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Die Apothekerin
Die Apothekerin
"Ich verstehe das einfach nicht", äußert Frau Berger, als sie auf der anderen Straßenseite vorbeigehen. Die Apotheke von Frau Mertens ist schon seit Wochen ihr Thema. Ihr Mann nickt bedächtig, denn das tut er fast immer. Ungerührt fährt Frau Berger fort. "Die müssen doch längst pleite sein." Sein Nicken hat diesen Satz überdauert.
"Oder, Helmut?" Jetzt stupst sie ihn in die Seite. "Da geht nie ein Kunde rein. Und überhaupt ist das ja auch kein Wunder. So wie der Laden aussieht." Herr Berger seufzt innerlich, aber in Richtung seiner Frau guckt er beschwichtigend. "Ich hab dir das doch neulich schon gesagt. Ich hab mich da mal erkundigt." Sie winkt unwirsch ab. "Doch, wirklich. Die stehen ganz gut da." - "Ach so ein Blödsinn", fährt Frau Berger ihn an. "Ohne Kunden können die gar nicht genügend Umsatz machen."
"Aber die haben doch Kunden. Ich hab's Dir doch erzählt. Die beliefern vor allem ein paar Heime und eine Privatklinik."
"Ach papperlapapp. Davon können die doch nicht leben." Herr Berger will nicht noch einmal alles erklären müssen. Das hat er letzten Sonntag schon getan. Aber bevor sie noch mal tagelang darüber spricht, ist eine Erklärung sicher die bessere Lösung.
"Wenn ich's Dir doch sage. Ich hab's vom Bernhard. Und der weiß das, weil er bei der Sparkasse für den Kredit zuständig ist. Und da müssen die ja schon gründlich ermitteln, das weißt du doch auch." Herr Berger weiß, dass seine Frau Bernhard nicht mag. Eigentlich mag sie keinen seiner Stammtischbrüder.
"Wer soll sich denn hier schon beliefern lassen. Die Heime kaufen doch bestimmt beim Großhändler. Da mischt doch so eine kleine Apotheke nicht mit. Also, wenn du mich fragst, ist da was faul."
Manchmal wundert Herr Bernhard sich, ob es auch Frauen gibt, die nicht so sehr von Geschwätz besessen sind. Aber er hat nie den Versuch unternommen es herauszufinden. Sollte es solche Frauen geben, dann ist das für ihn ja doch egal.
Ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, sind die beiden schräg gegenüber der Apotheke stehen geblieben. Er betrachtet das Haus zum ersten Mal seit langem bewusst. Es wirkt ungepflegt, weil der Putz abblättert und zwischen ein paar Pflastersteinen davor haben sich Grasbüschel einen Weg gebahnt. Im Grunde wirkt es nicht anders als die übrige Nachbarschaft. Die Schaufenster sind größtenteils aus Milchglas, nur ein schmaler Streifen, etwa auf Augenhöhe, ist durchsichtig. Herr Berger versucht, von dort, wo er steht hineinzuspähen, aber die Scheibe spiegelt zu sehr. Im Gegensatz zu vielen anderen Apotheken tummeln sich hier keine bunten Schaufensterdekorationen mit flimmernden Bildschirmen, Liegestühlen oder übergroßen Modellen von Bakterien. Das Geschäft strahlt eine gewisse gediegene Eleganz aus. Trotzdem hat Herr Berger noch nie den Wunsch verspürt, dort etwas zu kaufen. Meist hat er den Eindruck, dass das Geschäft tatsächlich geschlossen ist. Nur der Notdienstplan und das rote A lassen auf den ersten Blick erkennen, dass es sich um eine Apotheke handelt.
Seine Frau hat offenbar gar nicht bemerkt, wie tief Herr Berger in seine Gedanken versunken ist. Mehrere Sätze müssen ihm offenbar entgangen sein. Er lächelt dankbar. "Siehst du, wir gehen fast jeden Tag hier vorbei und nie geht da einer rein. Irgendwie haben die manchmal überhaupt kein Licht an."
"Da", Herr Berger schreckt auf und kann sich das triumphierende Lächeln nicht verkneifen. "Siehst Du, ich sag doch, die liefern." Frau Mertens persönlich tritt aus der Vordertür und schließt hinter sich ab. In der Hand hält sie eine große, weiße Papiertüte. Sie geht zum Wagen, der in der Einfahrt neben dem Haus abgestellt ist und stellt die Tüte in eine Box im Kofferraum. Dann steigt sie ein und fährt davon.
"Na und? Also ich hab gesehen, dass die Frau Mertens mitten am Tag den Laden zumacht und wegfährt. Was soll das beweisen?" Frau Berger wird langsam zickig.
Herr Berger seufzt, diesmal vernehmlich. Wenn sie bei dieser Laune ankommt, ist ohnehin alles zu spät. "Hast du denn die Tüte nicht gesehen? Da sind die Sachen drin, die sie ausliefert. Und da drüben", er deutet in die Richtung, in die Frau Mertens gefahren ist, "liegt nun mal die Klinik." Eine Sekunde später bereits erkennt er mit Schrecken, dass er sein Glück überreizt hat. Vorhin hat sie das Stichwort offenbar überhört. Diesmal nicht.
Frau Berger holt tief Luft und es scheint für Stunden das letzte Mal zu sein, dass sie das tun muss. "Diese Klinik ist sowie so eine Sache. Wofür soll die eigentlich gut sein. Die Margit sagt, dass ist eine Drogenklinik. Und Brigitte hat gehört, dass es eine Schönheitsfarm sein soll. Aber der Udo, der Mann von Gabi, weißt du, du kennst den Udo doch? Also der Udo hat Gabi erzählt, dass die da solche Straftäter behandeln, die man im Knast nicht haben will." Herr Berger hat sich wieder in Bewegung gesetzt. Auch wenn sie ihm folgt und es auf dem Heimweg fortsetzen wird, hat er so wenigstens das Gefühl, auf der Flucht zu sein.
Herr Berger kümmert sich nicht darum, was das für eine Klinik ist, die seit Jahren in dem alten Bauernhof untergebracht ist. Das Herrenhaus hatte schon immer zu viele Zimmer. Als Klinik ist es bestimmt ganz famos. Und drum herum ist eine hohe Mauer. Warum sollte es ihn kümmern, was dahinter vorgeht. Sie haben zwei Reihen Stacheldraht über die Mauerkrone gezogen. Vielleicht wollen sie die Patienten drinnen halten, oder Neugierige draußen. In seinen Gedanken sieht er seine Frau in den Stacheldrahtreihen verfangen und mit den Beinen schlenkernd, nur weil sie mal einen Blick riskieren wollte. Wäre sie nicht so unsportlich, hätte sie das bestimmt schon versucht.
Frau Mertens steht im Durchgang hinter dem Tresen und sieht durch die schmalen Streifen durchsichtigen Glases hinaus. Schon wieder dieses Ehepaar. Sie streicht eine der grauen Locken aus der Stirn, die sich aus dem Zopf gelöst hat. Eines Tages wird sie etwas tun müssen. Und vielleicht wird das schon bald nötig sein. Er hat sich schon ein paar Mal erkundigt. Hat bei der Bank rumgeschnüffelt und Leute gefragt. Bei ihr hatte sie das erwartet von dem Moment an, als sie das erste Mal auf der anderen Straßenseite stehen geblieben war. Sie war genau diese Art Frau. Aber damit konnte Frau Mertens umgehen.
Gern hätte sie das Labor draußen im Gutshof eingerichtet. Hinter den Mauern vor allen Blicken verborgen. Aber der Schein musste gewahrt bleiben. Eine Klinik brauchte Medikamente und es wäre sinnlos, noch mehr Leute hineinzuziehen. Also spielte sie diese Rolle. Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. So falsch war diese Sichtweise ja nicht. Apotheke. In den alten Tagen hätte man das anders genannt. Aber es gab Bezeichnungen, die zu viel Aufmerksamkeit erregten.
Die Patienten wurden auch über weite Strecken hergebracht. Viele Kliniken hatten geschlossen werden müssen, allein wegen der Aufmerksamkeit, die sie auf sich gezogen hatten. Aber sie brauchten einen Ort, der vor den Blicken geschützt war, um wieder gesund zu werden. Viele kamen her, weil sie bei Arbeitsunfällen schwer verletzt worden waren. Andere brachten verletzte Kunden her. Gerade bei denen war Geheimhaltung das oberste Gebot.
Ein Piepen lässt sie sich von dem Ehepaar abwenden und in das Labor zurückkehren. Sie drückt kurz auf die Digitaluhr und das Geräusch verstummt.
Vorsichtig gießt sie den Inhalt des Reagenzglases in die kleine Glasflasche, in der sich bereits ein blauer Sirup befindet. Weißer Rauch steigt aus der Falsche auf und sie schwenkt sie im Kreis, bis sich beide Flüssigkeiten vermischt haben. Dann drückt sie den Glasstopfen fest.
Für einen Moment hält sie inne und lässt den Blick durch das Labor schweifen. Die Ausrüstung, die sie nun besitzt, unterscheidet sich sehr von den Dingen, mit denen sie in der Lehre gearbeitet hat. 'Das sind die neuen Zeiten', denkt sie versonnen und fragt sich, was ihr Meister damals davon gehalten hätte. Er hatte offene Töpfe bevorzugt. Aus Kupfer und Silber. Eine Gasflamme hatte auch er schon benutzt. Aber so ist es um einiges unauffälliger.
Heutzutage muss man mit der Gewerbeaufsicht zusammenarbeiten, mit dem Gesundheitsamt und anderen Behörden. Da wäre ein Kessel vom alten Schlag sicher nicht geeignet. Und Verdacht erregen darf sie nicht.
Frau Mertens legt die Glasflasche in die Papiertüte. Nun sind alle Mittel fertig. Sie sieht auf die Uhr. Langsam wird es Zeit, auszuliefern. Sie späht durch das Fenster hinaus. Das Ehepaar steht immer noch dort. Aber es hilft nichts. Sie wird in der Klinik schon erwartet.
Frau Mertens holt tief Luft und verhält sich so normal, wie möglich, als sie zum Wagen geht und zur Klinik aufbricht. Beinahe hat sie sich daran gewöhnt, es "die Klinik" zu nennen. Früher wäre es eine versteckte Hütte im Wald gewesen. Aber das waren rauere Zeiten.
Um neun muss sie zurück sein. Dann kommt noch ein Mädchen zum Vorstellungsgespräch. Sie freut sich darauf, denn ein neuer Lehrling wird vieles leichter machen. Frau Mertens wird der Arbeit manchmal nicht mehr Herr. Leider braucht der Lehrling Talent, das schwer zu finden ist. Aber vor allem haben die meisten ein völlig falsches Verständnis von Handwerk der Hexerei.