzwitschern weckt mich, es ist kalt auf dem Boden, mein Körper schmerzt. Splitter stecken wie Siegsymbole in mir, Hoheitszeichen der Eroberer, überall rinnt Blut. Meine rechte Hand hält die Büchse umschlossen, schwer und kalt ist sie, doch habe ich eine Art von Bindung mit ihr. Ich kann es deutlich spüren, irgendeine Energie, deren Ursprung nicht in meiner Hand liegt und mich dennoch wärmt, eine heilende Wirkung hat. Meine Wunden verschließen sich, die Splitter fallen einfach auf den Boden, als wäre ich unsterblich. Niemand schießt, keine Granaten, keine Minen. Es ist surreal, nicht wirklich. Ich müsste tot sein, doch ich lebe, fühle mich gesund und stark. Die Büchse entwickelt ein Eigenleben, glüht plötzlich, ohne meine Hand zu verbrennen. Es rauscht und knackt um mich herum als wäre die Büchse eine Box, ein Transmitter, der über Bluetooth die Luft als Lautsprecher benutzt:
„…geben wir einen Waffenstillstand bekannt, der unbefristet ist“, dröhnt es aus atmosphärischem Megaphon, „… jegliche Kampfhandlungen einstellen …“
Eisige Tornados toben über meinen Rücken, bringen Gänseschauer mit. Mein Wunsch war Stille gewesen, es ist still. Ich kann das nicht gewesen sein, Niemand kann sowas, ein Zufall. Waffenstillstand bedeutet ja nur, dass nicht geschossen wird, während Verhandlungen geführt werden: Wunden lecken zur Steigerung der Heilwirkung, doch die Mündungen sind immer noch aufeinander gerichtet. Eine unklare Situation, die nur durch dauerhaften Frieden entschärft werden kann.
Wieso schießen wir aufeinander? Ich kenn die nicht, von denen hat mir keiner was getan. Wir haben alle Familie, eine Frau, Kinder, wir sollten nicht hier sein und aufeinander schießen. Frieden brauchen wir, nichts weiter.
An der Büchse tut sich was, es knackt erneut im Raum: „… wurde ein dauerhafter Frieden beschlossen.“
Mit offenem Mund starre ich um mich, Blicke ohne Fokus. In meinem tiefsten Inneren wummert es, schnell, stark und unheimlich laut.
Kann es sein?
Misstrauisch betrachte ich die Büchse, sie ist rechteckig, zerkratzt und alt, doch ich erkenne etwas: Es sind keine Kratzer, keine Abschürfungen, es sind Zeichen. Ich erkenne Elemente griechischer Mythen genauso wie Runen, lateinische Buchstaben, arabische Symbole und Fragmente aus Urdu und Hebräischem – die Büchse ist übersäht davon, was keinen Sinn ergibt, zumindest nicht für mich als Student der Sprachwissenschaften. Es kann einen solchen Gegenstand auf meiner Welt nicht geben. Glaube wird schließlich nur in der eigenen Line vererbt und ist einzigartig, ein Stigma. Die Alten stanzen ihre Fantasie ins neue Bewusstsein - glorreiche Werte, für die gelebt und gestorben wird für Volk und Vaterland: die Grundlage fast jeden Krieges auf Erden und doch nur eine Schablone aus der Urzeit.
Ich bin ein mittelmäßiger Mensch, verheiratet, zwei Kinder, mein Glaube gilt der Familie. Mein Gott ist Mutter Natur, die ohne Hirn lenkt, doch stets perfekte Entscheidungen trifft. Götter? Phantasmagorien, Konstrukte überbordender Träume der Hoffnungslosen: Fundamentalismus, an einen Glaubensfetisch geknüpft.
Die Büchse blinkt plötzlich, als warte sie auf einen Befehl. Kalt liegt sie noch immer in meiner rechten Hand. Ich habe vergessen, was sie ist und was sie kann, doch sie ist mir unheimlich. Gewöhnlich definiert sich alles durch Logik oder die Grundgesetze der Natur. Manchmal auch nur durch Menschenverstand, Intuition. Wir kennen Physik und leben nach ihr, weil sie plausibel erscheint mit Formeln, die wir selbst erstellt haben – und dadurch zwangsläufig unsere Möglichkeiten begrenzen. Es kann kein Ding geben, das all dies ad absurdum führt, Wunschgedanken erfüllt, als wäre es ein Dschinn.
Ich es will es wissen, muss es probieren:
„Zeig mir meine Familie.“
Ein Strudel bildet sich, winzig klein brennt er sich in die Luft vor mir, wird größer, zu einer Kinoleinwand mir Rückprojektor, der mir mein Zuhause zeigt: Meine Frau sitzt auf der Couch, schaut mit den Kindern Sandmännchen, das Bild so intensiv, dass mir Tränen über die Wangen perlen. Zu lange bin ich bereits weg.
Was geschieht hier? Warum ich? Ich will bei meiner Familie sein. Es gibt nichts Heiligeres als die Familie, den Segen der Natur, der aus Kaulquappen Menschen machte. Es muss doch einen Grund haben, wieso mir diese Macht verliehen wird.
„Fritz?“
Ich sitze auf der Couch, neben meiner Frau, die mich ungläubig betrachtet. Sandmännchen läuft und meine Kinder starren ins Fernsehbild. Sie tastet mit offenem Mund nach mir, zaghaft berührt ihre Hand meine stoppelige Wange. Meine Kids werden aufmerksam, blicken mich verwundert an: „Papa ist wieder zu Hause“, brüllen sie, denen Wunder noch greifbar sind, doch es ist zu unheimlich, nicht zu erklären – und ich drücke die Büchse in meiner Rechten mit Gedanken an „Zurück.“
Nachts duftet der Wald besonders intensiv, ist Mündungsfeuer lauter. Mörsergranaten blenden, Bäume brechen, doch mich umfängt Stille, bettet meine Träume auf blutgetränktem Moos. Meine Rechte umklammert noch immer die Büchse. Es ist ein zu mächtiges Gerät, mit dem man lieber nicht spielt. Ich sollte es weglegen, tief im Erdreich vergraben, auf das es niemals wieder benutzt werden kann. Unsere Formeln sind zwar begrenzt, reichen aber zum Büchsen bauen.
Lebt wohl, meine Süßen, ich liebe euch, ich liebe das Sandmännchen…