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Die Armbrust
,,Du hast meine Schwester getötet“
sagt die schwarze Frau, als sie vom Tresen aufblickt. Ihre Anklage wirkt eher brüskiert, ja herablassend, als verzweifelt. Nein, ein Racheengel ist sie nicht, und wenn, dann einer mit gestutzten Flügel. Für H wirkt es eher, als wolle sie ihn klein halten, ihm zeigen, wer der Boss ist.
,,Es war ein Unfall“ beteuert er, denn so war es. Er hat noch nie jemanden getötet, in seinem ganzen Leben nicht, er wüsste nicht einmal, wie man das anstellt. Doch die Frau will nichts hören.
,,Du hast meine Schwester getötet“, wiederholt sie, diesmal betont sie jedes Wort. Ihr Tonfall ist unmissverständlich: Hier hat sie das sagen.
,,Nein, es war ein Unfall!“ drückt H zwischen den Zähnen hervor. Am liebsten würde er sie anschreien, doch ist die Form zu wahren. H’s Bruder, der am anderen Ende der Theke beschäftigt ist, schaut kurz herüber, sagt aber nichts. Hilfe ist von ihm nicht zu erwarten.
,,Du. Hast. Meine. Schwester. Getötet.“ Wieder betont sie jedes Wort, auf das eine kurze Pause folgt, bei jeder Silbe stößt ihr Zeigefinger in seine Richtung. H’s Welt verengt sich. Aus der offenbar sehr geräumigen Innentasche seines Mantels zieht er einen eigenartigen Gegenstand hervor. Er erinnert an eine mittelalterliche Armbrust, bloß hat er nur etwa die Größe eines Papierfliegers. Kurioserweise ist er geladen. Im Schwung derselben Bewegung, mit der er ihn aus der Manteltasche zog, richtet H ihn auf die Tresenfrau und drückt ab, die Wucht des Bolzens reißt sie augenblicklich aus der Szene.
H’s Bruder kommt ebenso augenblicklich hinter dem Tresen hervor, verwünscht ihn, will ihn packen, doch H, noch immer die Waffe in den Händen, wirft sich mit der ganzen Wucht seines Körpers gegen ihn, sodass er zu Boden fällt und benommen liegenbleibt. H ergreift die Flucht, verlässt das Setting, läuft kreuz und quer durch die Straßen der Altstadt, die eigenartigerweise menschenleer zu sein scheint. Da er noch keiner Seele begegnet ist, bleibt für ihn die Frage vorerst offen, ob er sich gleich selbst richten oder noch jemanden mitnehmen soll. Nun ist ein jeder sein Feind, doch scheint man sich bedeckt zu halten.
Mit der Armbrust in der Hand hetzt er voran, und selbst die nahende Erkenntnis, dass es sich hierbei um einen Traum handelt, kann ihn nicht mehr retten, da er weiß, dass er sich schon außerhalb der Gesellschaft befindet.