Die Außenseiterin
Sie konnte nicht mehr. Warum nur gerade sie? Sie hatte doch niemanden etwas getan. Trotzdem quälte man sie so. Immer wieder diese Sticheleien und die Gerüchte, die in der Schule herumgingen. Sie fühlte sich so allein, niemand der ihr zuhörte Gehschweigeden sie unterstützte. Sie hatte alles versucht auf die anderen zu zugehen, aber nichts nütze. Alle lachten heimlich hinter ihrem Rücken über sie und zeigten mit dem Finger auf sie. Wäre ihre Mutter noch hier..., aber nein, sie war es nicht. Gott, hatte sie ihr genommen ohne zu fragen. Hatte sie ihr einfach weggenommen. Wütend haute sie mit der Hand auf das Geländer. Wie konnte er ihr nur so etwas antun. Sie musste an die Beerdigung denken. All die Beileidsbekundigungen. Sie konnte sich noch genau erinnern, wie sie vor dem Grab stand und Erde hineinwarf. Ihr Vater? Gab es ihn überhaupt noch. Selten zu Hause, keine Zeit, neue Freundin!
Sie hatte nie eine richtige Freundin gehabt bis auf ihre Mutter. In der Schule war sie schon immer die Außenseiterin gewesen. Obwohl sie niemandem etwas getan hatte, wollte niemand etwas mit ihr zu tun haben. Nein, sie durfte nicht darüber nachdenken. Verzweifelt klammerte sie sich an den Pfosten. Sie weinte oft, wenn sie aus der Schule kam und auch jetzt rollten ihr dicke Träne über die Wangen. Energisch wischte sie die Tränen fort. Nein wegen denen würde sie nicht weinen! Nach einiger Zeit hatte sie angefangen sich zu währen. Erst nur mit Worten und dann auch mit ihren Händen und Füßen. Sobald jemand sie persönlich angriff, schlug sie zu. Danach hasste sie sich meistens selber dafür und schwor sich es nie wieder zu tun. Aber wenn es dann soweit war, kam es wieder über sie.
Sie drückte ihre Hände gegen den Kopf. Dieses Gedanken mussten aufhören, sie mussten einfach. Die Hänseleien hörten auf und somit auch ihr letzter Kontakt zur Außenwelt. Keiner wagte es mehr ein Wort zu ihr zu sagen. Nur diese Blicke, immer nur diese Blicke.
Oft hatte sie versucht mit ihrem Vater darüber zu reden. Aber nie hatte er Zeit. Selbst nachdem er einmal zur Schule gerufen werden musste, war kaum eine Reaktion von ihm zu hören. Er hatte ihr nur über den Kopf gestrichen und gesagt: „ Ich glaube, wir müssen mal in aller Ruhe miteinander reden.“ Auf dieses Gespräch wartete sie schon seit Wochen, aber scheinbar hatte er es vergessen.
Sie blickte nach oben in den Himmel. Tausende von Sternen funkelten auf sie hinab. Sie meinte, die Sternenbilder erkennen sie können. Da oben muss man frei sein, dachte sie. Ohne jeden Zwang, wie alt würde man fliegen. Wie es wohl da oben ist, fragte sie sich. Sie stieg das Gehländer höher hinauf, bis sie ganz oben stand. Der Wind spielte mit ihrem offenen Haar und blies es ihr ins Gesicht. Der tosende Strom unter ihr, nahm sie kaum wahr. Sie schloss die Augen und vor ihrem inneren Augen sah sie einen riesigen Stern leuchten, wie einen Wegweißer. Er leuchtete hell und klar. So muss der Stern von Bethlehem aus gesehen haben, dachte sie. Und zum ersten mal seit langem spiegelte sich um ihre Lippen ein lächeln. Plötzlich tauchte neben dem Stern ihre Mutter auf. Sie lächelte sie an. Komm zu mir sagte sie. Hier wirst du glücklich sein.
Sie löste ihre Hände vom Pfosten und streckte sie ihrer Mutter entgegen. Nur einmal noch nicht allein sein, dachte sie und sprang. Und in diesem Moment wusste sie, sie würde nie wieder einsam sein.