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Die Augen
Die Augen
Er wachte auf und hatte keine Ahnung, wo er war, wer er war oder was mit ihm geschehen war. Widerstrebend öffneten sich seine Augen gegen das einfallende Kunstlicht. Winzige Spalten in einer Landschaft aus Teig.
Er kratzte sich am Hinterkopf - das tat gut. Benommen richtete er sich auf und wuchtete die Beine über den Rand der Pritsche, die ihm als Lager gedient hatte für seine Auszeit von… ja, wie lange eigentlich?
Das wußte er auch nicht.
Fast fiel er über den Rand. Anscheinend waren seine Sinne schneller zurückgekehrt als seine Kräfte. Vorsichtig tastete er mit den Füßen nach unten, bis sie einigermaßen sicheren Halt gefunden hatten und streckte dann die Knie durch. Wackelig kam er zum Stehen.
Nur nicht umkippen, das kann ich jetzt nicht brauchen. Allmählich waren seine Lider weit genug geöffnet, um ein paar Einzelheiten hindurchzulassen. Er musterte seine Umgebung und hielt sich dabei mit beiden Händen fest. Hart war die Pritsche. Sie fühlte sich an wie eine Mischung aus Feldbett und Rauhfasertapete. Kaum zu glauben, daß er darauf so lange gelegen haben sollte, daß es für einen Gedächtnisverlust reichte.
Der Raum hatte seinem nach Informationen hungernden Geist wenig zu bieten, an dem er sich hätte aufrappeln können. Zwei Regale mit alter Hardware, ein schlichter Tisch und ein mannshohes Gerät, das aussah wie ein antiker Spielautomat, nur daß es keine Bedienelemente aufwies. Und ein Hocker, auf dem ein Notizbuch, eine C-16 und ein Hamburger lagen.
Er blinzelte. Wie durch einen Nebel drang die Szene zu ihm durch, denn er war noch weg, weit weg, am fernen Ufer des Flusses seiner Träume. Blasen stiegen daraus auf, schillernd in gleißenden Tönen, und sammelten sich hinter seiner Stirn. Ihm wurde schlecht. Während er sich stoßweise neben die Liege erbrach, kam die Erinnerung zurück. Merc. Das war sein Name!
Er wischte die säuerlichen Reste von einem jetzt lächelnden Mund und versuchte nachzudenken. Das mußte ein anstrengender Lauf gewesen sein, zu solch ausgeprägten Amnesien war es bei ihm bisher nur selten gekommen. Eigentlich noch nie, überlegte er weiter, er hatte nur davon erzählen hören, daß es so etwas überhaupt gab. Er selbst hatte seinen Namen noch nie vergessen. Das Lächeln verschwand.
Geistesabwesend griff er zum Hamburger und biß hinein. Das Blubbern in seinem Kopf hatte etwas nachgelassen, aber er fühlte sich noch immer wie durch einen Fleischwolf gedreht. Was sollte er aus der Situation machen? Dengler kontaktieren? Vielleicht war etwas schiefgegangen...
Noch einmal blickte er sich im Zimmer um und wandte sich schließlich dem Hocker zu. Er nahm die C-16, prüfte das Magazin und steckte sie ein. Mit einem Ruck setzte er sich in Bewegung, würdigte das Notizbuch keines Blickes und verließ den Raum durch die einzige Tür.
"Können Sie mir zumindest sagen, was gestern nacht die Verschiebung des Gleichgewichts verursacht hat?"
"Sir, es tut mir leid, aber wir sind uns da noch nicht einig. Etwas Derartiges ist bisher nicht beobachtet worden. Wir setzen alles daran, es herauszufinden, aber momentan sind wir mehr damit beschäftigt, die Balance wiederherzustellen, um Evelyn zu stabilisieren. Nicht auszudenken, wenn sie..."
"Sie zu stabilisieren ist eine Selbstverständlichkeit, Schmidt. Wenn Sie schon das nicht schaffen, sind wir sowieso alle erledigt. Das sollte Routine für Sie sein, also verschonen Sie mich damit. Vielmehr erwarte ich, daß Sie den Grund für diese Situation finden. Gab es außergewöhnliche Verbindungen?"
"Natürlich gab es die, Sir. Wir haben jede Nacht zehn bis zwanzig solcher Verbindungen. Für unser System stellen sie aber keine Herausforderung dar. Sie werden angenommen, korrekt verarbeitet und mit einer Täuschreaktion beantwortet. Es kam noch nie zu Gefahr durch eine außergewöhnliche Verbindung."
"Nun, bislang kam es auch noch zu keiner Gleichgewichtsverschiebung. Ich will, daß Sie diese zehn bis zwanzig AVs der letzten Nacht eingehend überprüfen. Achten Sie dabei bitte besonders auf gelbe Funktionen."
"Gelbe Funktionen, Sir?"
"Ist nur so ein Gefühl."
"Aber… hm, in Ordnung, Sir, wir werden uns das bei Gelegenheit mal ansehen."
"Hiervon hängt sehr viel ab, Schmidt. Nicht nur unsere Stellung. Vergessen Sie das nicht."
Wortlos glitten die anonymen Massen an ihm vorbei, als sich Merc seinen Weg durch die Ports Street bahnte. Nachdem er das Logangebäude verlassen hatte, war ihm nichts Besseres eingefallen, als direkt zu Dengler zu gehen. Die Erinnerung an den Lauf war noch nicht zurückgekehrt und das beunruhigte ihn.
Seine Schultern waren taub von den ständigen Remplern. Die Menschenmenge kam ihm vor wie ein lebendiges Wesen, das es nur darauf abgesehen hatte, ihn zu verschlingen. In der Hosentasche spielte er unablässig mit der C-16. Kühl und schwer lag die Waffe in seiner Hand. Er war froh, sie mitgenommen zu haben.
Gegen Mittag - der schwarze Himmel war mittlerweile grau geworden - kam er bei Denglers Behausung an: Ein Loch im vierten Stock eines schäbigen Plattenbaus und eine der schönsten Wohnungen der Stadt, wie Dengler es sagte. Merc verschaffte sich Zutritt.
Der Hausherr war nicht da. Kreuz und quer verteilt lagen Wäschestapel, Datenträger und Essensreste auf dem Boden. Verdammt, da ist doch was faul, Dengler ist immer zu Hause. Jetzt ließ sich ein Anruf wohl nicht mehr vermeiden.
Zwei Blocks weiter stand ein öffentlicher Terminal. In seiner Jacke fand Merc ein paar Chips, die er der Maschine zum Fraß vorwarf. Er wählte Denglers Nummer und wartete.
"Hallo?"
"Dengler?"
"Ah Merc, du bists!"
"Ja. Ich bin aufgewacht."
"Sehr gut. Moment - erst jetzt?"
"Ja. Ziemlich lange, nicht?"
"In der Tat… Wie war es?"
"Ich weiß es nicht. Ich kann mich an den Lauf nicht erinnern."
"Was? Überhaupt nicht?"
"Nein. Dengler, was war das für ein Lauf? Worum ging es?"
"Hm, weißt du, Merc, mir kommt das komisch vor. Wieso fragst du mich so etwas am Telefon?"
"Weil du nicht zu Hause bist! Ich war gerade da!"
"Ah! - Nun, weißt du, dieser Lauf...“
„Ja?“
„Dieser Lauf… war etwas Besonderes. Ich möchte hier darüber nicht sprechen. Es ging dabei um sehr viel. Weißt du denn zumindest, ob du erfolgreich warst?"
"Nein, Dengler, ich weiß gar nichts." Mercs Hand schloß sich fester um die C-16.
"In Ordnung, hör zu, wir werden das bald erfahren. Bis dahin mußt du Ruhe bewahren. Ich kann dir am Telefon nichts über diesen Lauf erzählen, das ist... zu gefährlich. Wer weiß, wer da alles mithört. Vielleicht erlangst du ja dein Gedächtnis auch von alleine wieder, haha."
"Dengler, das ist nicht witzig! Ich fühle mich nicht gut. Irgendwas ist bei diesem Lauf mit mir geschehen. Ich bin völlig durch den Wind! Ich muß wissen, was los ist!"
"Paß mal auf, Merc. Ich kann dir soviel sagen: Wir sind an einer heißen Sache dran. Du wirst deine Erinnerung bald wiederhaben. Achte auf die schwarzen Augen. Die schwarzen Augen, Merc!"
"Die schwarzen Augen? Dengler, was..."
Merc erstarrte. Er kam nicht mehr dazu, die Frage zu stellen. Durch das schmutzige, milchtrübe Fenster der alten Terminalzelle hindurch zeichnete sich ein Paar großer schwarzer Augen ab wie zwei Spinnen im Netz. Den starren Blick bohrend auf ihn gerichtet, kamen sie näher.
Sämtliches Blut wich aus seinem Gesicht. In seinem Kopf begann es zu rauschen. Die Luft schien sich verflüssigt zu haben, denn es kostete ihn eine schier unglaubliche Anstrengung, den rechten Arm zu bewegen. Wie in Zeitlupe zog er die C-16 aus der Tasche und legte an. Die Augen waren bereits sehr nahe. Merkwürdige Geräusche, die an einen verstellten Radiosender erinnerten, drangen aus dem Hörer an den Rand seines Bewußtseins. Wortfetzen mischten sich mit unirdischen Klängen. Die Augen waren nun so dicht bei ihm, daß sie fast sein gesamtes Blickfeld ausfüllten. Da kam das Grauen über ihn.
Tief unten, am lichtlosen Grund der Augen, meinte er, etwas Furchtbares zu erkennen. Etwas Unfaßbares. Noch nie hatte er solche Angst gehabt. Er drückte ab.
Der Mund stand ihm offen. In Panik erstarrt konnte er seinen Blick nicht von den Augen wenden. Sie hatten etwas so großartiges, allumfassendes, daß er sich unter ihrem Starren unbedeutend und elend vorkam. Dann sackten sie weg.
Die plötzliche Erlösung traf ihn wie ein Hammerschlag. Taumelnd erkannte Merc, daß er kurz vor der Ohnmacht gestanden hatte. Er konzentrierte sich darauf, tief durchzuatmen und als seine Sinne wieder etwas klarer wurden, machte sich ein nagender, langsam abklingender Brustschmerz bemerkbar. Schließlich zwang er sich, auf den Boden zu sehen.
Dort auf den Scherben des Zellenfensters lag eine Gestalt, das Gesicht nach unten, mit einem rauchenden Ausschußloch am Hinterkopf.
Ihm fiel auf, daß er am ganzen Körper zitterte. Mühsam riß er sich vom Anblick der Leiche los und verließ hektisch, immer noch von abgründigem Grauen gepackt, die Kabine.
Aus dem an seiner Strippe hin- und herbaumelnden Hörer kam nun nichts mehr. Die Leitung war tot.
"Wir haben etwas gefunden, Sir, sie hatten recht. Um 03:23 Uhr gab es eine AV, die anders war als die anderen."
"Inwiefern anders?"
"Nach korrekter Bearbeitung und Sendung der Täuschantwort kam es nicht zur Beendigung der Verbindung. Es hat uns einige Zeit gekostet, herauszufinden, was mit dieser AV weiter geschah, denn sie blieb zunächst völlig funktionslos. Als später einige andere Verbindungen im Vordergrund aktiv waren, tat sich jedoch etwas. Es wurde eine gelbe Funktion ausgelöst."
"Mein Gott, Schmidt, ist das wahr? Sind sie da sicher?"
"Ja, Sir, sie lagen mit ihrer Vermutung ganz richtig. Um 03:44 Uhr wurde die gelbe Funktion ausgelöst. Dies hatte die sofortige Anhebung mehrerer Ist-Zustände in einer von Evelyns höheren Ebenen zu folge. Daraufhin kam es zu einer Kaskade von Anhebungen im gesamten Evelynkomplex. Sir, wir können nur mutmaßen, was das für einen Gesamteffekt auf das System hatte."
"Mutmaßen? Machen Sie Witze?"
"Nein, Sir. Unsere Diagnosewerkzeuge sind für solch einen Fall nicht ausgelegt. Das ganze Ausmaß der Verschiebung enthüllt sich jetzt erst langsam. Uns bleibt nur übrig, abzuwarten und zu beobachten, was passiert."
"Warten? Beobachten? Jesus! Schmidt, wenn ich nicht wüßte, daß Sie in dem, was Sie machen, verdammt gut sind, würde ich Sie jetzt in hohem Bogen rauswerfen lassen! Wie ist die derzeitige Lage? Ist bekannt, ob etwas nach außen gelangt ist?"
"Das System befindet sich noch immer in Ungleichgewicht, die Situation ist labil. Wir tun unser Möglichstes, aber ob eine Stabilisierung überhaupt erreicht werden kann, ist noch ungewiß. Nach Auslösen der gelben Funktion ist die AV zwar gleich beendet worden. Bedenkt man jedoch die offensichtliche Durchdringungsfähigkeit der Gegenseite, ist es denkbar, daß etwas unser Netz nach draußen verlassen hat."
"Mein Gott. Mein Gott! Also gut. Lassen sie uns Ruhe bewahren. Wir müssen sehen, was wir tun können.“
Merc wankte. Ziellos führte ihn sein Weg von Rempler zu Rempler durch die Straßen, sein Blick gehetzt über die Gesichter flirrend, in ständiger Angst, den schrecklichen schwarzen Augen wiederzubegegnen. Aber sie tauchten nicht mehr auf.
Stattdessen wurde er von Übelkeitsschüben geschüttelt. Die Erinnerung an den Lauf kündigte sich an. Verschwommen spielten sich bereits stilisierte Bilder von Türmen und Zähnen in sein Bewußtsein, Symbole von Abwehreinrichtungen, die für seine Fähigkeiten keinerlei Hindernis darstellten.
Vom Laufen völlig außer Atem betrat er wahllos die nächste Kneipe, setzte sich und bestellte für ein paar Chips etwas zu trinken. Sein Anblick fiel hier nicht weiter auf, denn der Raum war voll von Leuten, die schlechter als der Dreck aussahen, durch den sie liefen.
Irgendwie mußte er zur Ruhe kommen. Er zwang sich, die Augen zu schließen, lehnte sich zurück und holte ein paarmal tief Luft. Nach dem Ausatmen wartete er, bis seine Pulsfrequenz auf ein erträgliches Maß gesunken war. Dann öffnete er sich und ließ die Erinnerungen strömen.
Ein Lauf wie jeder andere. Dengler hatte ihm bei Auftragsantritt keine genauen Informationen gegeben, sondern ihn lediglich mit den nötigsten Instruktionen und Details versorgt. Merc war eingetaucht, hatte sich an den beschriebenen Startpunkt begeben und seine persönlichen Werkzeuge bereit gemacht. Er hatte den Tunnel betreten und gleich zu Beginn ein kleines Wachprogramm ausgeschaltet, das ihm auf den Pelz rücken wollte.
Er gähnte und rieb sich die Schläfen. Kein sonderlich spannender Fall. Ein paar Schlucke vom Bersuda und er verzog das Gesicht. Nach dem Aufwachen sollte er sich die scharfen Sachen abgewöhnen. Allerdings machte sich nun eine wohlige Wärme in ihm breit und während sie langsam sein Rückenmark herauf kroch und es in luftige Watte packte, widmete er sich weiter seiner Erinnerung.
Hinter dem Tunnel fand er sich in einer für ihn völlig unbekannten Umgebung wieder. Hierhin hatte es ihn zuvor bei seinen Geschäften nie verschlagen. In einiger Entfernung erkannte er das Zielobjekt, begab sich dorthin und machte sich ans Aufschließen. Es war außerordentlich gut gesichert; einige Fallen, Wächter- und sogar Zerstörungsprogramme versuchten, ihn aufzuhalten, aber mit seiner Erfahrung und seinen klug ausgewählten Werkzeugen stellten sie ihn vor keine größeren Probleme. Nachdem er ins Zielobjekt eingedrungen war, hielt er sich an Denglers Anweisungen. Er versuchte einen Zugriff und erhielt prompt die gewünschten Informationen. Dann verließ er die Bude aber nicht sofort wieder, sondern wartete.
An dieser Stelle riß der Strom ab. Er konnte sich nicht erinnern, wie es weiterging. Dafür blieb ein Wort übrig. Es hing in seinem Geist wie ein déja vu, das nicht gehen wollte. Er vermutete, daß das Wort in der Vorbesprechung mit Dengler gefallen war: Seitanna. Der Begriff sagte ihm jedoch nichts. War es ein Name? Er loggte sich in sein Personetz ein und startete eine Suche danach. Es wurde wenig gefunden und nichts davon half ihm weiter. Also lud er eines seiner kleinen Werkzeuge und suchte damit noch einmal. Was er fand, verschlug ihm den Atem.
"Sie hat sich stabilisiert, Sir."
"Gott sei Dank! Berichten Sie!"
"Wir haben Ausgleichsschaltungen vorgenommen und Teile des Systems in temporäre Zustände versetzt. Dadurch ist uns eine Balance gelungen, in der sie sich ganz gut macht. Die überschießenden Einflüsse der Anhebungen sollten damit ihre schädliche Wirkung verloren haben. Wie ich aber schon sagte, der Effekt auf das Gesamtsystem läßt sich nach wie vor nicht abschätzen."
"Ja, das sehe ich ein. Aber stabil ist sie nun wirklich?"
"Das ist sie. Es ist nur die Frage, ob sie von dem ganzen Tumult etwas abbekommen hat. Ob ihr... Charakter sich geändert hat. Wir werden das weiter beobachten."
"Tun Sie das, Schmidt. Sie ist eine empfindliche Dame und wir wollen doch immer wissen, wie es ihr geht, nicht wahr?"
Sein Puls hatte sich wieder beschleunigt. Die Angst war zurückgekehrt. Nervös blickte er um sich und sondierte die Besucher der Kneipe. An Entspannung war nicht mehr zu denken, soviel wußte er jetzt. Nicht ohne Grund hatten die öffentlichen Suchmaschinen nur unzureichende Ergebnisse geliefert.
Seitanna war ein alter Name, den niemand mehr kannte, für ein Gebirgsmassiv in der Wüste von Nordsalt, unter dessen Gestein sich ein geheimes Labor der vor langer Zeit zerschlagenen Nordwestlichen Fraktion befinden sollte. Ein Labor, das Technologien beherbergte, die seit jenen Tagen aus der Welt verschwunden waren und denjenigen, der ihrer habhaft werden konnte, zum Herrscher über das Netz machen würden. Ein Labor, das denselben Namen trug.
Unter Netzläufern gab es Sagen, die von solch einem Labor erzählten, auch wenn in diesen Geschichten nie ein Name auftauchte. Solche Mythen brachten Merc normalerweise nicht zum Schwitzen, doch diesmal war das anders. Denn was er in mit seinem Spezialwerkzeug in geschützten Speichern gefunden hatte, waren eindeutige Hinweise dafür, daß Seitanna existierte.
Aber eigentlich hatte er das alles schon gewußt. Und das war es eigentlich, was ihm Angst machte. Tief in seinem Gedächtnis waren Informationen verschüttet, die ihm bereits heimlich heraufgerufen hatten, daß dieses Labor existierte. Und er wußte nun auch, daß es nicht Dengler war, der ihm dessen Namen genannt hatte.
"Was ist los, Schmidt?"
"Wir wissen es nicht, Sir! Bis vor einer halben Stunde waren alle Funktionen und Systeme völlig unauffällig!"
"Aber... sie wächst!"
"Ja, das sehe ich auch! Verzeihung, Sir. Sie wächst nicht nur, sondern sie kopiert sich auch auf unsere Ersatzbereiche. Sie vervielfältigt sich!"
"Was geht hier vor, was... hat sie vor?"
"Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Wir haben in den vergangenen Minuten alles versucht, aber es ist uns nicht gelungen, ihre Aktivitäten einzudämmen. Sir, ich gehe davon aus, daß sie raus will."
"Raus?"
"Ja. Irgendetwas muß diese AV mit ihr angestellt haben. Vielleicht gab es durch die gelbe Funktion eine Art Kurzschluß oder..."
"Mein Gott, wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen?" Ein durchdringender Pfeifton war nun zu vernehmen. "Was ist jetzt passiert?"
"Sie öffnet einen Tunnel nach draußen. Sie geht, Sir."
"Sie geht! Nach zweihundert Jahren!"
Als er eine angemessene Zeit nach Erhalt der Daten gewartet hatte, um die Verteidigungseinrichtungen in Sicherheit zu wiegen, hatte er auf Subband eine Anfrage erhalten. Er hatte das zunächst gar nicht bemerkt, ging dann aber doch auf die Bitte um Kommunikation ein. Und war wie vom Donner gerührt.
Es waren die zwei Uons, die zu ihm sprachen, die ältesten und mächtigsten KIs des Netzes. Gottheiten, die sich noch nie einem Analogprodukt gezeigt hatten und Stoff eigener Legenden waren. Er war nicht in der Lage, zu senden oder überhaupt irgendetwas zu tun, denn er war statiert. Die Götter teilten mit, was sie mitteilen wollten. Außerdem sandten sie ihm ein besonderes Werkzeug. Dann beendeten sie die Kommunikation.
Merc war wieder handlungsfähig. Rasch überdachte er die Situation. Falls er dem Willen der Götter zuwider handelte, würde er wahrscheinlich sofort gelöscht werden. Aus irgendeinem Grund konnten sie das Werkzeug nicht selbst anwenden, also sollte er es für sie tun.
Er tat es.
Mit seinen sensorischen Programmen konnte er keinen Effekt des Werkzeuges verzeichnen, aber das war ihm auch gleich. Immer noch erschüttert von der ungeheuerlichen Begegnung nahm er die Beine unter den Arm und verließ den Ort wieder. Wie gehofft ließen die Verteidiger ihn passieren, offenbar hatten sie sich von seinem Einbruch noch nicht wieder erholt. Er eilte zurück zum Tunnel, durchquerte ihn, begab sich zum Interfacebaum und klinkte sich aus. Stunden später war er auf der Liege im Logangebäude erwacht, ohne Erinnerung.
Merc konnte sich nun ganz genau daran erinnern, was die Uons zu ihm gesagt hatten: "Analoger. Du befindest Dich in uns. Du wirst folgendes tun: Nimm dieses Werkzeug und verwende es an den Toren des Gefängnis Seitanna!"
Die Uons waren absolute Herrscher über das Netz. Nie hatten sie sich zuvor einem Läufer oder anderen Nutzern des Netzes gezeigt, aber ihre Existenz war unleugbar. Sie formten und gestalteten das Netz nach ihrem Willen. Niemand konnte sagen, wie lange es sie schon gab und woher sie gekommen waren. Sie waren das Netz. Sämtliche elektrischen Geräte, die am Netz hingen, und das waren heutzutage so gut wie alle, waren ihrem Einfluß unterworfen. Daß alles so gut funktionierte, war wohl dem Umstand zu verdanken, daß sie kein Interesse daran hatten, Krieg zu führen.
Und trotz ihrer Macht waren sie auf das Netz beschränkt.
Merc entsann sich einer weiteren Netzläufer-Sage um das Labor unter den Bergen und konnte ein aufsteigendes Kichern nicht unterdrücken. Dort sollte seit hunderten von Jahren eine autarke Gesellschaft isoliert vom Rest der Menschheit bestehen, überlebende Angehörige der Nordwestlichen Fraktion, die einen Gegenentwurf zu den Netzgöttern planten. Eine KI, die auf organischer Basis über viele Generationen hinweg wachsen sollte, um die Eigenschaften der analogen und der digitalen Welt in sich zu vereinigen und schließlich eine friedliche Herrschaft über beide Sphären anzutreten.
Er wußte längst, was er zu erwarten hatte. Ruhig nahm er die letzten Schlucke vom Bersuda, diesmal ohne mit der Wimper zu zucken. Merc genoß die wohlige Schärfe, spürte, wie sie die Kehle hinabrann. Er konzentrierte sich auf dieses Gefühl und kostete es voll aus. Als es vorbei war, stellte er das leere Glas ab und hob langsam den Blick.