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Die Armbanduhr

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19.08.2018
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Die Armbanduhr

Wo um Gottes Willen ist dieser Kassenbon, nörgelte Stefan mürrisch, während er die auf dem Regal nachlässig gesammelten Belege bereits zum zweiten Mal durchsah. Irgendwann wird er sie einsortieren müssen, dachte er schon seit Monaten, und seit Monaten stapelten sie sich in einem undurchschaubaren Durcheinander: Tankstellenquittungen, Lohnsteuerbescheinigungen, die Rechnungen von der Autowerkstatt, der Kassenbeleg für die Bohrmaschine ...
Anlass zum Durchwühlen des Papierchaos war seine nagelneue Armbanduhr. Vor etwa drei Monaten hatte sich Stefan dazu entschlossen, sich die langersehnte Armbanduhr zu kaufen. Davon hatte er schon lange geträumt, sich jedoch nicht getraut, den für seine Verhältnisse immensen Betrag auszugeben. Sein ganzes Leben lang war er als Malermeister tätig, wurde aber vor knapp zwei Jahren Opfer von Sparmaßnamen in seinem Betrieb. Damals war er 56. Anfangs war er verbittert, war er immer noch, doch begriff bald selber, dass die Arbeit ihm nicht unbedingt fehlte. In den letzten Monaten fühlte er sich ständig erschöpft, hatte Schmerzen in den Armen und im Kreuz. Der Herr vom Arbeitsamt bot ihm an, an einer Umschulung teilzunehmen. Der Angestellte, dessen Aufgabe war, sparsam mit Staatsmitteln umzugehen, meinte, dass es auf dem Arbeitsamt große Nachfrage nach Wachpersonal gäbe: „Ich würde Ihnen empfehlen, Herr Storch, einen Lehrgang zur Sicherheitskraft zu machen. Der Arbeitsmarkt ist für Quereinsteiger offen. Eine Arbeitsstelle finden Sie danach ga-ran-tiert!“
Seit ungefähr acht Monaten arbeitete er nun in einem Flüchtlingsheim. Anders als auf der Baustelle, spielte hier das Äußere eine gewisse Rolle, und so rang er sich dazu durch, die teure Uhr doch zu kaufen. Gekauft hatte er sie letzten Freitag, am frühen Montagmorgen stand die Uhr bereits still. Er war enttäuscht, die selbstaufziehnde Uhr sah ziemlich wertvoll, er hatte sich von einer großen Summe trennen müssen, um seine Traum finanzieren zu können, es ging ja nicht um die gängigen elektronischen Uhren, es war eine teure Besorgung, die auch einen bestimmten emozionalen Wert für ihne hatte. Er konnte es nicht fassen, wie ein so kostspieleiger Gegenstand einfach kaputt gehen konnte? Diese Woche hatte er Spätschicht, sodass er es sich leisten konnte, vor der Schicht in den Laden zu gehen und die Reklamation zu melden. Da traf er auf eine unbekannte Verkäuferin, die dem aufgebrachten Stefan geduldig zuhörte und anschließend den Kassenbon verlangte. Stefan holte seine Brieftasche raus, stöberte genervt, die Verkäuferin beruhigte ihn, dass sie die Beanstandung notieren würde, er könne wiederkommen, der er den Zahlungsnachweis gefunden habe, man würde dafür Sorge tragen, dass ihm die Armbanduhr ersetzt wird.
Am Tag darauf fing das große Herumwühlen an, nach dem Regal kamen eins nach dem anderen alle in Frage kommenden Möbelstücke, Ecken und Winkel an die Reihe, überall, wo etwas raufgelegt oder reingesteckt hätte sein können, wurde durchsucht, alle Jacken-, Hosen- und Hemdtaschen. Er war am Verzweifeln, als ihm einfiel, dass einige Kleidungsstücke im Wäschekorb sein sollten. Er fing an, jede Tasche abzutasten und nach Außen umzudrehen. Ganz unten im Wäschekorb war ein Wäschebeutel, von diesen, die zusammen mit der darin befindlichen Wäsche gewaschen werden. Er hatte solche Beutel gesehen, aber zu Hause hatten sie so etwas nicht. Er löste die Kordel und holte die Sachen aus dem Beutel. Das Gesehene erstaunte ihn so sehr, dass er die Uhr und den Kassenbon augenblicklich vergaß. Da fand er lange weiße Strümpfe, dazu passende Strapse, weit ausgeschnittenes durchsichtiges und mit Spitze besetztes Body, ein kurzes Negligee und ein weißes Männerhemd, an dem der dezente Hauch eines offensichtlich exquisiten, ihm nicht bekannten Parfums, erhalten geblieben war. Was hatten all diese Sachen in ihrem Wäschekorb zu suchen? Er war sich sicher, die Damenwäsche war nicht die von seiner Kristine, so etwas trug sie nicht, das Hemd gehörte nicht ihm. Doch wer hätte sie darin stecken können außer seiner Frau? Auf einmal wurde ihm schwindlig, klar, dass es Kristine war. Alle anderen Gedanken wichen aus seinem Kopf, um dem einzig pulsierenden Satz Platz zu machen: „Kristine hat einen Liebhaber.“
Im ersten Moment konnte er den Sinn dieses unfassbaren, in seinem Schädel dröhnenden Gedanken, nicht begreifen, er musste ihn laut aussprechen. Er setzte sich langsam auf den Fußboden und wiederholte immer wieder diesen Satz. Bestimmt wäre er lange da geblieben, hätte sein Handy nicht geklingelt. Er schaute auf den Display, Kristine rief an, nein, er konnte nicht abheben, er wusste nicht, wie er sich verhalten soll, er wollte ES nicht ansprechen, wollte keine Fragen stellen, zu sehr war er durcheinander. Sie würde ihn sowieso anlügen, wer würde auch so etwas eingestehen. Er zuckte wegen des stumpfen Schmerzens und ließ das Telefon klingeln, er werde später zurückrufen. Er saß minutenlang, mit erstarrtem Blick auf das Telefon, dann schreckte er auf, er musste zur Arbeit. Also rief er Christine an und bekam zu hören, dass der Anschluss vorübergehend nicht erreichbar sei. Seine Gedanken bekamen neue Nahrung, er fragte sich, wo sie wohl sei, damit sie keinen Empfang hat, oder hatte sie womöglich ihr Handy ausgeschaltet, gewiss ist sie mit ihm, bei ihm, wer ist er, warum macht sie das, warum tut sie ihm so etwas an. Fragen, Zweifel, Vermutungen, Fragen über Fragen. Er bewegte sich mechanisch.
Sie waren seit dreißig Jahren verheiratet, er und Christine, er liebte sie auch heute, sie war immer noch schön, hatte eine sportliche Figur, die sie auch pflegte. Obwohl sie bereits fünfzig geworden war, schenkten ihr die Männer ihre neugierigen und anzüglichen Blicke.
Stefan fuhr zur Arbeit, seine dunklen Gedanken fuhren mit. Der dumpfe Schmerz ließ ihn nicht los. Wer könnte er sein? Es pochte in seinem Schädel, verschiedene Möglichkeiten schossen zusammengewürfelt durch seinen Kopf, ein Beannter vielleicht, möglicherweise einer vom Fitness oder ein Kollege? Er war nicht imstande, das Puzzle zusammenzusetzen.
Und dann kam die Erleuchtung: vor ungefähr drei Monaten wurde im Büro von Christine ein neuer Chef angestellt. Christine sprach oft und mit Begeisterung von ihm: 45-jährig, groß, sportlicher Körperbau, geschieden, sehr ehrgeizig, mit gutem Draht zu den Angestellten, selten gebe es solche Vorgesetzten und so weiter und so weiter. Sie blieb sogar öfter länger und machte Überstunden, da auf sie als eine der ältesten und erfahrensten Angestellten, wie sie der neue Chef bei einer Besprechung gelobt habe, Verlass sei und sie ihm helfen könne, sich schneller einzuarbeiten.
Offensichtlich hat sich dieser ehrgeizige Typ nicht nur einarbeiten lassen wollen, sondern sich bis hin zu seiner Frau vorarbeiten wollen. Mit Erfolg.
Bei der Arbeit änderte sich nichts an seinem Zustand. Alles, was um ihn herum passierte, gehörte nicht zu seiner Wirklichkeit. Ein Kollege unterbrach seine Abwesenheit, er fragte ihn, warum er so gedankenverloren und schlapp durch die Gegend laufe. Stefan fand schnell Rechfertigung für seine Verzweiflung, vom Kollegen als Lustlosigkeit aufgenommen, in der Geschichte von der Armbanduhr und dem Kassenbon. Solange Stefan seine Erzählung vortrug, nickte sein Kollege mitfühlend, dann äußerte er sein Bedauern und machte sich auf den Weg.
Am späten Nachmittag rief Christine an, und diesmal hob er ab. „Entschuldige, Liebes, du weißt, dass ich sehr zerstreut bin, ich habe es schon wieder vergessen, mein Handy aufzuladen. Wie geht es dir?“ Er mulmelte erschöpft, dass es ihm gut gehe, aber er sehr beschäftigt sei, wobei er dachte: „Klar doch, vergessen, nicht mit mir“. Nach dem Gespräch entschied Stefan, zu versuchen, sich zusammenzunehmen. Es gab ein Problem und dieses wartete auf seine Lösung. Das Erste, was er machen wollte, war, sich zu überzeugen, dass er keinen Fehler gemacht hat. Er war sich zu 99 Prozent sicher, dass seine Frau fremdging, aber er brauchte 100. Dieser eine Prozent war die Hoffnung, der Sandkorn, der aus diesem aus Verzweiflung, Schmerz und Beleidigung zusammengefügten Felsen, der auf seine Brust drückte, abbröckeln und sich in eine Staubwolke verwandeln könnte, die der ständig präsente hiesige Wind leicht verwehen würde.
Als er vom Büro nach Hause kam, schlief Christine bereits. Stefan aß etwas abwesend, natürlich spürte er den Geschmack nicht. Er legte sich vor den Fernseher im Wohnzimmer hin, konnte sich nicht zu ihr ins Bett legen und so tun, als wäre nichts geschehen. Er wollte sie nicht ansehen, fürchtete, sich nicht beherrschen zu können, die Kontrolle über die Situation zu verlieren, und womöglich irgendeine Dummheit zu begehen, einen Streit anzuzetteln, sie zu beschimpfen, zu beleidigen, sodass auch Geschirr kaputt geht oder ihre Beziehung ..? Er schlief schwer und spät ein, schlief sehr unruhig und wachte gegen 8 Uhr auf. Christine war ausgegangen. Zur Arbeit oder wer weiß wohin. Nach langem Überlegen und Überdenken verschiedenster Varianten, hatte er sich zu der klassischen Art der Entlarvung unteruer Ehefrauen entschlossen, er wollte sie verfolgen. Er rief im Büro an und meldete sich krank. Heute hatte er die Chance, ein zweites Mal würde man ihm das nicht abnehmen. Er zog seinen Maleroverall, den er von früher hatte, an, setzte eine Mütze auf, stieg in den Wagen ein und fuhr zu Christines Firma. Es wird schon klappen, sie kommt bestimmt mit ihrem Neuen aus, die werden entweder Kaffeepause machen oder in der Mittagspause gemeinsam essen gehen oder sonstwohin oder aber nach Feierabend sich zu zweit zurückziehen wollen. Christine erwartet, dass er bis spät arbeiten muss und braucht sich gar keine Sorgen zu machen.
Es erübrigt sich zu erzählen, wie der Arbeitstag des Detektivs verlief. Erwähnenswert ist nur, dass nichts von dem, was er zu erwarten wusste, eingetroffen ist. Christine schien zu arbeiten, kam in der Mittagspause, begleitet von einer Kollegin, raus, die beiden bummelten kurz durch ein paar Boutiques im Handelszentrum in der Nähe und gingen rechtzeitig zurück ins Büro. Um 16 Uhr machte sie Feierabend, stieg in den Bus ein und kam auf direktem Weg nach Hause. Stefan fühlte sich einersets beruhigt, aber auch gleichzeitig enttäuscht von der Erfolglosigkeit dieses Tages. Bis zum Wochenende blieben nur zwei Tage, er konnte es so anstellen, dass sie sich bis dahin nicht sehen, aber am Samstag würde es dazu kommen, das konnte er nicht vermeiden. Aber vielleicht wäre es auch besser so, denn sie könnten ein für allemal alles klarstellen. Diese zwei Tage würde Stefan in Leiden, Selbstmitleid, Herzschmerz und Vermutungen, die ihn innerlich zerreißen, verbringen, er wird sich kurzzeitig beruhigen, dann wieder ausrasten, also in einem Alptraum leben.
Wie seit Dienstagabend üblich, legte er sich auch am Freitagabend vor den Fernseher im Wohnzimmer. Er schaffte es erst in den frühen Morgenstunden einzuschlafen und wachte gegen Mittag auf. Auf dem Weg zur Küche hörte er die Dusche im Bad. Also duschte Christine, was ihm etwas Zeit gab, sich auf das vorzubereiten, was bevorstand. Egal, was es war.
Nein, da lag er leider im Irrtum. Mit der Zeit. Auf dem Küchentisch begegnete ihm die nächste Überraschung: ein Strauß aus roten Rosen, eine Schachtel exklusive Pralinen und eine Flasche erlesenen Sekt. Stefan erstarrte, der dumpfe Schmerz, der in den letzten Tagen verflogen war, fiel über ihn her, überwältigte ihn, die dunklen Gedanken und Vorahnungen schleuderten in seinem noch nicht wachen Gehirn. So eine Unverschämtheit! Jetzt hat sie alle Grenzen überschritten, so dreist kannte er sie nicht, dass sie sich erlaubte, die Geschenke ihres Liebhabers mit nach Hause zu nehmen, als würde sie ihm zeigen wollen, dass jemand anders sie mehr schätzt als er, als würde sie ihm sagen wollen, dass sie ihn verlässt...
Während er auf die Blumen starrte, bemerkte er auch einen kleinen Umschlag dazwischen. Unbeherrscht holte er ihn raus, schmiss die Rosen auf den Fußboden, zerriss den kleinen Umschlag und las im Kärtchen: „Gestern wurde unsere neue Waschmaschine geliefert. Ihr seid unsere liebsten Nachbarn. Wir danken euch vom ganzen Herzen, Hans und Ute Berg. P.S. Hoffentlich schmeckt euch der Sekt.“
Diese Worte waren wie eine unerwartete Ohrfeige für sein Misstrauen. Sein Gehirn stellte die Erinnerung an das Geheule, Gepoltere und das Quietschen der Waschmaschine von den Bergs wieder her, seit ungefähr zehn Tagen war das Knarren nicht mehr zu hören.
Stefan fühlte sich eneundlich dumm und unermesslich beschämt. So fand ihn auch Christine vor, die so leise aus dem Badezimmer herausgegangen war, dass ihm ihre Anwesenheit nicht aufgefallen war. Sie wünschte ihm lächelnd guten Morgen. Dann fragte sie nach dem auf dem Boden liegenden Rosenstrauß und warum er so beharrlich auf die Karte starre. Er wusste keine Antwort, umschlang nur ihre Schultern, zog sie noch dichter an sich und küsste sie. Sie trat einen Schritt zurück und bohrte ihn mit verwirrten Blick, was los sei, warum er ich so sonderbar verhalte. Er konnte keinen Laut von sich geben, schenkte sich etwas Kaffee ein, setzte sich an den Tisch, trank einen langen und langsamen Schluck und fing an zu erzählen.
Er legte los und berichtete seiner Frau über alles, oder eher fast alles, denn die Idee, sie zu verfolgen war auch ihm zu unwürdig und und daran und an seine erbärmlichen Erlebnisse als Detektiv wollte er sich nicht erinnern. Was für eine Schande.
Sie hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen, schüttelte den Kopf und schnalzte. Am Ende entriss ihr ein: „Was für ein Dummkopf du bist, Herr Storch! Dabei hast du mir den Kassenbon doch selbst gegeben, damit du ihn nicht verlierst.“
Die Nachmittagsstunden verliefen im Bett, wo beide ihre Jugenderinnerungen auffrischten. Während des Abendessens meinte Stefan: „Ich würde vorschlagen, dass du dich bei Ute erkundigst, wo sie diese Wösche bestellt hat.“ „Aha, daher pfeift also der Wind, mein Lieber“, lachte Christine und warf ein Stück Gouda in seine Richtung.

 

Hallo, @Iviva Kano

Und willkommen bei den Wortkriegern!

Du erzählst ja eigentlich eine recht klassische Geschichte mit einem misstrauischen Mann, der versucht, seinem Verdacht nachzugehen. Den Twist mit der Waschmaschine fand ich tatsächlich sehr, sehr gut. Da musste ich am Ende sehr schmunzeln, obwohl ich eigentlich gar nicht so der schmunzelige Mensch bin.

Zwei Mankos aber:

Erstmal ein kleineres. Mir ist von Anfang an völlig klar, dass die Frau nicht wirklich fremd geht. Das liegt eben daran, dass die Geschichte so klassisch ist. Klar, es gibt zwei falsche Fährten, den neuen Chef und die Wäsche, aber das sind so schwache Indizien. Spannender wäre die Geschichte für mich als Leserin, wenn es etwas gäbe, das mich wirklich an Christines Unschuld zweifeln lässt. So weiß ich, eben weil ich so etwas schon sehr oft gelesen habe, die ganze Zeit, dass Stefan im Unrecht ist.

Mein Ratschlag wäre, irgendeine richtig krasse falsche Spur zu legen. Irgendwas, wo ich denke: Oha, wahrscheinlich geht die wirklich fremd. Irgendetwas, das mich mit Deinem Prot zusammen an ihr zweifeln lässt. Weil so ist es einfach nicht spannend für mich, ihm dabei zuzusehen, wie er im Auto sitzt und sie verfolgt.

Es gibt einen weiteren Grund, aus dem es nicht spannend ist, und das ist Manko Nummer 2, das größere von beiden.

Es erübrigt sich zu erzählen, wie der Arbeitstag des Detektivs verlief. Erwähnenswert ist nur, dass nichts von dem, was er zu erwarten wusste, eingetroffen ist. Christine schien zu arbeiten, kam in der Mittagspause, begleitet von einer Kollegin, raus, die beiden bummelten kurz durch ein paar Boutiques im Handelszentrum in der Nähe und gingen rechtzeitig zurück ins Büro. Um 16 Uhr machte sie Feierabend, stieg in den Bus ein und kam auf direktem Weg nach Hause.

Diese Stelle ist symptomatisch für die Krankheit, an der die Geschichte leidet. Fast nichts passiert vor meinen Augen, fast alles berichtest Du nur im Nachhinein. Das fällt schon direkt zu Anfang auf, wenn von hier:

Anlass zum Durchwühlen des Papierchaos war seine nagelneue Armbanduhr.

… bis hier:

Stefan holte seine Brieftasche raus, stöberte genervt, die Verkäuferin beruhigte ihn, dass sie die Beanstandung notieren würde, er könne wiederkommen, der er den Zahlungsnachweis gefunden habe, man würde dafür Sorge tragen, dass ihm die Armbanduhr ersetzt wird.

… 346 Wörter lang berichtet wird, was zuvor geschah. Und das machst Du im Laufe des Textes immer wieder. Wenn Du willst, dass ich als Leserin mitfiebere, solltest Du Dich darum bemühen, so viel wie möglich vor meinen Augen passieren zu lassen und nicht im Nachhinein davon zu berichten, was passiert ist. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne davon sprechen, dass etwas szenisch ist. In dieser Geschichte passiert total viel, aber fast nichts davon ist szenisch.

Das ist nicht spannend, weil, wenn Du berichtest, anstatt Dinge in einer Szene passieren zu lassen, alles wenig erlebbar ist. Erlebbarkeit aber ist der Schlüssel dazu, dass ich mitfühle. Das heißt, was Du tun müsstest, um die Geschichte wirklich spannend zu machen, ist, nicht im Nachhinein zusammenzufassen, was Stefan heute erlebt hat, sondern mir zu zeigen, was er erlebt, mich dabei sein zu lassen. Deshalb hebt sich das Ende auch ein bisschen raus, weil da wirklich was vor meinen Augen gerade jetzt passiert.

Der Nachteil an im Nachhinein erzählten Ereignissen ist nämlich auch genau das: Du als Autor/in hast mir ja schon vorher mitgeteilt, wo dieses Ereignis, das Du schnell zusammenfasst, hinführt. Spannend ist das nicht.

Übrigens nochmal zu diesem 346-Wörter-langen Einschub am Anfang. Du erzählst da alles über Stefan und seine Uhr. Dabei brauchst Du die Uhr nur als Aufhänger, um zu erklären, warum er im Wäschekorb wühlt. Weder die Uhr, noch sein Beruf, noch seine Umschulung sind für die Geschichte relevant. Dafür, dass Du nur erklärst, warum er im Wäschekorb wühlt, verschenkst Du extrem viel Platz und nimmst Deiner Geschichte die Beschleunigung, ziehst sie am Anfang mit Details, die für die Geschichte unnötig sind, in die Länge.

Meiner Ansicht nach würde es statt dieser 346 Wörter völlig ausreichen, wenn Du schreibst: Stefan wollte eine Armbanduhr reklamieren und konnte den Bon nicht finden. Das reicht völlig, um zu erklären, warum er im Wäschekorb wühlt, und Du kannst direkt in die Handlung gehen, anstatt so viel Hintergrund zu erklären. Wie gesagt, sobald Du so viel Hintergrund erklärst, nimmst Du mir als Leserin die Chance, wirklich zu erleben, was passiert. Das heißt, ich denke, Du könntest das alles deutlich spannender machen, wenn Du auf den Hintergrund verzichtest, oder, die große Kunst, die Hintergrunddetails in die Handlung einwebst.

Noch ein paar Kleinigkeiten:

Er hatte solche Beutel gesehen, aber zu Hause hatten sie so etwas nicht.

Hier war ich erst völlig verwirrt. Du erwähnst „sie“, hast aber vorher nur von Stefan gesprochen. Ich persönlich schlussfolgere nicht automatisch, dass Stefan mit jemandem in einem Haushalt lebt. Vor allem wegen dem „Zuhause hatten sie so etwas nicht“ habe ich mich kurz gefragt, ob er anderer Leute Wäschekorb bei irgendjemand anderem zu Hause durchwühlt. Das heißt, ich dachte: Okay, bei ihm zu Hause gibt es so was nicht, er findet aber so was, also ist er nicht zu Hause. Und das war dann sehr verwirrend. Also, das ist an vielen Ecken ein ungünstiger Satz. Schöner wäre vielleicht: So etwas hatte er in seinem Haushalt noch nie gesehen, auch seine Frau benutzte solche Wäschesäcke nicht. Dann ist schneller klar: Okay, er findet etwas in seinem Zuhause, das da nicht hingehört.

Kristine
Christine

Kristine heißt erst Kristine und dann Christine. Warum das seltsam ist, muss ich wohl nicht weiter erläutern.

Damals war er 56.

Solange die Zahl nicht zweihundertsechzehntausendvierhundertachtundsiebzig ist, würde ich Zahlen in Geschichten ausschreiben. Das sieht einfach hübscher aus. Gilt für den gesamten Text.

Das war’s erstmal von meiner Seite. Wie gesagt: Das Ende fand ich erfrischend, eben weil Du da szenisch geworden bist. Davor musste ich mich teilweise ziemlich quälen. Ich würde deshalb vorschlagen, dass Du den Rest der Geschichte auch szenisch gestaltest. Dann könnte das richtig was werden.

Ich bin gespannt. Make it work!

Szenische Grüße,
Maria

 

Ich bedanke mich für die geopferte Zeit und die ausführliche Kritik. Erst wenn das Geschriebene seine ersten Leser gefunden hat, kann man erfahren, wie es darum steht. Da dies meine erste Erzählung ist, und Sie selbst schreiben und veröffentlichen, schätze ich Ihre Meinung außerordentlich hoch. Nochmals danke und herzliche Wünsche für Erfolge bei den kreativen Projekten.

 

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