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Die Anderen

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03.08.2003
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Die Anderen

Das kleine Mädchen hetzte keuchend durch den dichten Wald. Immer wieder peitschten ihr Zweige ins Gesicht, griffen nach ihrem dünnen Sommerkleidchen und zerkratzten ihre nackten Arme. Das Herz hämmerte ihr bis zum Hals hinauf, und die Luft schnitt bei jedem Atemzug wie mit glühenden Messern in ihre Lungen. Trotzdem wurde sie nicht langsamer. Sie stolperte über eine Wurzel und schlug der Länge nach hin. Keine Zeit zum Weinen. Nur ein trockenes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, dann raffte sie sich wieder auf. Ein Schuh blieb in einer Astgabel zurück. Egal. Weiter, nur weiter. Weg von dem Schnaufen hinter ihr, das schon nah war, so nah...

Das alte Freibad lag verlassen in der brütenden Hitze des späten Nachmittags. Der windschiefe Zaun, die halb verfallenen Umkleidekabinen und die verrostete Leiter des Sprungturmes kündeten davon, dass hier schon lange kein Badebetrieb mehr herrschte. Auch die zum Freibad gehörende Campingwiese war leer, bis auf ein kleines Zelt, das verloren in einer Ecke des Platzes stand.
Frank hatte gerade den letzten Hering eingeschlagen, ließ den Hammer ins Gras fallen und kauerte sich neben dem Zelt auf den Boden. Einige Minuten starrte er vor sich hin. Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn, doch er schien es nicht zu bemerken. Dazu war Frank zu beschäftigt. Immer und immer wieder lief vor seinem geistigen Auge der gleiche Film ab.

Das kleine Mädchen mit dem blonden Haar und den frechen blauen Augen.

Frank schlug die Hände vors Gesicht, um das Bild zu löschen, aber es half nicht.

Das bunte Kleidchen des Mädchens. Das dünne Stimmchen, das um Hilfe rief.

Frank schüttelte den Kopf und wimmerte vor sich hin. Nein, er wollte das Ende nicht sehen. Doch der Filmvorführer in seinem Kopf respektierte seinen Wunsch nicht.

Das Aufblitzen des Messers in seiner Hand. Das Kreischen des Mädchens, das bald in Röcheln überging. Die entsetzliche Stille danach. Wie eine weggeworfene Puppe hatte das Mädchen vor ihm im Gras gelegen, mit blicklosen Augen in den Himmel starrend und einem Menschen so ungeheuer ähnlich sehend.

Franks Hirn wurde von einem Dopaminstoß überschwemmt und seine Synapsen schalteten einen Gang hoch.

„Was habe ich nur getan?”, murmelte er vor sich hin.
„Was habe ich nur getan? Was habe ich nur getan?”, äffte ihn jemand in höhnischem kalten Tonfall nach. Da war sie wieder, die fremde Stimme.
„Du Schlappschwanz, du Arschgesicht!”, fuhr sie fort und wurde dabei nur eine Spur lauter. „Du weißt genau, dass es sein musste. Reiß dich zusammen. Hast du nicht den Sender in ihrer Hand gesehen?”
Ja, er hatte ihn gesehen. Frank tastete nach dem Ding in seiner Tasche. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie für die Anderen den Code gesendet hätte. Die Stimme hatte Recht wie immer. Das hatte er um jeden Preis verhindern müssen. Und trotzdem, die Tarnung hatte so verstörend perfekt ausgesehen.

Franks Augen waren jetzt weit aufgerissen. Die Hände hatte er vom Gesicht genommen. Eine Flut von Farben und Geräuschen strömte auf ihn ein und die Synapsen seines Hirns standen unter Dauerbeschuss. Unzählige elektrische Impulse huschten auf von Neuronen vorgegebenen Bahnen entlang. Aus dem Chaos der Sinneseindrücke formte sich ein Bild.

Keine zehn Meter von Frank entfernt stand ein Mädchen und blickte ihn an. Es trug ein buntes Sommerkleidchen und ihr schmales Gesicht wurde von blonden Haaren umrahmt. Eine hübsche Erscheinung, allerdings beeinträchtigt durch einen blutigen sichelförmigen Schnitt über ihrer Kehle, aus dem bei jedem krampfhaften Atemzug des Mädchens feiner roter Nebel sprühte. Außerdem hielt das Mädchen ein Messer in der Hand. Frank erkannte es. Es war seins.
Frank fühlte die Angst wie einen kalten Klumpen in seinem Magen. Seine Gedanken überschlugen sich. Da war sie also wieder. Selbst hier auf diesem gottverlassenen Campingplatz hatten die Anderen ihn aufgespürt. Ihre Botin musste es irgendwie geschafft haben, sich zu regenerieren und seine Fährte aufzunehmen. Und da die Anderen nun wussten, dass Frank ihnen gefährlich werden konnte, war das, was wie ein harmloses Kind erschien, jetzt auf Töten programmiert. Da machte er sich nichts vor. Zu groß war das Risiko, das er für sie darstellte.
Die Stimme meldete sich wieder und klang wie immer kalt und befehlsgewohnt. „Los, Arschgesicht. Du kannst sie immer noch stoppen. Schnapp dir die kleine Göre und mach sie kalt, aber diesmal richtig.”

Das Wort der Stimme war Gesetz.
Gehorsam tastete Frank, ohne den Blick von dem Mädchen zu wenden, neben sich nach dem im Gras liegenden Hammer und stand vorsichtig auf. Langsam näherte er sich ihr, den Stiel des Hammers mit schweißfeuchter Hand umkrampfend. Immer näher kam er dem Kind. Die Botin hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Nun betrug Franks Abstand zu ihr nur noch wenige Schritte und er konnte sehen, dass sie stärker mitgenommen war, als er anfangs gedacht hatte. Sie schwankte leicht hin und her und pumpte wie ein Maikäfer, um Luft zu holen. Dennoch war Frank auf alles gefasst. Den linken Arm hielt er angewinkelt vor seinem Körper, bereit Angriffe abzuwehren. Aber er musste sich beeilen, bevor das Mädchen sich erholte. Jetzt! Die Entfernung stimmte. Frank ließ den Hammer, den er in seiner hocherhobenen Rechten hielt, in einer blitzschnellen Bewegung auf die Schläfe des Mädchens niedersausen.
Die Botin war schneller. Eine kaum wahrnehmbare Drehung des Kopfes und der Schlag ging ins Leere. Eher beiläufig führte sie gleichzeitig einen Messerstich von unten her aus, der Franks linken Arm ritzte und seine Schulter traf. Damit nicht genug schnellte ihr linker Fuß nach oben und schmetterte Frank den Hammer aus der Hand. Keine Spur mehr von Schwäche. Frank sprang zurück und schrie auf vor Überraschung und Schmerz. Sie hatte ihn reingelegt.
Und das Mädchen stand da, mit weit zurückgebogenem Kopf, und lachte. Es war ein triumphierendes Kinderlachen, das von dem sich öffnenden halbkreisförmigen Schnitt über ihrer Kehle gespenstisch karikiert und mit rotem Blubbern begleitet wurde. Doch ihre blauen Puppenaugen lachten nicht. In ihnen funkelte Mordlust.

Franks Denken wurde von wahnsinniger Panik überschwemmt. Er drehte sich um und rannte, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war und das grässliche Lachen schallte hinter ihm her. Ein kurzer Blick zurück, und er sah, das Mädchen hatte die Verfolgung aufgenommen. Ihre Bewegungen waren ruckartig, so, als ob sie ein mechanisches Spielzeug wäre, dennoch war sie schneller als er und die Entfernung zu ihm schrumpfte. Entsetzt kreischte Frank auf und beschleunigte sein ohnehin schon enormes Tempo.
Ohne zu wissen, was er tat, hatte er plötzlich die Holme einer Leiter in den Händen und begann zu klettern. Frank wagte es nicht nach unten zu sehen, doch er konnte am Hallen der Sprossen hören, dass ihm das Mädchen folgte. Am Ende der Leiter angelangt zog er sich auf eine Plattform. Mit dem letzten Rest seines Verstandes begriff Frank, dass er auf dem Sprungturm des Freibades stand. Ein Zurück gab es nicht. Das Mädchen war am oberen Ende der Leiter angekommen und schickte sich an, auf die Plattform zu klettern. Das Messer hatte sie zwischen den Zähnen.
Frank wich langsam rückwärts gehend auf das Sprungbrett zurück, das bei jedem seiner Schritte leicht vibrierte. Das Mädchen stand jetzt auf der Plattform, die blutrote Sonne im Rücken und der laue Abendwind spielte mit ihrem Haar. Das Messer hatte sie wieder in der Hand, die Spitze auf Frank gerichtet. Sie lächelte immer noch und näherte sich ihm langsam, ihren roten Nebel vor sich her sprühend.
Frank merkte, wie seine Beine anfingen unkontrolliert zu zittern. Er hatte das Ende des Sprungbrettes erreicht. Ihm blieb keine Wahl. Er drehte sich um und wollte springen, doch im letzten Moment sah er es. Tief unter ihm lag die weiß schimmernde winzig kleine Fläche des leeren Schwimmbeckens. Verzweifelt versuchte Frank, sich mitten im Schwung zu drehen und nach hinten zu werfen, doch er schaffte es nicht. Er fiel. Instinktiv ruderte er mit den Armen auf der Suche nach einem Halt.
Als Frank wieder denken konnte, klammerte er sich mit beiden Händen an der Kante des Sprungbrettes fest, während sein Körper in der Luft hin und her pendelte.
Über sich sahen seine schreckgeweiteten Augen das Gesicht des Mädchens, das interessiert zu ihm herunterblickte. Dann zeigte sie ihm das Messer und Frank schrie seine ganze hilflose Wut und seine Angst aus sich heraus.

Aus der „Burlington News„ vom 30.08.2003
Toter im Freibad gefunden
Wie die Polizei mitteilt, wurde gestern durch Spaziergänger im alten Freibad der Stadt eine Leiche gefunden. Es handelt sich um den 37-jährigen Frank Corman, der vor mehreren Wochen aus der geschlossenen Abteilung der psychiatrischen Klinik von Madison entflohen ist. Der völlig zerschmetterte Leichnam des Mannes lag unter dem Sprungturm im leeren Schwimmbecken. Die Polizei geht von Unfall oder Selbstmord aus.

Irgendwo tief im Wald holte ein Mädchen einen kleinen schwarzen Kasten hervor und gab den Zahlencode ein.

 

Hi!

Ein Glück, ich dachte schon das würde eine Geschichte über einen Kinderschänder.
Mir hat die Geschichte sehr gefallen, vor allem das Mädchen kam als, wie soll ich's nennen, Monster sehr überzeugend rüber. Eine Grusel- Stimmung hat sich bei mir allemal eingestellt.
Was mir nicht so gefallen hat, war der Zeitungsbericht am Ende. Das klingt mir so abgedroschen.

Hier noch zwei kleine Fehler:

Weg von dem Schaufen hinter ihr, das schon nah war, so nah...

Ich denke mal du wolltest "Schnaufen" sagen.

Der bunte Kleidchen des Mädchens.

Das

Ansonsten wie gesagt: Schöne Geschichte!

gollum

 

Hallo Sturek,

die Geschichte fand ich nicht schlecht, wenn auch nicht überwältigend. Das Thema mit dem Wahnsinnigen, dem niemand glaubt und der am Ende doch Recht behält, ist war nicht neu, aber ich lese so etwas ganz gerne.
Wie auch Existence frage ich mich allerdings, was Frank da auf einmal im Schwimmbad machte? Habe ich da etwas überlesen? Plötzlich klettert er die Leiter rauf ... :confused:
Da gehört auf jeden Fall noch eine kurze Erklärung hin, muss ja gar nicht lang sein.

Details:

Nur ein trockenes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle,
Das "sich" ist hier überflüssig, denke ich.
Frank hatte gerade den letzten Zelthering eingeschlagen
Da im gleichen Satz und im Sazu zuvor jeweils nochmal das Wort "Zelt" auftaucht, plädiere ich dafür, es einfach bei "Hering" zu belassen, um die Wiederholung zu meiden.
Franks Hirn wurde von einem Dopaminstoß überschwemmt und seine Synapsen schalteten einen Gang hoch.
Hm ... muss das so medizinisch ausgedrückt werden?
Die Stimme hatte recht wie immer.
-> "Die Stimme hatte Recht, wie immer."
beeinträchtigt durch einen blutroten sichelförmigen Schnitt über ihrer Kehle, aus dem bei jedem krampfhaften Atemzug des Mädchens feiner roter Nebel sprühte.
Auch die Wiederholung liest sich nicht so gut. Einmal rot reicht, denke ich ... ich würde das "blutrot" streichen.
den Stil des Hammers mit schweißfeuchter Hand
-> "Stiel"

Die Sprache las sich recht flüssig, das gefiel mir. Der Inhalt war eher Durchschnitt, aber ich hab die Story gern gelesen.

Ginny

 

Hallo!
Erstmal dank euch für das Interesse an meiner Story sowie für eure Kritik und auch die lobenden Worte.

@Ginny Rose und Existence:
Was das Auftauchen von Frank im Schwimmbad betrifft: Ich hatte doch geschrieben, dass die Campingwiese an das Schwimmbad angrenzt. Vorsichtshalber habe ich sie jetzt aber in das Schwimmbad hinein verlegt. Ist das jetzt o.k? Oder war euch da etwas anderes unklar?

@Gollum:
Zeitungsberichte sind doch nun mal in diesem Stil geschrieben. Ich brauchte den Artikel ja nur, um es ganz offiziell zu machen, das Frank ein Psychopath ist.

@Golum und Ginny Rose:
Peinlich, peinlich, was ihr alles für Fehler gefunden habt. "Stil des Hammers", also nein wirklich...
:D
Habe ich alles korrigiert.

@Ginny Rose:
"Nur ein trockenes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle" ist doch richtig oder. Ohne "sich" klingt das irgendwie falsch. Ich könnte aber auch "kam aus ihrer Kehle" daraus machen. Aber ich glaube ich lasse es erst mal so.
Auch die Fachwörter möchte ich so stehen lassen. Es kam mir nur darauf an, zu zeigen, dass etwas in Franks Kopf passiert ohne lange Erklärungen liefern zu müssen.

 

Tolle Story! Was ich jetzt aber nicht verstanden habe: war der Mann jetzt verrückt oder doch nicht? Das Mädchen war ja schliesslich kein unschuldiges kleines Kind sondern recht wehrhaft, und am Ende hat es ja wirklich einen Zahlencode eingegeben. Nur wozu, wenn Frank doch ohnehin schon tot war? Oder ging es mal wieder um das Schicksal der Welt? :cool: Die Stimme, die Frank hörte, kann dann von einem Überwesen stammen, das ihn als Vollstrecker auserwählt hatte.

Arry

 
Zuletzt bearbeitet:

Also ich habe die Story absichtlich so geschrieben, dass der Leser selber viel Raum für seine eigene Fantasie hat. Ich sehe, bei dir hats funktioniert. Deine Lesart mit der Stimme als Überwesen ist zumindest anfangs auch plausibel. Spätestens mit dem Zeitungsartikel sollte aber alles klar sein. Frank ist ein Psychopath, der zufällig auf Grund seiner besonderen Fähigkeiten als Verrückter den Anderen auf die Spur gekommen ist.
Oder vielleicht ist er doch nicht verrückt? ;)
Selbst nach dem Zeitungsartikel muss das ja nicht sein.

Den Zahlencode hat das Mädchen (die Botin) erst eingegeben, nachdem sie sicher sein konnte, dass Frank, der als einzigster die Pläne der Anderen durchkreuzen konnte, dahingeschieden war. Mit dem Schicksal der Welt liegst du gar nicht so falsch.
Zuerst hatte mein Alpha-Reader als letzten Satz noch sowas wie "In hunderten von Raketensilos begann der Countdown" oder so ähnlich im Sinn. Aber dann habe ich mich entschieden, auch hier den Leser den Rest weiter spinnen zu lassen.

 

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