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Die auf fünf Minuten beschränkte Diskussion, von der eventuell sehr viel abhängt.
"Was soll das darstellen?", frage ich die hagere Gestalt in einem leicht spöttischen Tonfall und deute dabei mit einer Hand auf das seltsame Gebilde.
Der alte Mann sieht mich an. Seine dunkelroten Lippen sind fast völlig unter dem dichten Bart verborgen; das vernarbte Gesicht glänzt wie das Antlitz einer in die Sonne gehaltenen Plastikpuppe, und einzelne Schweißperlen laufen langsam daran herab, sammeln sich an seinem Kinn. Alle paar Sekunden löst sich ein Tropfen und landet auf dem durchnässten, viel zu engen T-Shirt, welches zum Hals hin weit ausgeschnitten ist und einen wahren Urwald schwarzer Haare feilbietet.
"Das ist eine Atombombe. In fünf Minuten wird sie detonieren.", antwortet er fröhlich, während er mit seinen dürren Fingern über den kalten Stahl des sonderbaren Gerätes streichelt.
"Aha!", grinse ich ihm entgegen. "Dann sollte ich mich mit meinen Einkäufen wohl lieber ein wenig ranhalten." - Diesesmal lache ich ihn aus. Es stehen noch ein paar andere Leute um uns herum, die gleichfalls auf den Bus warten; gleichfalls schmunzeln müssen.
Ich möchte ihn fragen, ob er für das Metallungetüm - der vermeindlichen Bombe -, vorsorglich auch ein Ticket gelöst hat, verkneife mir die Bemerkung dann aber lieber.
Wer weiss, ob der Kerl nicht plötzlich aggressiv wird, wenn man ihn zu sehr reizt.
So wende ich mich also ab von ihm und wage einen unmöglichen Blick um die Straßenecke herum. Die Linie ' 852 ' lässt einmal mehr auf sich warten.
Auf dem kostspieligen Digitaldisplay der Haltestelle wird im gleichen Augenblick eine fünfminütige Verspätung vorhergesagt.
- Teurer Luxus, in einer bis ins letzte verschuldeten Stadt -
"Der Bus wird ganz genau pünktlich sein.", flüstert er verschwörerisch in mein Ohr. Mir ist überhaupt nicht aufgefallen, wie er sich genähert hat.
Sein selbstgebastelter Roboter rollt - an einer Art Leine befestigt - auf kleinen Kunststoffrädern hinter ihm her. Einige LED´s blinken nervös in verschiedenen Farben auf, und als ich sie genauer betrachte, überkommen mich unversehens Zweifel an meinem rationalen Denken.
Ist irgendein Obdachloser tatsächlich im Stande, solche Konstruktionen zu entwerfen?
Vielleicht hat er das Ding ja auch irgendwo gestohlen.
"Ganz schön schwer, in diesen Zeiten an Uran zu kommen, was?", frage ich ihn ein wenig verunsichert.
Ein knapper Alarmton dringt aus einem kleinen Autoradio, welches an dem bizarren ' Kopf ' des künstlichen Ungeheuers angebracht ist.
"Noch vier Minuten.", sagt der alte Mann, ohne jede erkennbare Emotion, mich scheinbar absolut ignorierend.
Ich kratze mich hastig an meinen Armen, wie ich es immer mache, wenn ich nervös werde.
Natürlich ist das alles reiner Schwachsinn. Selbstverständlich redet der Kerl bloß versoffene Scheiße.
Trotzdem bin ich beunruhigt; kratze mich weiterhin.
Zwei Mädchen fangen an zu lachen, deuten mit ihren Zeigefingern in Richtung des Obdachlosen und seines undefinierbaren Begleiters. Sie rufen etwas mit ihren hellen, vorpubertären Stimmen.
"Polnischer Terminator."- Mehr höre ich nicht heraus. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, die Situation zu beurteilen.
Ein unheilschwangeres Summen legt sich in den Schall der Luft und plötzlich werden die bunten Lämpchen noch viel unruhiger, panisch fast.
"Schonmal was vom Armageddon gehört?", möchte er von mir wissen.
"Glaubst du daran, dass Gottes Sohn ein zweites Mal auf diese Erde zurückkehrt, diesesmal allerdings, um sich zu rächen? Glaubst du mir, wenn ich dir jetzt sage, dass es einen Ort hier ganz in der Nähe dieses unscheinbaren Platzes gibt, dem eine Nuklearexplosion gar nicht gut bekommt? Ein Ort, der eine noch viel gigantischere Detonation auslösen wird? Natürlich weiss niemand davon, ist sozusagen Top-Secret." - Es weht keine Alkoholfahne aus den Tiefen seines Rachens mit, er spricht so unglaublich...glaubwürdig.
Die Mädchen lachen weiterhin und erneut ereifern sich die Lautsprecher des Radios für den Bruchteil einer Sekunde.
"Noch drei Minuten habt ihr alle Zeit, zu bereuen.", sagt er weiterhin unbekümmert.
Gleichzeitig kündigt das amtliche Display meinen Bus in gleicher zu erwartender Zeitspanne an.
Dieser Mensch ist wahnsinnig! Er hat sich auf dem Schrottplatz ein paar alte Küchengeräte zusammen gesucht und will jetzt Panik verbreiten. Natürlich bin ich um ein Haar auf diese Masche hereingefallen. Ich bin eben viel zu naiv.
"Fick dich!", schreie ich ihn laut an.
Er wirkt weder entsetzt, noch angriffslustig; in keinster Weise überrumpelt, nicht im geringsten Maße beeindruckt.
"Du solltest deine Ansichten gründlich überdenken, und lass dir nicht zuviel Zeit dafür." - Seine Tonlage macht mich fast wahnsinnig. So ernst und nüchtern, als wenn er felsenfest von der angepriesenen Wirksamkeit seines mechanischen Gefährtens überzeugt ist; der nachfolgenden Katastrophe, die von dem ' Nummer 5 ' lebenden Imitat angeblich verursacht werden soll.
Inzwischen ist es gänzlich ruhig um uns herum geworden. Gebannt starren die Menschen in unsere Richtung, erwarten eine handgreifliche Auseinandersetzung, bei der ich rein körperlich zweifelsfrei haushoch überlegen wäre.
Stattdessen legt mir der Alte beschwichtigend seine Hand auf die Schulter.
Ich zucke zurück. Nicht wegen der Berührung, sondern weil ich flüchtig seine sauberen, manikürten Nägel erblicke. Ein angenehmer Duft teuren Deodorants verwöhnt meine Nasenschleimhäute.
Dann reisst mich der schrille Laut des alten ' Sony ' Radios erneut aus meinen Gedanken.
"Zwei Minuten hast du noch Zeit, mit dir selbst ins Reine zu kommen. Eine unbedeutende Kleinigkeit, in Anbetracht einer heißen Ewigkeit."
Ich wende mich von ihm ab, kann noch immer nichts wirklich abstoßendes an ihm finden, so sehr ich auch nach solchen Hinweisen suche.
"Wasch dich erstmal, du Drecksack!", lüge ich ihm aus unsinniger Verzweiflung entgegen.
In Wahrheit bin ich es, der sich plötzlich schmutzig vorkommt.
Weshalb mischt sie niemand ein?
Eventuell sind die Leute gleichfalls entsetzt, oder sie hoffen noch immer auf ein wenig mehr ' Action ' zwischen uns beiden.
Ich komme mir vor, wie der Hauptdarsteller in einem billigen B-Movie.
Nein, vielmehr fühle ich mich zurückversetzt nach Babylon. Ich bin dort gewesen; für einen Moment glaube ich wahrhaftig an diesen Unfug.
Dann muss ich wieder lachen; ich schleudere meinen unzensierten Gefühlsausbruch völlig unverhohlen und hysterisch in sein ungepflegtes, schönes Gesicht.
< Eine Bombe ist das nicht, nur ein Verrückter Freak, der von der Existenz selbiger überzeugt ist. >
Der Ton, an den ich mich mittlerweile fast gewöhnt habe, erklingt ein letztes mal.
"Eine Minute bleibt dir jetzt noch. Sekunden können lang sein, aber auch viel kürzer als erwünscht.", verrät er mir, ohne dabei auch nur einen Anschein von jedweger Gestik zu offenbaren.
Ich bin zu leichtgläubig, zu sehr beeinflussbar. In einer Stunde werde ich zu Hause ankommen, meiner Freundin einen Kuss geben, sie streicheln; mit ihr intim werden.
Ich sollte mich freuen.
Das Display kündigt meinen Bus an; gleich wird er um die Ecke biegen.
Voller Wut trete ich brutal vor den Metall-Herkules. Die LED´s sind jetzt auf einem Niveau, auf dem sie jeden Epilepktiker in die Notaufnahme befördern könnten.
Nichts als Lichtblitze; beinahe hätten sie mich trotzdem überzeugt.
"Noch zehn Sekunden!", flüstert die armseelige Gestalt.
Die ' 852 ' kommt um die Ecke und nähert sich.
Der fünfziger Jahre Science-Fiction Cyborg rastet fast aus vor sich steigernden Blinklichtern, seltsamen Geräuschen und unkontrollierten Bewegungen.
Der Bus ist so gut wie da.
Alles nur Schwachsinn; vergesse den Mist!
"Noch fünf kurze Augenblicke."
Das langgezogene, schlängelnde Geschöpf menschlicher Personenbeförderung kommt zum Stehen.
Alles andere ist einfach nur Quatsch!
Der Penner rasselt seinen Countdown weiter hinunter; ich kann ihm einfach nicht glauben.
"Drei...zwei...eins."