Die Aussätzigen
"Keine Unterwerfung ist so vollkommen wie die, die den Anschein der Freiheit wahrt. Damit lässt sich selbst der Wille gefangen nehmen."
Jean-Jacques Rousseau, "Emile"
Eilig huschte der Schatten durch das diesige Dunkel der Nacht. Petra hatte den filzigen Kragen ihrer alten Jacke hochgeklappt, um sich vor dem kalten Windhauch zu schützen, welcher melodisch und doch monoton durch die Baumwipfel zischte, einem Warnsignal gleich, das ihr unablässig folgte. Man hatte sie entdeckt, kurz darauf beschimpft, bespuckt und schließlich gejagt. Gebrandmarkt wie Vieh war sie auf einen Blick als Aussätzige zu erkennen gewesen. Sie trug das Zeichen der Entehrung auf ihrer Stirn. Wie alle Aussätzigen. In den großen Gebäuderuinen, die einst prunkvolle Wohnblöcke der Arbeiterschaft darstellten, gelang es ihr schließlich, die aufgebrachte Meute abzuwimmeln. Zielstrebig bahnte sie sich ihren Weg zum alten Fabrikgelände, dessen weitläufige, baufällige Hallen von vergangenen Zeiten kündeten, als der Maschinenbau noch einer der wirtschaftlichen Pfeiler der deutschen Volkswirtschaft war und Begriffe wie „Fachkräftemangel“ durch die Nachrichten gingen. Eine beinahe vergessene Zeit, die nun mehr als fünfzig Jahre zurücklag.
In der Ferne sah sie das tanzende Feuer. Feuer, das aus rostigen Tonnen loderte und in den kalten, trüben Herbsttagen oftmals die einzige Wärmequelle für sie und diejenigen, die ihr Schicksal teilten, bot. Vom Widerhall ihrer Schritte begleitet, näherte sie sich den lodernden Flammen. Plötzlich kamen sie aus den dunklen Ecken der Fabrikhalle geschlichen, gramgebeugte, hagere Gestalten. Aussätzige, wie Petra eine war. Auch sie trugen das Brandzeichen auf ihrer Stirn, das sie als Aussätzige kennzeichnete: ein großes, eintätowiertes Kreuz. Die Löcher ihrer verdreckten Kleidungsstücke entblößten ihre entzündeten Hautwunden.
„Petra, Du bist spät“, keuchte ihr Karl entgegen, ein alter Mann, in dessen Augen sich all der Schmerz und der Kummer widerspiegelte, der ihm in den letzten Jahren widerfahren war. „Ich wurde entdeckt, man hat mich verfolgt“, antwortete sie und rieb ihre Hände über der wohligen Wärme. Aussätzige trauten sich nur noch nachts auf die Straße, zu groß war die Gefahr, bei Tageslicht aufgespürt zu werden. Das Flackern des Feuers illuminierte nur Bruchteile der großen Halle, ein unheimliches Lichtspiel, welches die Schatten der verrosteten Maschinen permanent umherwandern ließ. Doch hier waren sie sicher. Hier waren sie unter sich. „Wo ist Stefan?“ fragte Petra und schaute in die ausgemergelten, von Schmutz und Staub gezeichneten Antlitze derer, die sich den Tonnen genähert hatten. Karl starrte geradezu paralysiert in die Flammen, ohne auch nur einen einzigen Gesichtsmuskel zu aktivieren. Petra kannte diesen Gesichtsausdruck. Es war die Maske der Verzagtheit. Sie hatte diesen Ausdruck mehr als einmal an Karl miterlebt.
„Woran ist er gestorben?“ fragte sie routinemäßig, beinahe habituell. „Vor Kälte, vor Hunger, vor Krankheit, was spielt das schon für eine Rolle“, entgegnete Nathalie, deren struppige Haare wirr zu Berge standen. Ihre Frustration und Resignation waren die meisten Aussätzigen nicht mehr imstande und gewillt, zu verbergen. „Aussätzige“, so nannten sie sich mittlerweile selbst. Als im Jahr 2042 von Ibrahim El-Zayat und Tariq Ramadan das Kalifat ausgerufen wurde, nannten sie sich noch „Widerstandskämpfer“ und „Partisanen“. Sie waren die Guerillas der Großstadt. Anfangs galten sie noch als „Dhimmis“, doch ihr Zustand verschlechterte sich, als sie kurze Zeit später zu „Harbis“ erklärt wurden und die Jagd auf sie begann. Sie kämpften um den Verbleib in ihrem Heimatland, während andere Staatsbürger in die Vereinigten Staaten, Russland oder Australien fliehen mussten. Nahezu alle Länder Europas waren besetzt, die wenigen „Dar al-Harbs“, die noch unbesetzt waren, würden auch bald von den Tentakeln des Wahnsinns verschlungen werden. Ein Prozess, der zunächst schleichend von statten ging, bis er schließlich den „Point of No Return“ erreicht hatte, als man frei von jeglichen diplomatischen Scheuklappen vom Dschihad zu sprechen begann. Viel zu lange hatte man die Augen verschlossen, das Thema verdrängt. Nun kämpften sie bloß noch ums Überleben. Darum, täglich wenigstens eine Mahlzeit zu sich nehmen zu können. Darum, nicht in der Kälte einzuschlafen, um nie mehr aufzuwachen. Darum, dass die schlechten hygienischen Bedingungen sie nicht dahinrafften wie die gepeinigten Pestkranken des Mittelalters.
Karl erwachte plötzlich aus seiner Starre. „Daniel und Michael sind gefasst worden bei ihrem Fluchtversuch, man hat sie gesteinigt“, gab er plötzlich zu wissen. Petra schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. Lange hatte sie versucht, den beiden Pubertierenden zu verdeutlichen, dass jegliche Fluchtversuche aussichtslos und zum Scheitern verurteilt waren, doch das konnte die beiden nicht aufhalten. Sie hatten diese Kampfeslust in den Augen, den Mut, auch weiterhin Widerstand zu leisten, und sich keinesfalls der Diktatur zu beugen. Noch waren sie gefeit vor der Desillusion, die sich eines Tages über jeden Aussätzigen ergoss, wie zäher, schwarzer Teer. Sie erinnerte sich noch an dieses Flackern in den Augen der beiden. Sie sah es einst, als sie damals in den Spiegel schaute. Sie sah es, als sie Karl und den anderen in die Augen blickte. Jetzt waren ihrer aller Augen leer und ausdruckslos, gepaart mit einem, kalten, gleichgültigen Minenspiel.
Peter schraubte wieder an seinem Funkgerät, unnachgiebig, nahezu trotzig versuchte er, Kontakt zu anderen Aussätzigen herzustellen, doch je mehr Jahre ins Land gezogen waren, desto spärlicher wurden die Rückmeldungen. Den letzten Funkkontakt stellte er vor nunmehr einem halben Jahr her. „Hallo, kann mich jemand da draußen hören, bitte meldet euch“, krächzte er geschwächt und leise in das Mikrofon. Abermals dröhnte nur ein dumpfes Rauschen aus den Lautsprechern, die Antwort der Entseelten. „Es gibt niemanden mehr da draußen“, platzte es plötzlich aus Nathalie hervor, bevor sie unvermittelt in Tränen ausbrach. Petra hatte Nathalie noch nie zuvor weinen gesehen. „Sie haben es geschafft“, schluchzte sie, „sie haben uns vernichtet, ausgerottet. Jetzt sind nur noch wir übrig.“ Karl nahm sie in den Arm und versuchte sie zu trösten. Er brachte kein Wort über die spröden Lippen, alles, was er tun konnte, war behutsam ihren Rücken zu streicheln. „Wie soll das nur weitergehen“, wehklagte Nathalie, deren Tränenspur den Dreck auf ihren Wangen löste. „Ich weiß es nicht“, flüsterte Karl und rieb weiter ihren Rücken.
Petra schaute sich in der Lagerhalle um, dem letzten Rückzugspunkt der Aussätzigen. Sollte es tatsächlich soweit sein? Sollten tatsächlich nach mehr als zehn Jahren der Verfolgung und systematischen Vernichtung diese knapp zwanzig leidensgezeichneten Gestalten die letzten verbliebenen Staatsbürger sein? Der Gedankengang hämmerte einem Faustschlag gleich das Entsetzen in ihre Glieder und raubte ihr gänzlich jede zuversichtliche Hoffnung, die noch zart und latent in ihr zu schlummern vermochte. Karl, der ehemalige Anführer des Widerstandes, ließ von Nathalie ab und gab die fünfstellige Zahlenkombination in den Tresor ein. Es gab kein Zurück mehr. Der Zeitpunkt, über den sie schon so oft diskutiert hatten, war gekommen.
Es gab nichts mehr, für das es sich noch zu leben lohnte. Der finale Fluchtweg aus der Hoffnungslosigkeit war beschritten. Karl setzte als erster die Waffe an seinen Kopf. Beschämt starrten die Aussätzigen zu Boden. Ein ohrenbetäubender Knall lärmte durch die Lagerhalle, das Echo warf ihn mehrfach harsch zurück, bevor der Schall derart langsam verebbte, als würde er nur zögernd Abschied nehmen können. Nathalie wischte sich die Tränen aus den Augen und nahm die Waffe aus Karls Händen. Petra schloss die Augen. Der nächste Schuss fiel. Nathalie ging zu Boden. Der Schall verebbte. Peter verließ sein klappriges Funkgerät und ergriff die Waffe. Eine Kettenreaktion der Verzweiflung hatte sich in Gang gesetzt. Weitere Gestalten schlurften aus den dunklen Ecken der Fabrikhalle und reihten sich ein in die morbide Schlange des Todes, die geduldig, beinahe sehnsüchtig wartete, bis die Schusswaffe frei wurde. Und als das Holz aus den Tonnen schließlich ausbrannte und das Feuer erlosch, kehrte die Dunkelheit in die Halle zurück. Und die Stille. Und die Kälte.
ENDE