- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 17
Die Ausgrabung
"Entschuldigen Sie! Sind Sie Frau Blohm?" Jürgen trat zaghaft näher an den Rücken heran, der die Sicht auf einen rechteckigen Erdaushub teilweise verdeckte. Die Angesprochene hielt in ihrer Tätigkeit inne und lugte über die rechte Schulter nach hinten.
"Ja. Und Sie müssen der junge Mann aus dem Volkshochschulkurs sein." Ohne sich um weitere Höflichkeitsfloskeln zu kümmern, widmete sie sich wieder dem Terrain vor ihren Knien. "Kommen Sie näher, aber passen Sie auf, wohin Sie treten." Er nickte erfreut.
"Es ist mir eine große Ehre, Sie kennen zu lernen, Frau Blohm. Ich heiße Jürgen. Jürgen Hecht." Wie befohlen, achtete er sorgsam auf seine Schritte, bis er endlich neben seinem größten Vorbild stehen bleiben durfte. Ihre Aura kam ihm vor wie ein Zaun aus Stacheldraht und hielt ihn auf Distanz.
"Was haben Sie da?" Er hielt ihr euphorisch sein mitgebrachtes Hilfsmittel unter die Nase.
"Eine Zahnbürste. Mittelweich."
"Für solch eine penible Tätigkeit braucht man mindestens drei Zahnbürsten", belehrte sie ihn. "Weich, mittel und hart."
"Tut mir Leid, ich bin Neuling auf dem Gebiet." Verschämt packte er das Teil wieder weg.
"Ja, ja, schon gut." Sie musterte ihn misstrauisch. "Haben Sie bei so etwas schon einmal mitgemacht?"
"Nein, aber es war schon lange mein größter Wunsch", entgegnete er mit leuchtenden Augen. Schon als Kind hatte er davon geträumt, einmal in den Zeugnissen längst vergangener Kulturen nach bislang Unbekanntem zu forschen. Und vielleicht wartete sogar eine sensationelle Entdeckung nur auf ihn ...
"Wissen Sie, wonach wir suchen?", beförderte ihn Frau Blohms Stimme unsanft in die Realität zurück.
"Nein. Ich weiß nur, was in der Zeitung stand. Also, eigentlich nichts." In dem Augenblick, als er über den Grund seiner Anwesenheit näher nachdachte, fiel ihm dieses Manko an Informationen erstmals auf. Gleichzeitig entspannte sich der lauernde Gesichtsausdruck der Projektleiterin. Sie brachte sogar eine Art von Lächeln zustande.
"Sehr gut." Ein so gar nicht dazu passender eisiger Blick aus ihren hellgrauen Augen scannte seine innersten Regungen. "Und? Was vermuten Sie?" Jürgen ließ in Sekundenschnelle die Publikationen Frau Blohms vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Nun gut, sie war DIE unbestrittene Koryphäe schlechthin, was Ausgrabungen betraf. Ihr Instinkt hatte ihr allein mehr Treffer beschieden, als allen anderen Forschern dieses Bereichs zusammen genommen. Einzig die Auswertung und Zuordnung ihrer Ergebnisse deutete in letzter Zeit immer häufiger auf eine gewisse Fixiertheit hin, die jedoch auf Grund der gegebenen Umstände zumindest in diesem Fall außer Acht gelassen werden dürfte. An diesem Ort kamen ihre Theorien ganz sicher nicht in Betracht. Er schalt sich einen Narren. Mutig meldete er sich zu Wort.
"Ich denke, dass es sich hier um eine Richtstätte handelt. Wie der Name Galgenberg bereits vermuten lässt, ..." Mit einer harschen Handbewegung schnitt sie seinen Satz ab.
"Nein, auf gar keinen Fall. Alles deutet darauf hin, dass dies ein Landeplatz für Besucher aus dem All war." Also doch! Er hätte es ahnen müssen.
"Ich möchte keinesfalls vorlaut wirken, aber der höchste Punkt der Anhöhe liegt bei circa dreihundert Metern. Das erscheint mir doch ein wenig niedrig für ..."
"Blödsinn! Die Höhe eines Berges ist keineswegs entscheidend, sondern seine Lage."
"Aber es gibt hier nirgends eine gerade Fläche oder gar Schneise, die für ein wie auch immer geartetes Fluggerät taugen würde, zumal die hohen Bäume ..."
"Wir wissen überhaupt nichts über die Manövrierfähigkeit der Schiffe, die unserer Technik himmelweit voraus waren. Das Argument lasse ich nicht gelten. Kommen Sie mit zum Zelt, junger Mann. Dort werde ich Ihnen beweisen, dass ich Recht habe."
Am Ziel angekommen, präsentierte sie ihm stolz die bisherigen Fundstücke: zwei Skelette und ein teilrestauriertes Tongefäß.
"Aller guter Dinge sind drei!", frohlockte sie. "Hier, bitte sehr! Beweis Nummer eins." Jürgen betrachtete das Dargebotene eher skeptisch. Aufgrund der aufmunternden Mimik der Dame fühlte er sich zu einer unverbindlichen Diagnose befleißigt.
"Wie ich sehe, fehlt dem Skelett eine Hand. Soviel ich weiß, hat man Dieben damals als Strafe eine Hand abgehackt, bei Wiederholung ihrer Tat die andere. Mehr als zwei ..."
"Quatsch! Sehen sie die saubere Trennstelle am Gelenk? Da wurde meiner Meinung nach mit Präzisionswerkzeugen gearbeitet. Laser möglicherweise. Höchstwahrscheinlich zu Untersuchungszwecken nach einem Unfall. War wohl nicht mehr zu retten, das Gewebe."
„Und die fehlende Hand wurde nicht gefunden?“
„Glauben Sie, solch ein Forschungsstück hätten die sich entgehen lassen?“ Sogar ihre Weisheitszähne wurden beim lauthalsen Lachen sichtbar. „Wird wohl kaum ohne Grund verschwunden sein ...“
„Manchmal graben streunende Tiere ...“
Frau Blohm ignorierte gnädig die leise geflüsterten Worte, legte ein Tuch über ihr Schaustück und schob Jürgen zu einem Rolltisch, auf dem fein säuberlich eine Menge gebrochener Knochen angeordnet waren.
"Vorsicht bitte mit Beweis Nummer zwei, damit die Lage der Objekte nicht verändert wird. Ganz eindeutig ein Erdbewohner, der wieder zurückgebracht und bei der Landung aus dem Raumschiff geschleudert wurde." Sie nahm eine Digi-Cam und machte von allen Seiten Fotos, wobei sie ihren Begleiter provozierend anrempelte. Der jedoch ließ sich nur mit Mühe ablenken.
"Ich möchte mir keinesfalls anmaßen, Ihnen zu widersprechen, aber solche Bilder kenne ich aus historischen Überlieferungen. Schwerverbrecher wurden gerädert, und deren zerschmetterte Gebeine dann durch die Speichen geflochten. Diente der Abschreckung ..."
"Papperlapapp, Sie klugscheißender Banause. Sie wollen nur der Wahrheit nicht ins Auge blicken. Ihr Horizont reicht gerade mal bis zur Kloschüssel. Das Offensichtliche verleugnen, um bequem weiterhin alte Zöpfe zu flechten. Wie ich solche Ignoranten hasse!"
Wutentbrannt warf sie die Kamera auf die penibel sortierten Knochen. Einen Trumpf hatte sie noch im Ärmel. Triumphierend schob sie den desillusionierten Mann zu einer verglasten Vitrine, in der mehrere Teile eines ehemals zerbrochenen Tongefäßes ausgestellt waren.
"So, was sagen Sie dazu?" Ziemlich grob drückte sie sein Gesicht in Richtung Scheibe. "Nummero drei."
"Das sieht aus wie eine Vase", presste Jürgen heraus. "Oder ein Krug."
"Falsch, ganz falsch! Da drin liegt meine revolutionäre Entdeckung: ein Raumfahrhelm." Noch ein, zwei Mal klatschte sein Gesicht gegen das Glas, bevor die Dame für einen Moment von ihm abließ.
"In einer zerbrochenen Vase einen Raumfahrerhelm zu sehen, halte ich doch für weit hergeholt." Jürgen zog ein Taschentuch aus seiner Cargo-Hose, um den Raum nicht mit Blutspritzern aus seiner Nase zu verunreinigen. Frau Blohm sah nun rot.
"Glaub mir, du Würstchen, das ist eindeutig ein Helm. Schon auf Fresken der Inkas sind welche zu sehen." Frau Blohms eiserner Griff lockerte sich, damit sie den unverschämten Burschen zu Boden schleudern konnte. Der krabbelte auf allen Vieren in Richtung Ausgang. Mit irrem Blick suchte sie nach Gegenständen, die sie als Waffe gebrauchen konnte.
"Aber an dem Gefäß sind keine Aussparungen für Augen oder eine Nase erkennbar", wagte Jürgen einen letzten Versuch, die Restlogik Frau Blohms zu aktivieren, bevor er die Flucht ergriff.
"Außerirdische sehen eben NICHT unbedingt wie Menschen aus, du Arsch!", schrie sie ihm hinterher.
"Du weißt nichts! Gar nichts! Wer von uns beiden hat studiert? Ich doch wohl! Und außerdem: Niemand, der Ahnung hat, bringt nur eine Zahnbürste mit!"