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Die Aufschneider
Eigentlich wollte ich Schinken kaufen und Brot - für das Abendessen mit meiner Frau, als ich Manfred begegnete. Es war später Nachmittag und ich wartete an der Theke des Supermarkts. Zuerst dachte ich, ich könnte meinen Augen nicht trauen, doch dann war ich mir sicher: Neben mir stand wirklich Manfred, mein alter Banknachbar aus der Oberstufe, dem ich seit Jahren schon nicht mehr begegnet war.
"Manfred", sagte ich, "Manfred, so ein Zufall, gestern erst habe ich an dich gedacht."
"Thomas, schön, dich zu sehen!", antwortete er und reichte mir die Hand. "Sag mal, wie geht's dir?"
Er drückte meine Hand, fest und professionell fühlte es sich an und mir kam es vor als wären wir in einer dieser Szenen, in denen sich zwei wichtige Menschen minutenlang die Hände schüttelten, damit auch jeder Fotograf ein Bild erhaschen konnte. Zu diesem Eindruck trug auch sein Anzug bei, sicher von Armani, denn Manfred war noch nie ein Mensch der kleinen Dinge gewesen. Nur ich passte mit meinem Wollpullover und der Jeans nicht so recht ins Bild.
Mir ginge es gut, antwortete ich, und ich würde von nun an regelmäßig in diesem Supermarkt einkaufen gehen, da meine Frau ich und vor ein paar Wochen in diesen Teil der Stadt gezogen waren.
"Toll!", sagte er, "Dann sehen wir uns ja sicher öfter, ich muss dir unbedingt einmal die Gegend zeigen, hier um die Ecke gibt es einen wunderbaren Italiener, da müssen wir uns einmal treffen."
"Oh das wäre fein, ich mag Italienische Gerichte - vor allem die Nudeln mit Knoblauch, wie heißen die doch gleich?"
Er sagte mir den Namen, aber ich habe ihn gleich darauf vergessen, bin aber sicher, der Kellner würde mir das passende Gericht bringen, sollte ich "Nudeln mit Knoblauch" bestellen.
"Manfred, was machst du denn beruflich?", fragte ich ihn.
Sein Blick wurde stolz als er sagte: "Ich arbeite bei den Aufschneidern, in leitender Position."
Das hatte ich noch nie gehört. Also fragte ich ihn, was das denn für eine Tätigkeit wäre, die er da ausübte.
"Bürokram", antwortete er, "viel zu erledigen, und die Mitarbeiter taugen nicht viel - du kennst das ja."
Ich kannte das nicht, wollte mir meine Unwissenheit aber nicht anmerken lassen. Also blickte ich ihn verständnisvoll an und sagte: "Da fällt sicher viel Arbeit für dich an."
"Na sicher", antwortete er, "wir sind schließlich ein international tätiges Unternehmen. Ich habe viel Verantwortung."
Das verstand ich, als Ehemann und Vater von zwei Kindern dachte ich mir zumindest, ich könnte mit dem Begriff "Verantwortung" etwas anfangen.
"Was macht denn deine Firma eigentlich, wobei du so viel Verantwortung hast?", wollte ich wissen.
"Wir schneiden auf. Und das international." Er hob seine Brauen und sah aus, als hätte er eben etwas sehr Wichtiges gesagt.
"Du meinst, ihr verlegt Kabel oder Kanäle? Oder hat das etwas mit Bekleidung zu tun?", fragte ich weiter.
Seine Augenbrauen wanderten wieder nach unten und sein Gesichtsausdruck bekam etwas Strenges. Ich fühlte mich getadelt.
"Wo denkst du hin? Das ist Sache unserer Kunden und geht uns nichts an. Wir schneiden nur auf."
"Aha", sagte ich und nickte.
"Wir können uns schließlich nicht um alles kümmern, wo käme man denn da hin", sagte er.
"Ja", meinte ich, "wo käme man denn da hin. Du hast schon Recht, man muss sich auf seine Aufgabe konzentrieren. Das ist ja schließlich Arbeit genug."
Er lächelte und fühlte sich offenbar von mir verstanden.
"Das hast du gut erkannt. Aber sag mal, womit verdienst du denn dein Brot?"
Ich winkte ab.
"Ach, frag lieber nicht. Ich habe eine Stelle als Armleuchter angenommen, in einer kleinen Firma."
"Armleuchter?", fragte er und schien erstaunt.
"Ja", antwortete ich, "ist nichts Besonderes. Aber es gibt Aufstiegsmöglichkeiten."
Sein Nicken wirkte wohlwollend.
"Natürlich nur, wenn ich dem Unternehmen lange genug angehöre und mich gut verhalte."
Er hob eine Augebraue, genau wie mein Vater, der hatte das auch immer getan.
"Das tust du doch hoffentlich, oder?"
"Klar", sagte ich, "ich will ja schließlich, dass einmal etwas aus mir wird."
Er klopfte mir auf die Schulter, väterlich, und ich blickte zu ihm auf, obwohl er nicht größer war als ich.
"Wenn du dich anstrengst, dann klappt das", sagte er, "du kannst alles schaffen, wenn du es nur wirklich willst! Und hey - solltest du Hilfe benötigen", er machte eine kleine Pause, dabei drückte er meine Schulter, "ruf mich einfach an, wir bekommen das schon hin - bekommst ein Freundschaftsangebot!"
Auf dem Heimweg konnte ich es kaum erwarten, meiner Frau von meinem Freund, dem Aufschneider, zu erzählen. Es fühlte sich toll an, einen so erfolgreichen und hilfsbereiten Menschen zu kennen.