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Die App

Monster-WG
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10.07.2020
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Die App

0. Hintergrund

Wann genau die App aufgetaucht ist, lässt sich nicht mehr feststellen. Mehrere Untersuchungen – unter anderem der Report der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2034 – kommen zu dem Schluss, dass sie zwischen Januar 2026 und Mai 2027 weltweit hundertfach veröffentlicht wurde. Bauer et al. (2029) mutmaßen, dass sie zuerst in der zweiten Januarhälfte 2026 auf einer illegalen russischen Sharing-Plattform auftauchte; Christensen (2032) hat aber nachgewiesen, dass das vollständige Programm – oder eine weit ausgereifte Beta-Version – bereits im November des Vorjahres auf pakistanischen Servern kursierte. Wilkins (2031) kommt zu dem Schluss, dass die verschiedenen Versionen der App nicht vor September 2025 und nicht nach Januar 2028 veröffentlicht worden sein dürften. (Ab Ende 2026 gab es kein world wide web im historischen Sinn mehr.)

Es gibt zahlreiche Theorien über den Ursprung der App. Hier seien nur die wichtigsten genannt. Im Rapport der Weltgesundheitsorganisation ist von einem neuartigen „bio-digitalen Virus pandemischer Dimension“ die Rede, dessen Ursprung unklar sei. Althusser (2030) versucht, diese These mit einem mathematischen Modell nachzuprüfen, ob es ihm gelingt, ist umstritten (Calia et al. 2031). Die NATO sprach bis zu ihrem Zerfall von einem „Akt des Terrorismus“. Tatsächlich ist die Theorie eines terroristischen Angriffs, wie Zachary (2031) argumentiert, „problematisch, weil man von einem breiten, ungesteuerten Angriff auf die Menschheit ausgehen müsste.“ Auf nicht-wissenschaftlicher Seite kursieren zahlreiche (pseudo-)religiöse Erklärungen; so behauptet der Prediger Ron Lazaar, die App sei eine göttliche Strafe gewesen; in bestimmten Kreisen wurde sie offenbar mit einem Dämon identifiziert. (Für eine Übersicht der religiösen Deutungen siehe Wailer et al. (2031).)

Dass die Herkunft der App geklärt werden könnte, scheint aus heutiger Sicht zweifelhaft. Im Zuge der atomaren Eindämmungsoperationen im Herbst/Winter 2027/28 wurden Millionen Server zerstört – und mit ihnen mutmaßlich das Nest, aus dem die App ursprünglich gekommen war. (Der Begriff des „Nests“ im Zusammenhang mit dem Ursprung der App wurde von Yokomoto (2030) eingeführt und hat sich seither etabliert.) Berns (2029): „Angesichts der verheerenden Zerstörung auf vier Kontinenten erscheint es mehr als unwahrscheinlich, dass Historiker jemals imstande sein werden, die Herkunft eines einzelnen Programms zu ermitteln.“ Dieser Ansicht schließt sich der Autor an.

Die Frage des Ursprungs der App soll im weiteren Verlauf dieser Darstellung keine Rolle spielen. Ziel ist es, einen historischen Abriss ihrer Verbreitung zu geben. Dieser kann zum jetzigen Zeitpunkt freilich nur skizzenhaft sein.

1. Die Anfänge: Januar – September 2026

Die Weltbevölkerung des Frühjahrs 2026 wird auf knapp 8,3 Milliarden geschätzt (Benett 2031). Knapp ein Drittel der Menschheit hatte Zugang zum Internet (ibd.). Groben Schätzungen zufolge waren weltweit etwa zwei Milliarden Mobiltelefone in Umlauf, davon etwa 900 Millionen Smartphones. In einer durchschnittlichen Minute im Januar 2026 wurden schätzungsweise 30.000 Textnachrichten versendet, 500 Stunden Videomaterial hochgeladen, 200.000 Bilddateien und hunderte Programme veröffentlicht. Corracks (2027) geht von weit höheren Zahlen aus, seine Methode ist aber umstritten (vgl. Metzler 2029). Der Markt für Apps boomte. Täglich wurden tausende neue Programme veröffentlicht. Die Apps deckten zahllose Dienste ab, von Kalendern und Notizbüchern über Film- und Radio-Streamingdienste bis hin zu digitalen Tarnkappen.

Die weltweiten Datenströme wurden kaum beobachtet geschweige denn kontrolliert oder gesichert; herkömmliche Computerviren konnten sich binnen Sekunden verbreiten (Bacchera et al. 2026). Dass bestimmte Programme gezielten Einfluss auf die menschliche Psyche nehmen können, war bekannt. Klein (2025) hatte erstmals eine deutliche Korrelation zwischen suizidalem Verhalten und der Verwendung bestimmter Meditationsprogramme nachgewiesen. Dennoch kam, wie Christensen (2032) feststellt, „offenbar niemand auf die Idee, dass eine psychoaktive Software sich mit extremer Geschwindigkeit verbreiten könnte“. Es gab „keine Sensibilität für eine solche Bedrohung“ (ibd.) und entsprechend keinerlei Gefahrenabwehrsysteme. Obwohl entsprechende Anträge seit 2022 vorlagen, lehnte die Weltgesundheitsorganisation die Einrichtung einer Forschungsgruppe zu diesem Thema ab (Decker 2024).

Die App dürfte Wochen, möglicherweise sogar Monate oder Jahre kursiert haben, ehe sie entdeckt wurde. Einer breiten Öffentlichkeit wurde sie durch Tuppert (2026) bekannt, einen Blogartikel, der am 2. Juli erschien. Die Weltgesundheitsorganisation sprach Mitte August 2026 erstmals von einer Pandemie, ab September galt in den meisten Staaten der Ausnahmezustand. Davies (2029) geht davon aus, dass es bereits in den Vormonaten hunderte, womöglich sogar tausende durch die App verursachte Todesfälle auf der ganzen Welt gegeben hatte. Er zählt insgesamt 437 Vorfälle auf, die er in gänzlich unwissenschaftlichem Duktus als „Vorahnungen“ bezeichnet. Einige dieser Vorfälle sollen im Folgenden angerissen werden.

Im Dezember 2025 kam es im Großraum Bogotá zu einer Reihe von Suiziden, die laut Berns (2029) im Zusammenhang mit der App stehen könnten. Demnach nahmen sich zwischen 2. und 19. Dezember 23 Mädchen und junge Frauen das Leben. Medien nahmen die Häufung zum Anlass, nach Verbindungen zwischen den Toten zu suchen. Dabei stellte sich heraus, dass die Opfer über verschiedene soziale Netzwerke miteinander in Kontakt gestanden hatten, allerdings ohne dass sich alle gekannt hätten. Im Verlauf der Recherchen konzentrierte sich die örtliche Presse auf die Theorie, die Frauen seien durch massenhaftes Cyber-Bullying in den Tod getrieben worden. Berns (2029) hält diesen Schluss für voreilig: „Es ist durchaus plausibel, dass die 23 toten Frauen von Bogotá unter den ersten Todesopfern der App sind.“ Die Beweislage ist jedoch, wie Cocteau (2030) bemerkt, „mehr als dürftig“. Berns führt lediglich einen Zeitungsartikel an, in dem erwähnt wird, dass bei allen Leichen Mobiltelefone gefunden wurden.

Im Februar 2026 erschoss der Gymnasiallehrer Frank Z. im bayerischen Regensburg fünfzehn Schüler, zwei Lehrer und sich selbst. Z.s Frau berichtete in ihrer Aussage von einer dramatischen Persönlichkeitsveränderung, die ihr Mann in den Monaten vor der Tat durchlaufen habe. Demnach habe sich Z. – 47 Jahre alt, Lehrer für Altgriechisch und Geschichte – von einem lethargischen, unorganisierten Menschen zu einem „Pedanten“ entwickelt. Z.s Witwe berichtete, dass er praktisch nicht mehr schlief und ganze Nächte mit dem Ordnen alter Arbeitsunterlagen, des Geschirrs und schließlich seiner Wäsche verbrachte. Weiterhin erzählte die Witwe, dass Z. in den Monaten vor seinem Tod seinen kompletten Alltag mithilfe einer Organizer-App strukturiert habe. (Der Organizer ist nach Bauer et al. (2029) einer der frühesten und weitverbreitetsten Varianten der App.) Bei der Kontrolle seines Smartphones fanden Ermittler in dem Organizer eine vollständige Liste seiner Opfer. Die ermittelnden Behörden sprachen von einem „erweiterten Suizid“ und sahen die Ursache für Z.s Amoklauf in einer unbehandelten manisch-depressiven Persönlichkeitsstörung (Li 2026).

Wenige Tage später, ebenfalls im Februar, entgleiste in Tokio ein Schnellzug mit 527 Passagieren. Die acht Waggons und die Lok stürzten von einer Hochbrücke im Stadtzentrum und fielen teils auf eine Straße, teils auf Lagerhallen. Sämtliche Insassen – neben den Passagieren 17 Beschäftigte des Zugunternehmens – kamen ums Leben; am Boden starben weitere 19 Menschen. Die Unglücksursache blieb wochenlang unklar. Die Regierung sprach schließlich von „menschlichem Versagen“, ohne genauere Angaben zu machen. Horowitz (2031) zitiert aus einem geheimen Bericht, wonach auf einer von drei Black Boxes des Zuges Kameraaufnahmen entdeckt wurden, die zeigten, dass ein Zugführer seinen Kollegen überwältigt und anschließend vorsätzlich die Entgleisung herbeigeführt habe. Auffällig sei, dass der Mann in den Minuten vor der Katastrophe permanent auf sein Smartphone starrte. Das Telefon wurde nicht gefunden.

Am 22. Februar 2026 wurde in London ein 23-jähriger Krankenpfleger festgenommen, nachdem er innerhalb einer Nacht 47 Patienten mittels letaler Injektionen getötet hatte. Der Pfleger beteuerte, er könne sich an nichts erinnern (Bartels 2026). Mehrere psychiatrische Gutachter stuften seine Aussage als glaubhaft ein. Der 23-Jährige hatte bei seinem Vater, einem 59-jährigen freiberuflichen Entwickler, gewohnt. Dieser galt in den Tagen nach dem Massenmord zunächst als vermisst. Am Morgen des 28. Februar wurde seine Leiche schließlich in einem Kanal in Innsmouth entdeckt. In einer Art Abschiedsbrief erwähnte der Vater eine App, die seinen Sohn „verrückt gemacht“ habe – ein Schicksal, dem er selbst durch Suizid entgehen werde (ibd.). Der Brief sorgte für einiges Aufsehen, in der Öffentlichkeit hieß es fortan, Vater und Sohn hätten unter Paranoia gelitten und die Tat möglicherweise gemeinsam geplant (Cazzuro et al. 2026). Der Massenmord löste eine Staatsaffäre aus, in deren Verlauf der britische Gesundheitsminister am 11. März zurücktrat. Der Prozess gegen den Pfleger sollte im Frühjahr beginnen, aufgrund der weltweiten Entwicklungen kam es dazu nicht. Das Schicksal des Mannes ist unbekannt.

Am 7. April stürzte sich der Vorstandsvorsitzende des Telekommunikationsunternehmens TelStar, Vladislav P., vom Dach des Firmensitzes in Warschau. Sein Sekretär sagte später aus, er habe P.s Mobiltelefon auf dem Fensterbrett gefunden. Der Bildschirm habe rasch wechselnde Farbmuster gezeigt (Bradley 2031). Die ermittelnden Polizisten konnten keinen Beleg für diese Beobachtung finden. Dennoch schlossen sie im Abschlussbericht nicht aus, dass P. einen Anfall erlitten und aus dem Fenster gestürzt sein könnte (ibd.).

Diese Beispiele sollen reichen. Davies (2029) zählt, wie bereits erwähnt, 437 Vorfälle zwischen Dezember 2025 und August 2026 auf, bei denen eine Verbindung zur App möglich scheint. Bemerkenswert ist, dass – trotz dieser Häufung – erst im Sommer 2026 entsprechende Theorien in der Öffentlichkeit kursieren. Davies (2029): „Im Nachhinein betrachtet muss der Zeitpunkt, an dem das Problem öffentlich benannt wurde, als erstaunlich spät betrachtet werden. Hinweise auf einen bio-digitalen Virus lagen seit Wochen, möglicherweise seit Monaten, vor.“

Maßgeblich für die öffentliche Benennung der App ist ein Gastbeitrag des neuseeländischen Virologen G. Bernhard Tuppert in der New York Times vom 2. Juli (Tuppert 2026). Zu diesem Zeitpunkt war die App nur in ihrem frühesten Phänotyp – als Organizer – bekannt. In Tupperts Text taucht erstmals der Begriff des „biodigitalen Virus“ auf. Er zieht an mehreren Stellen Vergleiche zu den Pestepidemien des 14. Jahrhunderts und warnt eindringlich davor, die Gefahr durch einen biodigitalen Virus zu verkennen: „Ein Computervirus, der sich mit rasender Geschwindigkeit verbreitet und die menschliche Psyche in verheerender Weise schädigt, muss schnell und konsequent bekämpft werden. Im Extremfall hätte er das Potenzial, das digitale Zeitalter zu beenden – und vielleicht sogar das menschliche.“ Tuppert betont ausdrücklich den Faktor Covid-19: “Die Corona-Pandemie der frühen 20erjahre hatte die Menschen gelehrt, Abstand voneinander zu halten und möglichst häufig auf digitale Kommunikationslösungen zu vertrauen. Eben das stellte sich jetzt als verhängnisvoll heraus: Denn so verbreitete sich die zweite große Pandemie des frühen 21. Jahrhunderts.”

Die Reaktionen auf Tupperts Text waren gemischt (Coller 2029). Während einige Ärzte sich seiner Meinung anschlossen, lehnte die Mehrheit der Mediziner die Thesen des Virologen ab. Im Zentrum der Kritik stand dabei, wie Coller (ibd.) ausführlich erläutert, Tupperts Idee eines biodigitalen Virus, der mit klassischer Schulmedizin nicht vereinbar sei. Entsprechende Argumente finden sich zum Beispiel bei Laurent et al. (2026), Collins (2026) und Vaharasi (2026).

Im Sommer 2026 eskalierte die Situation binnen weniger Wochen. Am 19. Juli kam es zunächst weltweit zu versetzten, stundenlangen Ausfällen des world wide web, deren Ursachen unklar sind. Die Ausfälle begannen am 19. Juli, 11.28 Uhr New Yorker Zeit, und endeten am 20. Juli, 3.48 Uhr New Yorker Zeit. In diesem Zeitraum waren weite Teile des world wide web stundenlang nicht erreichbar. Um 3.48 Uhr schließlich war, wie Esterhazy (2026) bemerkt, „alles wieder beim Alten. Eine einzelne, zeitlich begrenzte Episode, die die Grenzen des weltweiten digitalen Netzes aufgezeigt hat.“

Von diesem Zeitpunkt an verbreitete sich die App in ihren verschiedenen Versionen wie ein Lauffeuer. Ab 23. Juli sprachen schließlich auch die Regierungen der NATO-Staaten von einer „unspezifischen, akuten Bedrohungslage“. Anlass hierfür war die Massenpanik von Berlin am 22. Juli 2026, bei der Schätzungen zufolge bis zu 30.000 Menschen ums Leben kamen.

2. Pandemie: September 2026 – Juli 2027

Anfang Dezember beschlossen die NATO-Staaten, das world wide web zu zerstören. Binnen 48 Stunden wurden Serverzentren auf allen Kontinenten, hunderte Datenleitungen und Satelliten zerstört. Laut Bensky (2030) war das world wide web am 14. Dezember 2026 „in mehrere Netze aufgesplittet, die untereinander nur noch sporadisch kommunizierten“. Entgegen den mutmaßlichen Absichten der NATO-Mitglieder gelang es aber nicht, das weltweite Netz völlig abzuschalten. Laut Christensen (2032) entstanden „hunderte, wenn nicht tausende regionale Netze“, die zahlreiche Versionen der App enthielten. Die NATO-Staaten verboten am 11. Dezember 2026 mit sofortiger Wirkung jede Verbindung zum world wide web – aber erfolglos: Roquin (2031) geht davon aus, dass „praktisch niemand“ dieser Anweisung Folge leistete: „Die Informationspolitik der NATO war so schlecht, die Lage so undurchschaubar, dass viele Menschen angesichts dieses Verbots erst recht im Netz nach Antworten suchten.“

Im Winter 2026/2027 entstanden mehrere der maßgeblichen Varianten der App (siehe Bauer et al. (2029), Herioz (2030)), darunter ein Chatprogramm und eine Kartensoftware.

3. Eindämmung: Juli 2027 – August 2030

Die Zahl der Toten, die unmittelbar mit der App in Verbindung gebracht werden können, schießt ab Sommer 2027 drastisch in die Höhe (Cortez 2031). Schmidt (2028) unterteilt den Verlauf der folgenden Monate nach den maßgeblichen Todesursachen: (1) die sprunghaft ansteigende Zahl der Massensuizide in den Industrienationen; (2) der schnelle Zerfall der öffentlichen Ordnung und die Ausrufung zahlreicher autonomer Zonen in Nord- und Südamerika, Zentralafrika, Europa, Russland und Ostasien; und schließlich (3) der Einsatz von ABC-Waffen die gegen Zivilbevölkerung auf allen Kontinenten.

4. Gegenwärtige Situation

Seit dem 5. August 2030 gilt die App offiziell als vernichtet.

Sämtliche mobilfunktauglichen Geräte sind verboten; auf ihren Besitz steht die Todesstrafe. Außerhalb der Zone gibt es keinerlei staatliche Strukturen mehr. Die Überlebenden der ABC-Angriffe leben als Nomaden in den Ruinen der Großstädte. Die Computer der Zone werden ausschließlich von den Mitgliedern der Militärregierung genutzt und permanent kontrolliert. Das world wide web ist zerstört. Die private Kommunikation ist auf streng reglementierte postalische Mitteilungen reduziert. Diese Entscheidungen der Militärregierung scheinen Früchte zu tragen: In den vergangenen Monaten ist es in der Zone zu keinen größeren Zwischenfällen gekommen.

Konservativen Schätzungen zufolge sind bis zu drei Milliarden Menschen getötet worden; manche Autoren beziffern die Zahl der Toten mit bis zu vier Milliarden (Berlioz 2033). Außer Frage steht, dass in den kommenden Monaten und Jahren viele Menschen an den Folgen der weltweiten Zivilisationskrise sterben werden. Lebensmittel sind knapp. Große Teile Europas, Asien und der Amerikas sind bis auf weiteres unbewohnbar.

5. Quellen
[geschwärzt]

Dieser Aufsatz wurde vom Obersten Zensor der Freien Zone geprüft und nicht freigegeben.
Anmerkung: Verw. a. Zachary (2031) u. „Akt des Terrorismus“ i. z. streichen. Unnötig detailliert i. d. Beschreibung d. Eindämmungsmaßnahmen.
Empfehle Isolation des Autors.

 

Heheh, sehr gut.
Hey @Christophe ,

lang nix mehr gehört. Umso schöner, dich hier mal wieder begrüßen zu dürfen. Eine Dystopie formuliert als wissenschaftliches Gutachten mit kleiner Randnotiz des Obersten ;) Du ziehst das konsequent durch und der Stil ist glaubhaft. Dafür hast du meine Anerkennung. Eine inhaltliche Analogie hab ich zu Unendlicher Spaß von David Foster Wallace gesehen, der dort ja auch in Strecken mit Fußnoten und dergleichen arbeitet; ist aber auch schon etwas anderes, finde ich. Also wie gesagt, allein dafür, das authentisch hinzukriegen und nicht den soundsovielten lamen Sci-Fi-Anlauf, der möglichst zeitgemäß klingen soll, rauszuhauen, finde ich respektabel. Insofern gut gemacht!
Jetzt aber endlich mal ein bisschen Kritik :D Ich finde dieser wissenschaftliche Stil ist Segen, aber auch etwas Beinbruch der Story. Es liest sich nämlich jenseits der endzeitlichen Vision für mich auch nicht viel spannender als ein wissenschaftlicher Artikel. Als Experiment spannend, ja, aber wirklich schwer konsumierbar, was jetzt kein Ausschlusskriterium ist. Da würde ich zu meinem zweiten Punkt kommen: ein Problem der Story für mich beim Lesen ist, dass ich bereits nach dem ersten Absatz ziemlich genau weiß, wohin diese Geschichte steuert und was mich jetzt erstmal noch auf den nächsten zwei Dritteln erwartet, bis ich auf eine spannende Auflösung hoffen kann (die dir, finde ich, gelingt). Das ist jetzt kein grundsätzlich neues Phänomen bei SciFi (übrigens glaube ich, dass die Story was für @Katla sein könnte), aber es ist, für mich zumindest, trotzdem ein Problem. Manchmal wird das dadurch gelöst, dass man erst Stück um Stück merkt, dass etwas nicht stimmt; es eben nicht gleich zu Anfang schon präsentiert bekommt.

Bauer et al. (2029)

da dachte ich mir, ich hätte auch einen weniger normalen Nachnamen zum Anfang genommen. Damit es nicht so nach Fiktion aussieht, so wie in einem Krimi, wo der Agent Mr. Smith oder das Opfer Frau Müller heißt.

Horowitz (2031)

Warum variieren die Verfasser dieser Studien so oft? Meist ist es doch so, dass man sehr oft und sehr Verschiedenes aus Grundlagenwerken oder -artikeln heranziehen kann.

2. Pandemie: September 2026 – Juli 2027 Anfang Dezember

Hier habe ich mich kurz gefragt, ob du das anders lösen könntest, weil die Überschrift auf den September lautet, es dann aber Anfang Dezember losgeht und die Zwischenzeit gar nicht in irgendeiner Weise Erwähnung findet.

auf ihren Besitz steht die Todesstrafe.

Das fand ich drüber. Vielleicht, weil ich den letzten Absatz, den Hinweis des Obersten, noch nicht gelesen hatte, mir also der Kontext fehlte. Vielleicht könntest du das mit 'Hochverrat' oder dergleichen etwas aushebeln.

Dieser Aufsatz wurde vom Obersten Zensor der Freien Zone geprüft und nicht freigegeben.
Empfehle Isolation des Autors.

heheh. Sehr gut. Schön pointiert.

Für und Wider habe ich bereits zu Anfang besprochen. Schön, dich hier mal wieder (gern) zu lesen.
Viele Grüße
Carlo

 

Hallo @Christophe ,

das ist mal ein kreatives Stück SciFi. Ziemlich dystophisch aber gut.

Ich finde die Grundidee wirklich gelungen: Eine App, die Menschen in Amokläufe und Suizide treibt, so weit verbreitet, dass es das Ende unserer bisherigen Gesellschaft bedeutet.

Wie @Carlo Zwei sehe ich aber die kreative Idee, das Ganze als wissenschaftliche Abhandlung zu formulieren, gleichzeitig als Hemmschuh. Die - mit dem wissenschaftlichen Sprachestil verbundene - Distanz lässt es kaum zu, wirklich in die Geschichte einzutauchen. Das würde vermutlich nur funktionieren, wenn Du das nur als Rahmengeschichte nutzt und dazwischen Kapitel einstreust, in denen direkter erzählt wird. Ob das funktionieren könnte, weiß ich allerdings nicht.

Drei Probleme fallen mir darüber hinaus auf:

* Ob eine "wissenschaftliche Community" in der Post-App-Gesellschaft existieren kann, wirkt fraglich und widersprüchlich.

* Die App bleibt - trotz der spannenden Einzelheiten - ungreifbar und in ihrer Wucht nicht verstehbar.

* Die Entwicklungen werden zu sehr angedeutet, bleiben aber ebenfalls weitgehend ungreifbar. (Militär-Regierung, Zone, etc).

Seit dem 5. August 2030 gilt die App offiziell als vernichtet. Sämtliche mobilfunktauglichen Geräte sind verboten; auf ihren Besitz steht die Todesstrafe. Außerhalb der Zone gibt es keinerlei staatliche Strukturen mehr. Die Überlebenden der ABC-Angriffe leben als Nomaden in den Ruinen der Großstädte. Die Computer der Zone werden ausschließlich von den Mitgliedern der Militärregierung genutzt und permanent kontrolliert. Das world wide web ist zerstört. Die private Kommunikation ist auf streng reglementierte postalische Mitteilungen reduziert. Diese Entscheidungen der Militärregierung scheinen Früchte zu tragen: In den vergangenen Monaten ist es in der Zone zu keinen größeren Zwischenfällen gekommen.

Trotzdem zeichnest Du ein faszinierendes Bild (vor allem am Schluss) und ich habe die Geschichte gerne gelesen.

Herzliche Grüße,
Gerald

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi @Carlo Zwei,

vielen Dank für Deinen Kommentar - und danke fürs Wieder-Begrüßen!

Du hast recht, ich habe zuletzt einige postmoderne Leute gelesen - darunter Wallace - und deren metafiktive Spielereien haben mich natürlich inspiriert. (Wobei dieser kleine Text hier natürlich nicht die Tiefe hat, die man bei Wallace oder Danielewski oder anderen findet; ich wollte einfach nur Spaß haben ;-) ).

Ich finde dieser wissenschaftliche Stil ist Segen, aber auch etwas Beinbruch der Story. Es liest sich nämlich jenseits der endzeitlichen Vision für mich auch nicht viel spannender als ein wissenschaftlicher Artikel.

Das ist völlig richtig, die Sorge hatte ich auch. Der Text ist ja, im ganz harten Sinn, nicht einmal eine Kurzgeschichte. Der Protagonist ist fast nicht vorhanden, es findet im strengen Sinn keine Entwicklung statt, Handlungszeit und -ort sind sehr, sehr vage usw. usf. Darüber habe ich lange nachgedacht. Fantastisch und fiktiv ist es schon, aber eben ... eigentlich keine Kurzgeschichte. Was dann? Ein fantastischer Aufsatz? So wie z.B. Borges sie geschrieben hat? Aber was sind die genau? Ich gebe dir völlig recht, dass es auch keine richtige Spannungskurve gibt. Trotzdem mag ich die Idee eines wissenschaftlichen Aufsatzes, der uns - mit aller wissenschaftlichen Pedanterie - ein völlig absurdes und apokalyptisches Ereignis vorführt. Vielleicht ist das die Lösung, oder ein Ansatz für eine Lösung: Dieser Text funktioniert nur als Spielerei mit anderen Texten. Der Leser / die Leserin muss klassische Kurzgeschichten kennen, um zu sehen: Hier liegt zwar ein mehr oder weniger typischer Inhalt für eine Sci-Fi-Story vor, aber das Format ist total schräg. Und gleichzeitig muss der Leser / die Leserin auch wissenschaftliche Texte kennen, um zu sehen: Dieser Text hat zwar die Form eines wissenschaftlichen Textes, aber einen völlig absurden und fantastischen Inhalt. Mit anderen Worten: Der Text funktioniert nur als spielerische Reflexion anderer Textformen. Für sich alleine kann er nicht stehen.

Ein Experiment also? Ja, das würde ich unterschreiben.

Vielen Dank für deinen Kommentar!

Viele Grüße
Christophe

 
Zuletzt bearbeitet:

Der Protagonist ist fast nicht vorhanden, es findet im strengen Sinn keine Entwicklung statt, Handlungszeit und -ort sind sehr, sehr vage usw. usf. Darüber habe ich lange nachgedacht. Fantastisch und fiktiv ist es schon, aber eben ... eigentlich keine Kurzgeschichte. Was dann? Ein fantastischer Aufsatz? So wie z.B. Borges sie geschrieben hat? Aber was sind die genau?
Ein Experiment also? Ja, das würde ich unterschreiben.

Ja, auf jeden Fall Experiment, letztlich ja wirklich so eine Metafiktion. Für mich besteht aber auch kein Problem, das als Kurzgeschichte einzuordnen, ist hier irgendwie auch gar nicht wichtig, finde ich. Es funktioniert ja. Das ist ja das Spannende. Bloß denke ich, dass die Kombination aus diesem recht spröden Wissenschaftsstil und dem Umstand, dass man sehr wesentliche Infos schon sehr früh und chronologisch erhält, problematisch. Deswegen trifft man vielleicht auch häufiger solche Logbucheinträge an oder abgerissene Tagebücher (was ja schon ein Sci-Fi-Klischee ist irgendwie, oder?) – weil man dort eben Infos Stück für Stück preisgeben kann. Ich glaube bei Wallace funktioniert es für mich, weil es stellenweise so unfassbar verklausuliert ist, ich also in so ungeheure und eigentümliche Logiken hineingezogen werde, das ich Hören und Sehen und Handlung vergesse. Aber das muss deine Story überhaupt nicht leisten, finde ich. Die funktioniert irgendwie anders. Ich denke, eine gute Stellschraube könnte wirklich die Infovergabe zu Anfang sein. Die ersten zwei Absätze.

LG

 

Hallo @C. Gerald Gerdsen,

vielen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar!

Wie @Carlo Zwei sehe ich aber die kreative Idee, das Ganze als wissenschaftliche Abhandlung zu formulieren, gleichzeitig als Hemmschuh. Die - mit dem wissenschaftlichen Sprachestil verbundene - Distanz lässt es kaum zu, wirklich in die Geschichte einzutauchen. Das würde vermutlich nur funktionieren, wenn Du das nur als Rahmengeschichte nutzt und dazwischen Kapitel einstreust, in denen direkter erzählt wird. Ob das funktionieren könnte, weiß ich allerdings nicht.

Interessante Idee! Und - siehe oben - guter Einwand. Ich teile ihn, werde die Story aber trotzdem nicht ändern: Der Reiz, den sie für mich hat, liegt eben in diesem starken Kontrast zwischen dem staubtrockenen, wissenschaftlichen Format und dem absurden, apokalyptischen Inhalt. Klar könnte man die Geschichte der App, die den Weltuntergang verursacht, auch klassisch erzählen - und da steckt ganz sicher sehr viel drin. Mein Ansatz hier war aber eben das Spiel mit Format und Inhalt.

Drei Probleme fallen mir darüber hinaus auf:

* Ob eine "wissenschaftliche Community" in der Post-App-Gesellschaft existieren kann, wirkt fraglich und widersprüchlich.

* Die App bleibt - trotz der spannenden Einzelheiten - ungreifbar und in ihrer Wucht nicht verstehbar.

* Die Entwicklungen werden zu sehr angedeutet, bleiben aber ebenfalls weitgehend ungreifbar. (Militär-Regierung, Zone, etc).


Ad 1: Da hast du natürlich recht. Unvorstellbar finde ich es aber nicht.

Ad 2: Völlig richtig - und auch beabsichtigt. Es wird ja auch von verschiedenen "Phänotypen" der App usw. gesprochen. Das ist absichtlich vage gehalten.

Ad 3: Ja, für eine Hard Sci-Fi würde man das sicher ausbuchstabieren. Hier wollte ich es bei dem kleinen, zusammenfassenden Aufsatz eines Archivars belassen - eine Übersicht vielleicht, die er (oder sie) für die Kommandierenden geschrieben hat?

Vielen Dank für deine klugen Anmerkungen!

Viele Grüße

Christophe

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Carlo Zwei lieben Dank fürs Taggen, und hallo @Christophe - willkommen zurück, wie schön, dass du hier wieder aktiv wirst, ich hab dich schon vermisst! :)

Ganz generell finde ich das wunderbar, so ein Bericht wäre vielleicht ein moderner Briefroman. Mich hat die Form allerdings massiv vom Inhalt abgelenkt - nicht, weil es ein Bericht ist, sondern, weil es ein Kompromiss zwischen einem unterhaltsamen Prosafließtext und einer wisschenschaftlichen Arbeit ist. Und das finde ich zumindest konterproduktiv. Genial wäre, wenn du die Form der wisschenschaftlichen Arbeit durchziehen würdest, anstatt nur anzudeuten und wieder mit Prosa zu brechen.

Es gibt zahlreiche Theorien über den Ursprung der App. Hier seien nur die wichtigsten genannt. Im Rapport der Weltgesundheitsorganisation ist von einem neuartigen „bio-digitalen Virus pandemischer Dimension“ die Rede, dessen Ursprung unklar sei.
Wär vllt. gar nicht schlecht, das Application auszuschreiben (oder - ich hab keinen Plan von technischen Texten - wird das in Fachtexten auch abgekürzt?). Oder dann so Application, im Folgenden App genannt. Klar klingt das wie Stock verschluckt, aber das gäbe so ein richtiges Beamtenfeeling.
Ein Zitat brauchte auf jeden Fall eine Quelle direkt dahinter [so]. Zumal du im Fließtext so oft Quellen hast. Richtig spaßig wäre jetzt, wenn du die Quellen mit Fake-Titeln & Angaben, Fußnoten und allem gesetzt hättest, sodass man immer wieder springen müsste und dann einige Jokes nur in den Anmerkungen findet ... Vielleicht verlierst du natürlich dann Leser, schwer zu sagen. Ich finde es in dieser Halbform nur bissl unglaubwürdig und damit steht und fällt ja die Geschichte. das hätte ich mir mutiger gewünscht.

Mit 0. anzufangen halte ich auch für fragwürdig (ich mag mich irren) - wie wärs, da nerdiger ranzugehen, mit Unterzahlen:
1.
1.1.
1.2.
Oder noch verzweigter ... :baddevil:

Es gab „keine Sensibilität für eine solche Bedrohung“ (ibd.)
Da es ein deutschsprachiger Text ist, würdest du auch konventionellerweise ebd. nehmen. Als lateinische kenne ich nur ibid., aber der Duden gibt komischerweise dein ibd. an, was ich bis gerade eben für einen falschen Bastard hielt.

5. Quellen
[geschwärzt] Dieser Aufsatz wurde vom Obersten Zensor der Freien Zone geprüft und nicht freigegeben.
Anmerkung: Verw. a. Zachary (2031) u. „Akt des Terrorismus“ i. z. streichen. Unnötig detailliert i. d. Beschreibung d. Eindämmungsmaßnahmen.
Empfehle Isolation des Autors.
Könnte ich mir sogar noch knackiger vorstellen. Ansonsten: Absolut cooler Abschluss. :lol::D
(Möglich auch: entpersönlicht im Plural Wir empfehlen die Isolation des Autors.)

20erjahre
Zwanzigerjahre


Die beiden Punkte sehe ich auch so wie Gerald - vieles Unpräzise hätte ich in einem Dialog gar nicht so empfunden, aber deine Form sollte das nicht zulassen. Gleiches Problem hatte ich nicht nur mit zu flapsigen / ungenauen Aussagen bzw. Begriffen, sondern auch mit persönlichen Wertungen, die für die wissenschaftliche Form zu glossenhaft sind.

* Die App bleibt - trotz der spannenden Einzelheiten - ungreifbar und in ihrer Wucht nicht verstehbar.
* Die Entwicklungen werden zu sehr angedeutet, bleiben aber ebenfalls weitgehend ungreifbar. (Militär-Regierung, Zone, etc).

Fazit: Schöner Entwurf, der eine konsequente Umsetzung verdient hätte.
Ob es nun Pandemie + App sein muss, hm. Ich mag SF besonders dann, wenn nicht aus Bestehendem ein unterhaltsames Potpourri gemixt wird, sondern etwas tatsächlich Neues geschaffen wird. Gerade bei so einem scope wie hier.
Wenn ich das richtig verstehe, geht es ja um diese Virus + Virus-Sache, und das ist doch schon recht ausgefahren. Korrigiere mich gern, falls ich was übersehe.

Ich hoffe, das klingt nicht zu negativ, und ich hab ganz sicher schon mal genölt, dass du mit deinem Stil die Latte etwas höher halten und komplexere Erzählungen schaffen könntest. Deine Texte machen auf mich immer den Eindruck, dass du massiv unter deinen Möglichkeiten bleibst. Ist doch schade. ;)

Ganz liebe Grüße und weiterhin viel Erfolg,
Katla

 

Hallo @Christophe :-)

schön, etwas von dir zu lesen!

Der folgende Kommentar ist viel zu kritisch. Ich schreibe das nicht als Vorwarnung, denke aber, dass die Zahl der Anmerkungen einen Umstand überdecken könnte: Der Text funktioniert. Ich habe ihn gerne lesen, es passt. Für mich wirkt der Text aus einem langen Thriller entnommen. Bogota, Berlin, Tokyo, die Katastrophen sind geschildert und passiert; jetzt eröffnet der Autor einen neuen Erzählstrang und fasst die Ereignisse der letzten zweihundert, dreihundert Seiten zusammen. Die Zitierweise suggeriert einen (populär-)wissenschaftliche Anspruch, der Authenzität erzeugen soll; einen ähnlichen Effekt üben zum Beispiel Nachrichtensendungen in Katastrophenfilmen aus. Ist es eine wissenschaftliche Arbeit oder soll es mehr eine Art Abstract, ein Konferenzpapier sein? Ich weiß es nicht. Für Forschung zu narrativ, für Narration zu empirisch, eher eine Art "gehobene populärwissenschaftliche Literatur". Als würde ein Professor für Spektrum Online schreiben, der aber im Verfassen für Texte an ein breiteres Publikum ungeübt ist; jede Information per Zitat belegt, gelegentliche narrative Elemente dienen als Gerüst des Informationsgehalts.

Meiner Ansicht löst sich die Erzählperspektive durch die suggerierte Wissenschaftlichkeit nicht auf. Es gibt einen Erzähler, der Schreiber dieses Textes, der über diesen Text eigentlich nicht charakterisiert werden kann - er bleibt ja rein sachlich. Erst die letzten vier Zeilen erwähnen ihn, lassen eine literarische Figur konstruieren. Deswegen auch der Eindruck, der Text könne einem größeren Kontext entstammen: Ein Wissenschaftler tritt auf, der mit diesem Text eine Intention verfolgt. Will er nur informieren? Oder will er eine Realität festschreiben, die bestimmte Informationen enthält und bestimmte eben nicht? Welche Interessen verfolgt der Schreiber?

In der Kürze bleibt der Text ein sachlicher, es ist ein Sachtext. Jetzt fühle ich mich wie ein doofes Kind. Eines dieser doofen, klugsch**** Kinder, die angeblich alles besser wissen und mit alles ist auch alles gemeint. Das will ich nicht! Ich will nicht so sein! Jedoch glänzt dein Text durch Wissenschaftlichkeit und dadurch schließe ich auch auf eine gründliche, präzise Arbeitsweise des Schreibers (nicht dich als Autor, sondern der Schreiber des Sachtextes in der Geschichte) weswegen dein Text sachlich korrekt sein muss.

Auf dieser Sachebene habe ich reine Anmerkungen, Auffälligkeiten - mehr nicht. Ich bin kein Experte.

Althusser (2030) versucht, diese These mit einem mathematischen Modell nachzuprüfen, ob es ihm gelingt, ist umstritten (Calia et al. 2031).
Hier könntest du präziser sein: Konnektionistisches Modell zB (ich habe davon keine Ahnung, aber dass der Schreiber deines Textes "mathematisch" erwähnt, erschien mir profan)
Am 22. Februar 2026 wurde in London ein 23-jähriger Krankenpfleger festgenommen, nachdem er innerhalb einer Nacht 47 Patienten mittels letaler Injektionen getötet hatte.
Das ist eine sehr hohe Zahl. Ich denke jetzt mal an ein Pflegeheim: Standardmäßig 30 Leute auf dem Wohnbereich, eine Nachtwache pro Wohnbereich. Letale Injektionen? Hm, da hätte so ein Pflegeheim in der Menge nichts vorrätig. Höchstens massiv Insulin geben ... Im Krankenhaus wiederum wird er nicht alleine sein. Außerdem: Wenn er hier einen nach den anderen tötet ... irgendwann wird die Kollegin ihn ja rufen zwecks Herzdruckmassage ... na ich weiß nicht, mir kam die Zahl sehr hoch vor, ungewöhnlich hoch.
Anlass hierfür war die Massenpanik von Berlin am 22. Juli 2026, bei der Schätzungen zufolge bis zu 30.000 Menschen ums Leben kamen.
Auch hier. Ja, dadurch entsteht natürlich ein gewisser Abnutzungseffekt zwischen den Katastrophen.
unbehandelten manisch-depressiven Persönlichkeitsstörung
Existiert nicht.
Wenige Tage später, ebenfalls im Februar, entgleiste in Tokio ein Schnellzug mit 527 Passagieren. Die acht Waggons und die Lok stürzten von einer Hochbrücke im Stadtzentrum und fielen teils auf eine Straße, teils auf Lagerhallen. [...]
Das ist kein Eisenbahnunglück, sondern ein Flugzeugunglück auf Eisenbahngleisen. Ist es realistisch, dass alle sterben? Der Zug wird ja im Stadtzentrum langsam einfahren oder ausfahren.
Die Unglücksursache blieb wochenlang unklar. Die Regierung sprach schließlich von „menschlichem Versagen“, ohne genauere Angaben zu machen. Horowitz (2031) zitiert aus einem geheimen Bericht, wonach auf einer von drei Black Boxes des Zuges Kameraaufnahmen entdeckt wurden, die zeigten, dass ein Zugführer seinen Kollegen überwältigt und anschließend vorsätzlich die Entgleisung herbeigeführt habe. Auffällig sei, dass der Mann in den Minuten vor der Katastrophe permanent auf sein Smartphone starrte. Das Telefon wurde nicht gefunden.
Oh man, ich fühle mich jetzt wirklich ein wenig schlecht. Aber das Authentische deines Texts entsteht ja auch dadurch, dass die geschilderten Abläufe realitätsnah sein sollen.

Ein Zug dieser Art kann eigentlich nur vorsätzlich entgleisen, wenn der Zugführer beschleunigt, die Bahn aus der Schiene bricht und das Zugsicherungssystem - das den Bremsweg kontrolliert - ausgeschaltet ist (warum auch immer). Letzteres geschah zB in Santiago de Compostela oder in Bad Aibling. Jetzt erfolgt aber die Abschaltung der Sifa, LZB oder ETCS etc. eben nicht durch den diensthabenden Triebfahrzeugführer sondern durch die Leitstelle und die wird das bei einem Hochgeschwindigkeitszug dieser Bauart auch tunlichst unterlassen. Anders gesagt: Anders als bei einem Flugzeug kann ein Lokführer nicht einfach einen Zug in den Abgrund führen - schon gar nicht einen Hochgeschwindigkeitszug dieser Bauart und schon gar nicht auf einer Hochbrücke. Der Zug wird im Stadtzentrum von Tokio nicht 350 km/h fahren (ist eine Hochbrücke dort realistisch?) sondern in einen Bahnhof ein- oder ausfahren. Das wiederum bedeutet: Wenn der Zug wirklich von der Brücke fallen sollte (warum auch immer), ist die Geschwindigkeit gering und die Fallhöhe ebenso, deswegen werden nicht alle Passagiere sterben (behaupte ich jetzt ganz frei).

Er zieht an mehreren Stellen Vergleiche zu den Pestepidemien des 14. Jahrhunderts und warnt eindringlich davor, die Gefahr durch einen biodigitalen Virus zu verkennen
Warum zitiert er nicht die Covid-19-Pandemie? Sie läge zeitlich näher. Später erwähnst du ja die Covid-19-Pandemie. Aber das ist ein kleiner Punkt.
Im Zentrum der Kritik stand dabei, wie Coller (ibd.) ausführlich erläutert, Tupperts Idee eines biodigitalen Virus, der mit klassischer Schulmedizin nicht vereinbar sei. Entsprechende Argumente finden sich zum Beispiel bei Laurent et al. (2026), Collins (2026) und Vaharasi (2026).
Hier könntest du präziser sein, meiner Ansicht nach. Warum ist ein Virus nicht vereinbar? Gab es dagegen aus der psychiatrischen oder neuropsychologischen Richtung durchaus Zustimmung? Dein biodigitales Virus ist ja eher ein neurodigitales - es verursacht ein bestimmtes Verhalten und das von dir geschilderte gehört in den Formenkreis der Klinischen und Forensischen Psychiatrie.
Anfang Dezember beschlossen die NATO-Staaten, das world wide web zu zerstören.
Wir sind alle pandemieerfahren. Warum betonst du gerade die militärische Komponente? Warum nicht das Robert-Koch-Institut, die Bundesregierung, die EU-Mitgliedsstaaten, ein indopazifischer Staatenbund? Warum auch die NATO-Einheit und nicht die nationalstaatliche? Uff, ich stelle tausende Fragen, die vielleicht gar nicht nötig sind.

Dein Text verweist auf eine bestimmte Form von Gefahr, die diffus, unklar und unsichtbar bleibt. Es ist eine Gefahr, in der eine harmlos grüne Hügellandschaft eine harmlos grüne Hügellandschaft bleibt. Die App verändert das Verhalten; es braucht seine Zeit, die App als Ursache zu erkennen. Im Grunde stellt dein Text auch die Ozonloch-Frage: Würde es das Ozonloch geben, wenn es Anfang der 80er Jahre keine Messstation in der Antarktis gegeben hätte? Dann wüsste ja niemand vom Ozonloch. Wie hätte man dann zum Beispiel die erhöhten Hautkrebsraten in Australien und Südargentinien erklärt? Ganz anders, aber auch methodisch solide. Dein Text geht ähnlich vor, Indizien werden zusammengefasst und die App begründet viele Einzelereignisse, erklärt sie. Dann jedoch geht der Text chronologisch auf die Reaktion der NATO über, die, nunja, extrem heftig ausfallen. Hier könntest du meiner Ansicht nach herunterfahren: Der Zerfall der staatlichen Ordnung - vielleicht erstmal Aussetzung der Wahlen? Parlamentarische Entmachtung? Empirische Exekutive? Vielleicht auch: Entmachtung militärischer Gewalt durch digitale-empirische? Unkontrollierbare künstliche Intelligenzen? Oder eine staatenlose Struktur, in der jeder Mensch in sein bestes digitale Umfeld eingebettet bleibt und jeder für sich seinen konstruierten Staat erhält? In der eben die normative Funktion staatlichen Handelns durch eine globale künstliche Intelligenz übernommen wird? Jetzt spinne ich, pardon :-)

Lieber @Christophe - das war's!

Sehr gerne gelesen!

Lg
kiroly

 

Hallo @Katla und @kiroly!

Vielen Dank euch beiden für eure konstruktiven Kommentare - ihr identifiziert ziemlich genau, was für mich bisher noch unklar war. Tatsächlich habe ich den Text aus einer Inspiration heraus geschrieben, aber ohne gründliche Struktur etc., weder das Szenario noch das Format waren wirklich gut durchdacht. Ich schätze, er wird nochmal in die Werkstatt wandern - und bin gespannt darauf, wie er sich verändern wird, gerade aufgrund eurer Anmerkungen!

@Katla

Hello again! Schön, von dir zu lesen! Wie ich sehe, hast du in der Zwischenzeit weiter veröffentlicht - Wahnsinn! (Und dein Interview von neulich habe ich auch mitbekommen - sehr cool! ;-) )

Genial wäre, wenn du die Form der wisschenschaftlichen Arbeit durchziehen würdest, anstatt nur anzudeuten und wieder mit Prosa zu brechen.
Das ist ein interessanter Vorschlag, kommt ja unten nochmal ausführlicher: So richtig mit Abstract und in einer Setzung, die jede Menge Fußnoten erlaubt usw. Das kann ich mir gut vorstellen. Vielleicht könnte man die Meta-Ebene sogar noch eins weitertreiben und den ganzen Text zu einer Rezension/Erwiderung/was-auch-immer auf einen Text (eine Monografie oder so) machen, der wiederum den Weltuntergang-durch-die-App zusammenfasst. Das wäre zumindest formal ziemlich witzig. Und Jokes-in-Fußnoten: Das ist natürlich sehr schön. Danielewski macht das in House of Leaves sehr exzessiv, im Grunde genommen entsteht da etwas wie ein nicht-lineares Leseerlebnis. Eine coole Idee!

Die Anmerkungen zu englischen und lateinischen Schreibweisen und zu den Quellen hinter Zitaten (arrrgh) setze ich um - klar!

Dein gekürztes Ende gefällt mir sehr gut. Das werde ich umsetzen.

"Entwurf" trifft es sicher ganz gut; ich werde den Text nochmal überarbeiten - bin gespannt auf das Ergebnis.

Vielen, vielen Dank fürs Lesen, liebe @Katla - ich versuche mich mal an etwas Komplexerem!

Hallo @kiroly,

auch dir vielen Dank fürs Lesen und fürs ausführliche Kommentieren!

Meiner Ansicht löst sich die Erzählperspektive durch die suggerierte Wissenschaftlichkeit nicht auf. Es gibt einen Erzähler, der Schreiber dieses Textes, der über diesen Text eigentlich nicht charakterisiert werden kann - er bleibt ja rein sachlich. Erst die letzten vier Zeilen erwähnen ihn, lassen eine literarische Figur konstruieren. Deswegen auch der Eindruck, der Text könne einem größeren Kontext entstammen: Ein Wissenschaftler tritt auf, der mit diesem Text eine Intention verfolgt. Will er nur informieren? Oder will er eine Realität festschreiben, die bestimmte Informationen enthält und bestimmte eben nicht? Welche Interessen verfolgt der Schreiber?
Japp, das ist definitiv eine große Schwachstelle. Die kleine Pointe am Ende des Textes funktioniert ja überhaupt nur, weil sie sich (als handschriftliche Anmerkung oder wie auch immer) auf den Text bezieht, ohne Teil des Textes zu sein. Will sagen: Innerhalb dieses Textes lässt sich der Erzähler nur ganz schwer konstruieren, wenn überhaupt. Das bringt dieses pseudo-akademische Format mit sich. Um etwas über den Erzähler zu sagen, muss ich also den Text verlassen. Das wollte ich auf keinen Fall mitten in der Erzählung machen, denn das reißt den Leser raus (und wirft die Frage auf, wer den Erzähler erzählt etc. etc. ad infinitum). Ich glaube, dass der Text im vorliegenden Format dieses Problem kaum loswerden kann, bin aber für Vorschläge offen. Das ginge, wenn ich - wie Stephen King in "Carrie", Nick Cutter in "The Troop" oder Max Brooks in "World War Z" anstelle eines einzigen Textfragments eine ganze Collage von Textfragmenten setzen würde: Nachrichten, Interviews, Pressemitteilungen, Tagebücher usw. usf. Aber das wollte ich hier ganz bewusst nicht, glaube ich - ich wollte mal schauen, ob ein einziges, durchgängiges Textfragment eine Geschichte enthalten kann.

Deine vielen sachlichen Korrekturen übernehme ich gerne - vielen Dank dafür!

Dein Text verweist auf eine bestimmte Form von Gefahr, die diffus, unklar und unsichtbar bleibt. Es ist eine Gefahr, in der eine harmlos grüne Hügellandschaft eine harmlos grüne Hügellandschaft bleibt. Die App verändert das Verhalten; es braucht seine Zeit, die App als Ursache zu erkennen. Im Grunde stellt dein Text auch die Ozonloch-Frage: Würde es das Ozonloch geben, wenn es Anfang der 80er Jahre keine Messstation in der Antarktis gegeben hätte? Dann wüsste ja niemand vom Ozonloch. Wie hätte man dann zum Beispiel die erhöhten Hautkrebsraten in Australien und Südargentinien erklärt? Ganz anders, aber auch methodisch solide. Dein Text geht ähnlich vor, Indizien werden zusammengefasst und die App begründet viele Einzelereignisse, erklärt sie. Dann jedoch geht der Text chronologisch auf die Reaktion der NATO über, die, nunja, extrem heftig ausfallen. Hier könntest du meiner Ansicht nach herunterfahren: Der Zerfall der staatlichen Ordnung - vielleicht erstmal Aussetzung der Wahlen? Parlamentarische Entmachtung? Empirische Exekutive? Vielleicht auch: Entmachtung militärischer Gewalt durch digitale-empirische? Unkontrollierbare künstliche Intelligenzen? Oder eine staatenlose Struktur, in der jeder Mensch in sein bestes digitale Umfeld eingebettet bleibt und jeder für sich seinen konstruierten Staat erhält? In der eben die normative Funktion staatlichen Handelns durch eine globale künstliche Intelligenz übernommen wird? Jetzt spinne ich, pardon :-)

Du spinnst überhaupt nicht - du denkst das Szenario gründlich durch. Vielen Dank dafür, das ist sehr inspirierend. Ich schaue mal, wie tief ich in einer Überarbeitung des Textes in die Details einsteige.

Vielen Dank euch beiden für die tollen Kommentare!

Viele Grüße

Christophe

 

Hallo @Christophe ,

schön, mal wieder was von dir zu lesen :)
Ich teile die schon kundgetanen Meinungen, wollte jedoch noch hinzufügen, dass mich die Form an den Epilog von Der Report der Magd erinnert. Sie wählt allerdings eine Rede als Basis, was vom Format wahrscheinlich besser zu deinem ... Sprech ... passen würde. Schwierig, den Inhalt umzumünzen, wer würde in dieser Welt schon so eine Rede schwingen. Aber vielleicht wolltest du ja eh schon immer mal Den Report der Magd lesen :)

 

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