- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Die Anhalterin
Es war ein langer Tag gewesen. Sarah Brenner starrte auf die Fahrbahn vor ihr. Zu dieser Zeit schien die Strasse vollkommen leer zu sein, kein Mensch ausser ihr war noch unterwegs an diesem kalten Märzabend, und sie konnte das gut verstehen, denn es war spät, und auch ihr wäre es lieber, wenn sie ihr Ziel schon erreicht hätte.
Sarah schaltete das Radio ein, ein bißchen Musik wäre jetzt nicht schlecht, oder das muntere Geplapper eines nächtlichen Moderators, denn es war noch ein gutes Stück zu fahren, bis sie zuhause war, und sie brauchte etwas, das sie von der Monotonie der Strasse ablenkte und sie wachhielt.
Sie freute sich auf ihr eigenes Bett und das vertraute Atmen ihres Verlobten Henry neben sich, nachdem sie nun für vier Wochen auf Geschäftsreise im Ausland gewesen war. Sie wollten bald heiraten, alles war vorbereitet, doch der Stress hinderte sie daran, sich richtig auf das bevorstehende Großereignis zu freuen. Doch ihr Chef liess ihr nun mal keine Ruhe, immer wieder hiess es, „Brenner, Sie sind doch unser bestes Pferd im Stall, wer soll denn sonst mit den Franzosen verhandeln?“
Sarah seufzte, als sie an ihren Chef dachte, der es sicher nur gut mit ihr und ihrer Karriere meinte, und während sie noch ihren Gedanken nachhing, bemerkte sie ein dringendes Bedürfnis. Vor ein paar Metern hatte sie das Hinweisschild zu einem Rastplatz gesehen, obwohl es ihr gar nicht behagte, mitten in der Nacht an einem dieser entlegenen Parkplätze anzuhalten. Sie war eigentlich niemand, der etwas auf das Gerede gab, das die Freundinnen ihrer Mutter, die ihr Wissen aus einschlägigen Medien mit vier Buchstaben bezogen, verbreiteten, doch sie hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengrube, als sie daran dachte, alleine dort anzuhalten, und im Dunkeln eine nur schwach beleuchtete, nach Urin und nicht näher identifizierbaren Dingen riechende Klokabine aufzusuchen mit einer verdreckten Kloschüssel, in der sich mehr Bakterien tummelten als in der örtlichen Kläranlage.
Aber die Alternative war noch undenkbarer, schließlich war dies ein Dienstwagen, und so beschloss Sarah, anzuhalten.
Der Parkplatz war leer, nur ein holländischer LKW stand einige Meter entfernt, doch sonst war niemand zu sehen. Sie stoppte und suchte im Handschuhfach und unter den Sitzen nach etwas, das sie im Notfall als Waffe benutzen konnte, und fand eine volle Wasserflasche aus Glas, die wohl einer ihrer Kollegen hier vergessen hatte. Besser als nichts, dachte Sarah, stieg aus und klemmte sich die Flasche unter den Arm, dann rannte sie zu dem kleinen Häuschen mit dem erstaunlich gut beleuchteten Eingangsbereich, in dem sich zwei ehemals grün lackierte Türen befanden, links für die Herren, rechts für Sarah.
Erleichtert und bereit, die letzten Kilometer zügig durchzufahren, um sich endlich in ihr gemütliches warmes Bett zu kuscheln, ging Sarah wieder zu ihrem Wagen zurück, die Wasserflasche immer noch fest umklammert. Gähnend suchte sie in ihrer Jackentasche nach dem Wagenschlüssel, als sie plötzlich ein Geräusch hinter sich hörte. Blitzartig fuhr sie herum, ihre Hand schnellte zu der Flasche, doch sie liess sie im gleichen Moment wieder sinken. Vor ihr stand ein junges Mädchen, nicht älter als sechzehn, mit schulterlangen blonden Haaren und nur mit einem ärmellosen weissen T-Shirt und einem kurzen gelben Rock bekleidet. Um den Hals trug sie einen dünnen langen Schal aus einem leichten Material, so wie sie im letzten Sommer in Mode gewesen waren, und an einem Handgelenk sass ein Armband aus grossen bunten Plastikkugeln. Ihr Gesicht kam Sarah seltsam bekannt vor, aber sie wusste beim besten Willen nicht, woher, denn sie kannte niemanden in diesem Alter.
„Hi,“ sagte das Mädchen nur und hob eine Hand wie zu einem Gruß. Sarah hielt kurz inne, dann antwortete sie ebenfalls mit einem kurzen „Hi!“ und machte sich daran, das Auto aufzuschliessen. „Entschuldigen Sie..“ Das Mädchen stand immer noch hinter ihr. Sarah drehte sich wieder um. „Ja?“ fragte sie, sie war ungehalten, denn sie wollte endlich weg von hier. „Können Sie mich vielleicht mitnehmen? Nur bis zur nächsten Raststätte, und ich gebe ihnen auch 20 Euro,“ antwortete das Mädchen mit einem flehenden Blick. Sie klammerte sich mit den beiden Händen an die Tasche, und zum ersten Mal wurde Sarah bewusst, wie leicht bekleidet ihr Gegenüber für diese Jahreszeit war. Hatte sie denn keine Eltern, die darauf achteten, wie ihre Tochter vor die Tür ging, vor allen Dingen um diese Uhrzeit? In diesem Alter sollte man im Bett liegen, oder zumindest im Warmen und nicht in einem kurzen Röckchen und Top an einer gottverlassenen Raststätte stehen. Für einen kurzen Moment überlegte Sarah, ob sie ihr Handy aus der Tasche nehmen sollte, um die Polizei anzurufen und das Mädchen bei der nächsten Gelegenheit den Behörden zu übergeben. Aber irgend etwas hielt sie zurück, und so nickte sie nur und öffnete die Beifahrertür. „Steig ein. Warum auch immer du hier mitten in der Nacht herumstehst, aber du kannst mitfahren,“ sagte Sarah, während sie einstieg. Hoffentlich fand niemals einer ihrer Kollegen heraus, dass die toughe und korrekte Frau Brenner nachts irgendwelche Minderjährigen durch die Gegend kutschierte.
Das Mädchen nickte stumm, während sie in das Auto einstieg. „Soll ich etwas Musik anmachen?“ fragte Sarah, nachdem sie sich ebenfalls gesetzt und den Wagen wieder angelassen hatte, doch sie bekam keine Antwort. Wahrscheinlich ist sie nur schüchtern, dachte sie sich, doch das Mädchen liess sich keine Reaktion anmerken, sondern blickte nur starr geradeaus auf die Strasse. „Wo wohnst du denn? Falls es auf dem Weg liegt, kann ich dich auch dort abliefern,“ versuchte Sarah erneut ein Gespräch zu beginnen, aber wieder begegnete ihr nur Schweigen. Sie überlegte kurz, ob sie noch einen dritten Versuch machen sollte, um die Konversation in Gang zu bringen, doch dann entschied sie sich dagegen, sie musste auf die Strasse achten.
Hoffentlich hatte sie keinen Fehler gemacht, als sie eingewilligt hatte, das Mädchen mitzunehmen, vielleicht war sie nicht so harmlos wie sie auf den ersten Blick aussah. Sarah schauderte plötzlich und drehte die Heizung auf. „Verflixt,“ entfuhr es ihr, als sie bemerkte, dass sie den Regler nicht drehen konnte, doch als sie kurz auf die Armaturen sah, fiel ihr auf, dass die Heizung bereits bis zum Anschlag aufgedreht war, doch die Kälte blieb im Auto. Seufzend dachte sie daran, dass wieder dumme Sprüche ihrer Kollegen kommen würden, wenn sie erzählte, dass sie es geschafft hatte, die Heizung in dem teuren Dienstwagen kaputt zu machen.
Es wurde immer kälter, Sarah spürte, wie sich Gänsehaut auf ihren Armen ausbreitete. „Ist dir nicht kalt?“ wollte sie von dem Mädchen wissen, dass sich in seiner sommerlichen Kleidung den Tod holen würde. „Du kannst dir meine Jacke von der Rückbank holen,“ meinte Sarah, als sie immer noch keine Antwort erhalten hatte, doch das Mädchen machte keinerlei Anstalten, Sarahs Vorschlag zu folgen. Sie blieb regungslos sitzen, den Blick starr geradeaus gerichtet, die Hände wie eine Statue mit den Armen im rechten Winkel auf den Oberschenkeln liegend.
Stand sie vielleicht unter Drogeneinfluss? Plötzlich kamen Sarah wieder die Gruselgeschichten ihrer Mutter in den Sinn, aber eigentlich war dort immer die Anhalterin das Opfer, nicht derjenige, der sie im Auto mitnahm. Sie schüttelte sich, um die Kälte und die Müdigkeit abzuschütteln, als sie auch schon das Schild sah für den nächsten Rastplatz sah. Noch zehn Kilometer, dann wäre sie ihre geheimnisvolle Beifahrerin wieder los.
„Soll ich dich hier rauslassen?“ wollte Sarah wissen, und das Mädchen nickte stumm. Ganz wohl war Sarah bei der Sache allerdings nicht, denn dieser Rastplatz war nicht viel belebter als der letzte. Machte sie sich irgendwie strafbar, wenn sie eine Minderjährige hier mitten in der Pampa absetzte? Doch das Mädchen nickte nur und flüsterte: „Ja, hier, bitte,“ das erste Gesprochene seit sie Sarah gefragt hatte, ob sie mitfahren dürfte.
Kaum hatte Sarah den Wagen zum Stehen gebracht, öffnete das Mädchen die Tür und sprang aus dem Wagen. „Danke,“ war alles, was Sarah noch hörte, dann war sie verschwunden. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, hatte sie das alles etwa doch nur geträumt? Doch dann fiel ihr Blick auf ihren Beifahrersitz, auf dem noch die grosse Stofftasche ihrer Mitfahrerin lag.
„Du hast Deine Tasche vergessen!“ rief Sarah ihr nach, doch das Mädchen war nirgendwo mehr zu sehen. War sie etwa in den Wald gelaufen? Sarah zog den Schlüssel ab, nahm die Tasche vom Beifahrersitz und stieg aus. Einer plötzlichen Eingebung folgend suchte sie nach einem Geldbeutel, um die Besitzerin eventuell kontaktieren zu können. Dabei fiel ihr Blick auf ein vergilbtes Plakat an einem Laternenmast, sie beachtete es nicht weiter, obwohl sie das eigenartige Gefühl hatte, dass sie genau das eigentlich tun sollte.
Doch sie dachte nicht daran, sie nahm den Ausweis aus der Tasche und merkte sich den Namen: „Jana Weisse“. Wie schon zuvor das Gesicht des Mädchens rief auch der Name etwas in ihrer Erinnerung wach, ganz am Rande ihrer Wahrnehmung.
„Jana! Jana, Du hast Deine Tasche vergessen!“ versuchte Sarah es ein zweites Mal, doch auch diesmal keine Reaktion. Sie beschloss, all ihre Angst hinunterzuschlucken und dem Mädchen zu folgen, vielleicht konnte sie sie noch einholen, und stieg den schmalen Trampelpfad hinauf, der auf die Anhöhe mit dem Nadelwald führte. Erst als sie den Wald betreten hatte, wurde Sarah bewusst, wie dumm ihre Idee war. Nachts ohne Taschenlampe in einem Wald irgendein Mädchen zu suchen, wer war sie denn? Sie würde zurückgehen, sich ins Auto setzen und nach Hause fahren und dann morgen früh von der Arbeit aus ihre Sekretärin die Telefonnummer von Jana Weisse heraussuchen lassen und bei dieser Gelegenheit den Eltern auf den Zahn fühlen.
Gerade als Sarah sich umdrehen wollte, nahm sie aus dem Augenwinkel etwas helles zwischen den Bäumen wahr. Hatte das Mädchen sie doch gehört? Vorsichtig ging sie in die Richtung, und immer noch sah sie etwas Helles, etwas Weisses auf dem Boden liegen. Vielleicht war Jana gestürzt und hatte nicht mehr aufstehen können.
„Jana? Alles in Ordnung bei dir?“ rief Sarah, doch sie bekam keine Antwort. Nicht einmal ein Stöhnen oder Jammern war zu hören, und als sie den letzten Zweig zur Seite bog, wusste sie auch warum.
Vor ihr lag ein Skelett.
Um den Hals trug es noch Reste des rosafarbenen Schals, am Handgelenk ein Armband aus grossen bunten Kugeln. Weisse und gelbe Fetzen lagen unter Oberkörper und Beinen.
„Haben Sie unsere Tochter gesehen?“ - „Vermutlich wurde die 16jährige Jana Weisse Opfer eines Gewaltverbrechens“ - „Noch immer keine Spur von Jana“. Ein Steckbrief auf einem Rastplatz, ein Name, ein bekanntes Gesicht.
Langsam nahm Sarah ihr Handy aus der Tasche und wählte.