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Die Angst, die niemand bezwingen kann
Die Menschen der Stadt nannten Taron stark und zuverlässig und lobten stets die Waffen und Werkzeuge, die er für sie schmiedete. Doch ihm selber schien, als sei all die Freundlichkeit der Menschen eine Fassade, hinter der sich nichts verbarg. Sie waren alle gleich. Nur ein einziger Mensch hatte je sein Herz berührt: seine Nichte Nana, ein fröhliches Mädchen, das vor Energie nur so sprühte, ein echter kleiner Sonnenschein.
Es war ein warmer Herbstnachmittag, als die Sonne sich zum Horizont neigte und tiefe Schatten auf die Straßen warf. Schatten, die beinahe lebendig wirkten. Ein eisiger Wind ließ die Stadt frösteln und die Menschen spürten das Unheil heraufziehen im Wimmern dieses kühlen Hauchs. Doch der Windstoß wirbelte auch die Blätter durch die Luft. Ein kleines Mädchen lief ihnen hinterher und versuchte, eines zu fangen. Ins Spiel vertieft nahm sie die Kälte nicht wahr und auch nicht die Schatten. Sie folgte dem Blätterwirbel in der Dämmerung hinaus aus der Stadt.
Alle Türen waren fest verschlossen und die Straßen menschenleer, denn etwas Ungreifbares lauerte in ihnen. Etwas streifte durch die Stadt, uralt und gefürchtet, und rüttelte an den Fensterläden und Türen. Schließlich näherte es sich einem Haus, in dem Feuer brannten. Jemand bearbeitete ein Stück Metall mit einem Hammer. Eine offene Werkstatt. Das Klirren des Metalls war das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach, die die Stadt erfasst hatte. Und wenn das unheilvolle Wesen Hand an diesen Mann legen würde, so wäre die Stille vollkommen. Durch die Schatten kroch das Geschöpf auf Taron zu. Da legte dieser den Hammer beiseite und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Für heute war er fertig. Er drehte sich um und erstarrte. Nichts war zu sehen. Doch etwas lauerte in dort, etwas bewegte sich in den Schatten. Vielleicht hatte sich Nana herangeschlichen, um ihm bei der Arbeit zuzusehen? Taron schüttelte das mulmige Gefühl ab, dass ihn erfasst hatte, und trat lächelnd vor, um seine Nichte zu begrüßen. Ein Zittern ging durch die Dunkelheit selbst. Das Lächeln des Mannes durchbohrte das Wesen und ließ es sich vor Schmerzen krümmen. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass es floh. Es rannte aus der Stadt hinaus, bis ihm auf seinem Weg eine kleine Gestalt entgegentrat.
Der eisige Griff um die Stadt löste sich abrupt. Es ging ein Aufatmen durch die Straßen. Die Menschen traten aus ihren Häusern und zündeten die Laternen an. Nur eine Person fehlte. Nana war vom Spielen bisher nicht zurückgekehrt. Taron, ihre Eltern und die halbe Stadt suchten nach ihr. Als sie sie fanden, saß sie allein am Stadtrand an eine Hauswand gelehnt. Geht es dir gut? Was ist passiert? Warum bist du nicht nach Hause gegangen? Das Mädchen wurde mit Fragen bestürmt, doch sie beantwortete keine. Sie sagte kein Wort und starrte auf den Boden. Ihr Atem war das einzige Lebenszeichen. Doch da ihr scheinbar nichts fehlte, wurde sie einfach nach Hause gebracht. Tage vergingen, aber Nana blieb weiterhin vollkommen teilnahmslos. Sie sprach kein einziges Mal. All ihre Lebensenergie schien verschwunden.
Taron glaubte zu wissen, was Nana an diesem Abend widerfahren war. Und er wusste, dass die anderen Bewohner es auch ahnten. Also versammelte er sie und sprach aus, was alle dachten, aber niemand sagte:
„Etwas hat uns heimgesucht in dieser Nacht und Nanas Lebensenergie gestohlen. Wir alle kennen die Geschichten und wissen aus schmerzvoller Erfahrung, dass sie war sind. Und wenn wir uns dem gefürchteten Schatten nicht stellen und ihre Kraft zurückholen, wird Nana sterben. So wie jeder, den die Schattenhand berührt.“
Die Leute schwiegen betreten, schauten zur Seite oder auf den Boden. Der einzige Mensch in dieser Stadt, der sich mutig auf Tarons Seite gestellt und für die Rettung eines kostbaren Lebens und den Kampf gegen das uralte Grauen ausgesprochen hätte, war ein kleines Mädchen, das gerade mal acht Sommer zählte. Dieses Mädchen saß nun mit leerem Blick auf einem Bett und würde bald sterben.
Doch sogar Nanas eigene Eltern sagten nichts und taten nichts. Gelähmt vor Furcht standen sie alle da, die versammelte Stadt, und niemand rührte sich. Sie waren alle gleich. Taron kehrte der Menge den Rücken zu. Er packte seine Sachen und verließ noch am selben Abend allein die Stadt.
Natürlich wusste niemand, wo die Schattenhand lebte. Denn wer sie fand, der kehrte nicht zurück, und wer sie nicht fand, der wusste es nicht. Aber sie war die Verkörperung der Angst selbst. Und darin sah Taron eine Möglichkeit, sie zu finden. Er zog von Dorf zu Dorf. Und er fragte die Menschen, in welche Richtung sie niemals blickten und welche Wege sie nie beschritten. Und so ging Taron all die Wege, welche die anderen fürchteten, und näherte sich auf diese Weise dem Herzen der Angst. Düsterer und düsterer wurden die Landschaften, die er durchquerte, und die Wege, die zu beschreiten die Menschen fürchteten, immer zahlreicher. Dennoch schien die Richtung, in die es ging, stets dieselbe zu sein. Durch düstere Höhlen und finstere Wälder schritt Taron, Bären und Wölfe kreuzten seinen Weg, doch sie schreckten vor den Waffen zurück, die er geschmiedet hatte. Schließlich erreichte er den Ort, an dem alle Wege zusammenführten.
Taron trat hinaus aus dem Wald, den er durchquert hatte. Er stand nun im gefürchtetesten aller Orte dieser Welt. Es war hell. Nach all den Gefahren, der Dunkelheit, den Monstern. Vor ihm lag eine Blumenwiese. Er trat vorsichtig einige Schritte nach vorn. Vielleicht waren die Grashalme messerscharfe Klingen oder giftige Käfer versteckten sich zwischen den Blüten. Aber nichts passierte. Er ging weiter und weiter, doch es blieb eine einfache Wiese. Bis hin zum Horizont sah er nichts als Gras. Nichts regte sich in dieser Wiese. Es ging kein Wind, kein Lebewesen war dort, nicht einmal Ameisen. Seine Schritte waren das einzige Geräusch in der Stille. Als er sich einmal umdrehte, sah er auch hinter sich und in allen Richtungen nichts als Wiese, die Wälder und Berge waren fort. Er war allein. Ganz allein. Es mussten Tage verstrichen sein, seit er so wanderte. Die Grashalme um ihn schienen immer größer zu werden. Die Stängel der Blumen reichten irgendwann so hoch in den Himmel, dass er die Blüten nicht länger zu sehen vermochte. In dieser andauernden Einsamkeit mit nichts als dem Geräusch seiner Schritte auf dieser ewig gleichen Wiese hatte er viel Zeit, nachzudenken. Taron dachte an Nana und an seine Heimatstadt. Ihm wurde klar, dass er nicht nur hier in der Wiese allein war, sondern auch dort. Und irgendwann kam ihm der Gedanke, dass nicht die Blumen riesig waren, sondern er einfach klein. Gegen die Welt und ihre Größe, und auch wenn er sich die vielen Menschen vorstellte, die es auf der Welt gab, war er winzig, unwichtig und machtlos. Verloren in einem Universum, dessen Größe unvorstellbar war, war Taron nur ein Sandkorn. Er würde allein sterben, wie alle anderen auch, und letztlich war sein Leben bedeutungslos. Aber war dann Nanas Leben nicht auch bedeutungslos? Nein, dachte Taron, mir bedeutet es etwas! Auch wenn ich letztlich in meinem Schmerz allein bin, hat ihr Lachen doch mein Herz berührt! Ich muss sie retten. In diesem Moment bemerkte er, dass er stehen geblieben war. Vielleicht schon vor langer Zeit.
Das also ist die größte Angst der Menschen, dachte Taron. Die Bedeutungslosigkeit unseres Lebens und die Einsamkeit. Er ließ den Blick über die Wiese schweifen, die einfach, leer und still war. Eine Angst, die so gewaltig war, konnte man nicht bezwingen. Diese Verkörperung der Angst, die sie Schattenhand nannten, war unbesiegbar. Es gab keine Möglichkeit, sie auszulöschen. Taron drehte sich um und ging zurück. Der Waldrand war in Wirklichkeit nur einige Schritte entfernt. Er wanderte zurück in Richtung seiner Heimatstadt und stellte überrascht fest, dass sie nur einen halben Tagesmarsch entfernt lag, obwohl seine Reise viele Wochen gedauert hatte.
Als er das Stadttor durchschritt, kamen Leute freudig auf ihn zugestürmt in dem Glauben, er habe jene Angstgestalt aufgespürt und für immer besiegt. Taron schüttelte nur den Kopf und ging zu dem Haus, in dem Nana lebte. Er fand sie vor, wie er sie verlassen hatte: ihr Gesicht war ausdruckslos und sie rührte sich nicht. Doch Taron verstand es nun. Sie hatte durch ihre Begegnung mit Schattenhand die Bedeutungslosigkeit ihres Daseins im Angesicht solcher Dunkelheit und Einsamkeit erfahren. So wie alle anderen, die dies einmal durch und durch gefühlt hatten, saß sie da und wartete auf den Tod. Denn Schattenhand stahl nicht die Kraft, sondern den Lebenswillen. Taron setzte sich neben Nana und schloss sie in seine Arme. Man konnte Schattenhand nicht bezwingen, denn er lebte in den Herzen der Menschen, in einer dunklen Ecke, die sie nicht ansehen. „Nana. Ich habe auch Angst. Ich bin auch manchmal einsam. Du musst das nicht allein ertragen. Wir teilen alle das selbe Schicksal. Und wir sind immer bei dir. Deine Eltern, deine Freunde, ich und alle Menschen dieser Stadt.“ Er wurde nicht müde, ihr dies immer und immer wieder zu erzählen, und gab es auch an seinen Bruder und dessen Frau, Nanas Eltern, weiter. Er wusste, dass Nana diese Gefühle überwinden würde, wenn die dunklen Hände der Angst, die sie zum ersten Mal in ihren Leben erfahren hatte, ihr Herz freigaben. Und bald lachte Nana wieder und wurde ein fröhliches Mädchen, wenn auch nicht ganz so ausgelassen wie früher.
Es war Winter geworden. Als Taron nun glaubte, am Ende seiner Reise angelangt zu sein, suchte der Schatten die Stadt ein zweites Mal heim.
Kälte und Dunkelheit legten sich in der längsten Nacht des Jahres über die Stadt, und alle Menschen zogen sich früh in ihre Häuser zurück, diesmal auch Nana. Etwas kroch durch die Schatten der Straßen auf das Klirren von Metall zu.
Wie jeden Abend brannten die Feuer in Tarons Werkstatt noch, meist arbeitete er bis spät. Da streifte ein eiskalter Hauch seinen Nacken. Etwas war hier, doch als er sich umdrehte, war da nichts außer den Schatten, die die Flammen an die Wand warfen. Nana konnte es nicht sein, sie durfte abends nicht mehr raus. Er kannte dieses unheimliche Gefühl. So war es auch an dem Abend, als Nana angegriffen worden war. Er erkannte das schleichende Gefühl der Angst. Da begriff er. Schattenhand war hier. Taron realisierte, dass er ihm damals schon einmal begegnet war. Doch das Wesen war geflohen, als er... genau. Taron machte entschlossen einen Schritt nach vorn und lächelte zuversichtlich. Doch diesmal ging kein Ruck durch die Dunkelheit. Stattdessen trat etwas aus den Schatten hervor. Es war riesig und schien keine feste Form zu haben. Gleichzeitig konnte Taron die riesigen Schwingen eines Drachen, die tödlichen Reißzähne eines monströsen Wolfes, Klauen, tausend glühende Augen und unzählige weitere erschreckende Dinge wahrnehmen. Was auch immer man fürchtete, konnte man in Schattenhand erkennen. Taron suchte nach einem Ausweg. Doch der einzige Ausgang wurde von dem dunklen, riesenhaften Wesen versperrt. Es gab keinen Fluchtweg. Schattenhand trat näher auf Taron zu. Er begann, eine feste Gestalt anzunehmen. Taron erstarrte. Vor sich sah er ein kleines Mädchen mit leeren, toten Augen und blutüberströmt. Nana!
Sie so zu sehen, schien ihm unerträglich. Er kniff die Augen fest zusammen und versuchte das Bild zu verdrängen.
„Sie wird sterben. Sie ist bloß ein schwaches Menschenkind.“, flüsterte die Erscheinung. Taron hielt sich die Ohren zu. Er wollte das nicht hören. Doch die Schattenhands stimmte drang weiter auf ihn ein. „Der Tod ist ihr sicher. Vielleicht in vielen Jahren. Vielleicht nächsten Sommer. Vielleicht schon heute.“ Es war die Wahrheit. Selbst wenn er sie vor allen Gefahren schützte, konnte seine liebste Nichte immer noch an einer Krankheit sterben. Das Leben eines Menschen war zerbrechlich und das eines kleinen Mädchens umso mehr. Und wenn Nana starb, hatte Taron nichts mehr, auf das er sich stützen konnte. Nana war fröhlich, gutmütig, hatte ein großes Herz und sie verdiente es zu leben. Ihr Leben war das kostbarste was es gab. Sie durfte nicht sterben. Es wäre das Ende der Welt.
Die aufgeplatzten Lippen der entstellten Variante von Nana verzogen sich zu einem Grinsen. Sie trat auf den Schmied zu. Der Tod des Mädchens, den Schattenhand nun verkörperte, würde ihm erlauben, den Lebenswillen des Mannes vor ihm zu zerstören. Dann würde Schattenhand sich daran sattessen. Es streckte seine kalten Hände aus.
Taron fühlte Schattenhand auf sich zukommen. Doch er konnte sich nicht rühren. Taron war stark und tapfer, doch er hatte Angst. Große Angst. Eine Welt ohne Nana war unvorstellbar. Es war, als stünde er wieder auf der Wiese zwischen den unvorstellbar hoch reichenden Gräsern. Er war machtlos gegen den Tod. Aber Nana war noch nicht tot. Er musste sich dagegen wehren. Solange sie lebte, musste er kämpfen, egal wie schwer es war. Er zwang sich, die Augen zu öffnen. Schattenhand stand direkt vor ihm, die ausgestreckten Hände waren nur noch Zentimeter von ihm entfernt. Taron legte seine Arme um Nana und drückte sie fest an sich. Schattenhand schrie auf und versuchte sich loszureißen. Doch Taron presste ihn eisern gegen sein Brust. Ja, Taron hatte Angst. Aber er musste diese Angst akzeptieren. Er würde wie alle anderen damit leben. Denn alle sind gleich. Auch er war nicht anders. Er schloss die Angst mitsamt dem Wesen namens Schattenhand in sein Herz ein. Mit beidem würde er leben müssen.