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Die Apothekerin - 2 - Von Raben
- 2 -
Von Raben
Frau Mertens biegt in die Einfahrt der Klinik und lauscht dem Knirschen des Schotters unter den Reifen. Der Pförtner verzieht keine Mine, und lässt das große Eisengitter aufschwingen, ohne einen Finger zu rühren. Der Wagen rollt langsam auf das Haus zu.
War es eben in der Stadt noch ein klarer Frühsommertag, so ist hier draußen der unheilschwangere Himmel bis dicht auf das Dach des Herrenhauses gesunken. Frau Mertens beachtet das Schauspiel nicht weiter. Sie ist pünktlich, also wird der Wolkenbruch ausbleiben.
Bedächtig steigt sie aus und lässt dabei den Raben nicht aus den Augen, der schon auf dem Steinpfeiler neben der Treppe sitzt. Eine falsche Bewegung und sie würde dafür bezahlen. Nachher, wenn sie abführe, wäre das kein Problem mehr. Aber noch hat er die Medizin nicht erhalten. Sie öffnet die Kofferraumklappe des Lieferwagens und nimmt behutsam die weiße Papiertüte heraus. Der Rabe streckt mit bedrohlicher Langsamkeit seine Flügel von sich, als wolle er sie warnen und Frau Mertens ist darauf bedacht, ihm nicht den Rücken zuzudrehen, während sie an ihm vorbei ins Haus geht.
In der Halle sieht sie sich um. Hinter dem Tresen steht ein junger Mann in einem bodenlangen weißen Kittel. Sie seufzt. Noch vor ein paar Jahren hätte sie es sich nicht träumen lassen, wieder mit Anfängern arbeiten zu müssen. Seit sie ihr eigenes Geschäft führt, dachte sie, dass sie auch qualifizierte Mitarbeiter haben würde. Aber dieser Junge ist kaum den Kinderschuhen entwachsen. Bei weitem noch nicht das, was man ausreichend gut nennen konnte. Aber die Zeiten sind schlecht, der Nachwuchs knapp und hat einer die Prüfungen bestanden, ohne dabei all zu viele Köperteile zu verlieren, dann schicken sie ihn an die Front.
Er hat sie entdeckt und kommt mit forschen Schritten auf sie zu. "Petersen, mein Name. Sie müssen Frau Mertens sein, folgen sie mir bitte?" Er wedelt mit dem Arm herum und achtet nicht auf ihre beschwichtigenden Gesten. Der Rabe, der hinter ihr das Haus betreten hat, reagiert sofort. Nur Millimeter über dem Kopf des jungen Mannes lässt er die Klauen herausschießen und erwischt eine Locke des wohlfrisierten Haares. Mit seiner Beute schwingt er sich auf eines der Säulenkapitele neben dem großen Fenster.
‚Anfänger', denkt Frau Mertens beinahe belustigt, nachdem sie mit schnellem Blick festgestellt hat, dass kein Blut geflossen ist. Solange der Rabe kein Blut schmeckt, besteht eine Chance auf Heilung. Aber dieser Neuling hat es beinahe versaut. Mitleidig sieht sie dem Raben nach. ‚Es werden bessere Zeiten kommen', denkt sie in seine Richtung. Das wird noch ein hartes Stück Arbeit werden.
"Ja, dann folge ich ihnen mal", bemerkt sie beiläufig zu dem jungen Mann, der sich sichtlich noch nicht von seinem Schock erholt hat. ‚Als Drachenfutter in die Schlacht geschickt', eigentlich tut er ihr leid. Aber es geht nicht mehr anders. ‚Es werden bessere Zeiten kommen', denkt sie noch einmal. Diesmal zu sich selbst.
Die Kammer liegt im Keller des Gebäudes und auf der engen Wendeltreppe stolpert der junge Mann einige Male. Wohlwollend schiebt sie es darauf, dass er nicht mehr alle Haare auf dem Kopf hat. Aber eigentlich weiß sie, dass er viel zu unerfahren ist, um das hier mit ihm zu wagen.
Sie betreten die Kammer über die steile Leiter. Der Raum ist karg, mit einem Steinfußboden, der von den Verätzungen der Jahre zernarbt ist. Zu viele verschüttet Reagenzen. Heute darf kein Tropfen daneben gehen. Die ganze Menge wird gebraucht. Frau Mertens wirft einen flüchtigen Blick auf den einzigen Gegenstand im Raum. Es ist eine beinahe lebensgroße, griechische Statue. 'Venus der Erlösung' wird sie genannt.
Sie stellt die Papiertüte am Fuß der Leiter ab. Der junge Mann schaut ihr interessiert über die Schulter. "Machen sie schon mal den Vaporisator klar", fordert sie ihn auf. Aber er rührt sich nicht von der Stelle. "Hallo, bereiten sie das Gerät schon mal vor, ja?" Ihre Stimme wird ein wenig ungeduldiger.
"Erst will ich sehen, was sie mitgebracht haben." Er klingt wie ein Kind, das um Geschenke bettelt. Jetzt wird Frau Mertens ungeduldig. "Würden sie jetzt vielleicht meine Anweisung befolgen? Sie sollten wissen, dass die Zeit schon knapp wird. Haben sie den Himmel nicht gesehen?"
Er bleibt trotzig stehen und unter seiner dezimierten Lockenpracht kann Frau Mertens die Gedankengänge sehen. "Ich bin der behandelnde Arzt." Wie leicht ihm das von den Lippen geht. Sie anzuraunzen fällt ihm sichtlich schwer, aber sich als Arzt zu bezeichnen, ist ein Leichtes für ihn. Einen Moment lang spukt der aberwitzige Gedanke durch ihren Kopf, dass er vielleicht wirklich ein Arzt wäre. ‚Dann sind wir alle verloren.' Aber Allüren hat er wie die jungen Ärzte. Nicht einmal die Tiefflugattacke hat ihm das austreiben können. Eine Welle der Sympathie für den Raben durchflutet sie trotz aller Gegensätze und alten Feindschaften.
Frau Mertens seufzt vernehmlich. Mit Anfängern zu arbeiten ist lebensgefährlich. Lehrlinge sind anders. Die machen auch Fehler, aber sie maßen sich nicht an, alles allein zu können. Jedenfalls nicht mehr, nachdem ein oder zwei Mal ein Kessel unter ihren Händen explodiert ist, oder eine Versuchsratte ihre Zähne in einen Finger geschlagen hat.
"Wenn sie nicht wissen, wie das geht, ist das natürlich etwas anderes." Sie blickt ihn spöttisch an. Sie darf sich nicht provozieren lassen, sonst kann sie nicht ordentlich arbeiten.
Sie geht zu der Statue hinüber und packt sie fest um die Hüften. Mit einem beinahe zärtlichen Ruck dreht sie die Venus ein Viertel nach Süden, dann ein Viertel nach Norden zurück. Der Kopf der Statue ist erwartungsvoll in den Nacken gelegt. Ihre großen Augen blicken empor. Direkt über der Statue ist ein kaum faustgroßes, achteckiges Loch in der Mitte der Steindecke, durch das das nun gedämpfte Licht der Halle zu sehen ist.
Frau Mertens nimmt die kleine Glasflasche mit der Mixtur heraus. Der blaue Sirup hat sich schon fast wieder am unteren Ende der Flasche abgesetzt. All diese Verzögerungen werden noch zu einem Desaster führen.
Wie um den Gedanken zu bestätigen, dringt das dumpfe Rollen eines Donners bis zu ihnen in die Kammer. "Auf geht's. Schließen sie die Luke." Diesmal gehorcht der junge Mann. Entweder hat er verstanden, oder er hat Angst.
Frau Mertens entfernt den Glasstopfen und beginnt vorsichtig, die Flasche zu schwenken. Der weiße Rauch steigt ihr in die Nase und für einen Moment sieht sie weiße Veilchen. Dann konzentriert sie sich wieder. Sie tritt neben die Statue und spät durch das Loch hinauf. Wenn die beiden Männer da oben soweit sind, wird des dunkel werden. Das ist das Zeichen. Sie kann die Schritte der Männer hören, die damit beschäftigt sind, den Raben im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass er in den hinteren Teil der Halle fliegt. Dann fällt oben der letzte Vorhang und gibt ihr das Zeichen.
Für einen Moment denkt Frau Mertens an die Standesregeln und die eigentliche Aufgabenverteilung. Aber der junge Mann steht still in der Nähe der Leiter und hat offensichtlich beschlossen, ihr das Feld zu überlassen. Frau Mertens nickt bestätigend. Ihr kann es nur recht sein.
Bedächtig hebt sie die Flasche und führt sie an die Lippen der Venus. Mit einer sanften Bewegung gießt sie den Inhalt ins Innere der Statue. Nachdem sich der letzte Tropfen aus der Flasche gelöst hat, bleibt ihr gerade genügend Zeit, um zurückzutreten. Dann beginnt die Venus zu heulen. Der Ton steigt tief aus ihrer Kehle auf und verbreitet sich in der Kammer, bis ein dichter Nebel Frau Mertens und den jungen Mann einhüllt. Dann entweicht er mit einem Zischen durch die Öffnung in der Decke und Frau Mertens denkt an den glühenden Kegel, den er jetzt mitten in der Halle bildet. Sein rötliches Licht breitet sich bis hier unten hin aus. Für Bruchteile eines Augenblicks kann sie einen Schatten über das Loch in der Decke huschen sehen. Frau Mertens seufzt jetzt hörbar und drückt den Glasstopfen zurück auf die Flasche. "Langsam weiß er, dass es ihm gut tut. Er fliegt jetzt schon fast von allein durch den Kegel."
Ohne auf eine Antwort zu warten oder den jungen Mann eines Blickes zu würdigen, geht hinüber und legt der Venus sanft die Hand auf die linke Schulter. Das Heulen ebbt ab und verstummt schließlich. Frau Mertens lässt die Glasflasche in ihre Jackentasche gleiten und steigt die Leiter herauf. Ihre Arbeit ist noch nicht getan.
In der Halle angekommen, sieht sie die Helfer hinter den Vorhang gekauert. Er ist jetzt gefährlicher als vorher und seit einer von ihnen in der letzten Woche um sein Leben rannte, sind sie auf Deckung bedacht, sobald sie den Raben durch den Kegel gescheucht haben. Frau Mertens kann es ihnen nicht verübeln.
Unter dem Torbogen vor der geschlossenen Ausgangstür sitzt der Rabe und streckt seine Flügel zu beiden Seiten aus. Von Zeit zu Zeit geht ein Zucken durch seinen Körper und er wirft den Kopf zurück. Frau Mertens hat Mitleid mit ihm. Die Behandlung muss schmerzhaft sein. Aber schon zum zweiten Mal in dieser Woche sieht sie menschliche Gliedmaßen hervortreten, wenn das Zucken einsetzt. Für einen Sekundenbruchteil glaubt sie, sein Gesicht zu erspähen. Noch zwei oder drei weitere Behandlungen und er wird es geschafft haben. Dann werden noch Wochen der Genesung folgen, aber wenn er erst einmal auf den Beinen ist, ist das schlimmste geschafft.
Das Zucken erstirbt und es wird Zeit, ihn noch einmal gehen zu lassen. Mit einer schwingenden Handbewegung lässt Frau Mertens das Portal aufspringen und der Rabe gleitet hinaus. Er hat ihr in die Augen gesehen und sie weiß, dass er sie dieses Mal erkannt hat. Beim nächsten Mal wird sie vorsichtig sein müssen, wenn sie herkommt. Alter Hass verglüht nur langsam. Auch wenn neue Allianzen schon besiegelt sind.
Frau Mertens hat selbst hin und wieder noch Zweifel daran, ob die politischen Entscheidungen des Rates sich auch umsetzen lassen. Aber in ein paar Tagen wird sie schlauer sein. Dann, wenn Bradon wieder gehen kann und wenn er spricht. Noch vor dem Neumond wird er wieder frei sein. Vorausgesetzt, er schmeckt bis dahin kein Blut.
Frau Mertens erschaudert bei dem Gedanken daran, dass Bradon auf ewig auf der Jagd sein könnte. Schon in menschlicher Gestalt verbreitet er Angst und Schrecken. Aber als dunkle Seele wird er das dünne Band der Allianz sprengen. Dann werden sie geschwächt und einzeln dastehen und darauf warten, dass die Welt sie überrollt. Der Rat der Mächte hatte die Ansicht vertreten, Bradon werde die Schlüsselfigur der Allianz sein. Seine Stärke werde sich auf alle übertragen. Das hatte ihn zur Zielscheibe gemacht. Und sie hatten getroffen. Hätte man ihn nicht schnell genug hierher gebracht, dann hätte es keine Hoffnung mehr gegeben. Nicht für ihn und nicht für die übrigen. Die gewöhnliche Welt vereinnahmt alles, wenn man ihr nur genügend Zeit lässt. Dagegen wendet sich die Allianz.
Der junge Mann hat hinter ihr die Halle betreten. Während Frau Mertens zusieht, wie das Unwetter über dem Haus vorüberzieht, spürt sie innerlich immer noch ein Grollen. Aber sie wird ihm heute noch einmal verzeihen. "Wer ist morgen hier?" Der junge Mann zuckt zusammen. "Morgen schon?" Nach einer zögerlichen Sekunde fährt er fort. "Ich bin der Arzt vom Dienst." Frau Mertens weiß nicht, worüber sie sich zuerst aufregen soll, die Formulierung oder die Tatsache, dass sie morgen schon wieder mit dem Kindergarten arbeiten muss. Sie entschließt sich dafür, das Offensichtliche anzugreifen. "Sagen sie ja nicht noch einmal ‚Arzt', sonst werfe ich sie einem gehörnten Drachen zum Fraß vor", schnaubt sie. Sie flucht selten und fühlt sich ein wenig außer Übung. Gehörnte Drachen sind gar nicht so furchterregend. Aber Gefressenwerden schon. "Was ist bloß aus der guten, alten Bezeichnung ‚Heiler' geworden! Die ganze Arzt-Sache ist doch nur Fassade." Fährt sie versöhnlich fort. Vielleicht sollte sie sich nicht so aufregen, es ist ja wirklich bloß eine Bezeichnung. Aber manchmal beschleicht sie das Gefühl, dass die ganze mühsam aufgebaute Fassade noch zum Einsturz der Allianz führen wird. Wenn sie zu ernst genommen wird, dann ist es irgendwann verlockend, einfach in diesen Teil der Realität hinüberzugleiten. Und was wird dann aus Raben ohne Gesicht und gehörnten Drachen? Die haben in der gewöhnlichen Welt nun mal keinen Platz. Soll ihre Befürchtung sich tatsächlich bestätigen, dass die Verschleierungstaktik der Allianz über kurz oder lang dazu führen wird, dass sie sich selbst an die gewöhnliche Welt ausliefert?
Auf dem Weg zurück in ihre Apotheke denkt sie darüber nach, dass auch sie bequem geworden ist, mit all der neuen Laborausrüstung und den elektrischen Geräten. Aber niemals wird sie dazu übergehen, wirklich nur eine Apotheke zu führen. Das hat sie sich selbst fest versprochen. Die gewöhnliche Welt wird sie nicht lebendig verschlingen. Nicht lebendig.