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Die Arche Noah
Im Schein der Kerze schlich sie um die schwarzen Haufen auf dem Boden herum und setzte sich neben ihn. Er drückte ihre Hand. „Heute ist es soweit.“ – „Ja, heute. Glaubst du, draußen ist noch was?“ Er schwieg und sie sah in sein blasses Gesicht. Er sieht müde aus, dachte sie. Sehr müde. So wie sie alle müde waren. Müde vom langen Warten.
Einer der dunklen Haufen rührte sich. Es kam zu ihnen. Im schwachen Schein der Kerze konnten sie Lilly erkennen. Sie kann auch nicht schlafen, dachte sie. Keiner kann mehr richtig schlafen. Vermutlich vor Aufregung. Oder aus Angst vor dem, was draußen ist. Bei den meisten war es wohl die Angst. Die Angst, rauszukommen und vor dem Nichts zu stehen. „Sollen wir die anderen wecken?“ – „Ja, dann können wir zusammen raus. Ob gerade Tag ist? Ob es den Tag noch gibt?“ Er hielt mit seiner bleichen Hand meine weiße fest.
Sie standen auf und weckten die anderen drei. Sie waren alle nervös. Nervös wie Kinder, die gerade in die Schule kommen. Neuland betreten. Genau wie sie.
Der Raum sah so schwarz aus. Schwarz und kalt. Kalt wie Eis. Er blickte sich noch einmal um. Er atmete tief durch. Er hat Angst, dachte sie. Angst vor dem, was draußen ist. Wenn draußen noch was ist. Langsam drehte er die Luke auf. Es ächzte. Als würde die ganze Erde ächzen. Sie kletterten den engen kalten Schacht hinauf. Stufe für Stufe. Die Hände weiß und kalt. Vielleicht vor Angst. Vielleicht vor Aufregung. Tausende, endlose Stufen kletterten sie. Er hielt über ihr an. Sie hörte die Herzen klopfen. Zum ersten Mal seit etlichen Monaten. Zum ersten Mal würden sie sich wieder frei bewegen können. Die Herzen klopften.
Sie sah, wie seine Hände zitterten, als er die Luke öffnete. Grelles Sonnenlicht blendete sie. Er steckte den Kopf heraus und kletterte über den Rand. Still war es. Sehr still. Viel zu still. Keine Vögel, nichts. Das Erste was sie sah, war Staub. Staub überall. Weite Wüsten. Nur Staub und Sand. Sonst nichts. Bloß weite, weite Wüsten. Staubwüsten.
Sie griff nach seiner Hand und drückte sie. „Nichts. Gar nichts. Bloß öde Wüsten“. Seine Stimme schwankte. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
So standen sie da. Sechs schwarze Statuen, inmitten von grau-braunem Staub. Sonst nichts. Überhaupt nichts. „Das haben sie davon! Und das alles bloß, weil sie sich nicht untereinander einigen konnten!“
Samuel hatte sein dunkles Gesicht im Staub vergraben.
Sie kniete sich zu Samuel hin. Nur um ihn zu trösten. Doch da entdeckte sie etwas. Etwas kleines, unscheinbares. Sie sah genauer hin:
Zarte grüne Blätter streckten sich zaghaft aus der grauen Erde.