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Die andere Seite
Noch drei Stationen, dann konnte ich aussteigen. Ich war müde und wollte noch einen Kaffee in meinem Stammcafe trinken, so einen Nachmittags-Abschluss-Kaffee in gemütlicher, vertrauter Umgebung. So machte ich es häufig.
Die U-Bahn war nicht sehr voll und sauste durch ihren dunklen Schlund. Wände mit Kabelwürmern, schmale begehbare Notflächen und geheimnisvollen Nischen huschten vorbei. Immer wieder öffneten sich mit Betonstreben gestützte Torbögen mit Blick ins schwach beleuchtete Gegenüber. Die Schlundhälfte der entgegenkommenden Bahn. Ab und an kam diese Bahn tatsächlich und sekundenlang konnte man hinüber sehen, zu den Anderen. Doch bevor man sie sah, waren sie auch schon wieder verschwunden. Wie Geisterzüge – dachte ich, wenn es denn mal geschah.
Gerade wollte ich mein Buch aus der Tasche ziehen, als ich bemerkte … ja … ich bemerkte etwas Unerhörtes, etwas, das ich im ersten Augenblick noch gar nicht fasste: Mein Spiegelbild … stand auf … drehte sich um und ging … in den rückwärtigen Teil des sich in den anderen Scheiben spiegelnden Wagens.
Es hatte sich von mir getrennt. Das Fenster neben mir, in dem das Spiegelbild hätte zu sehen sein müssen … war leer.
Ich war wie gelähmt. Konnte mich nicht rühren und spürte nur das wilde Pochen meines Herzens. Niemand schien diesen absolut unmöglichen, aber stattgefundenen Vorgang bemerkt zu haben. Nicht verwunderlich, denn wer achtet schon auf das Spiegelbild seines Nachbarn oder Gegenübers? Wer schaut auf dieses vollkommen alltägliche, uninteressante und nur schemenhafte Doppel? Die Menschen tauchen in Zeitungen, Bücher oder in sich selbst hinein. Fragen konnte ich niemanden, man hätte mich sicher für verrückt gehalten.
Mein Blick krallte sich in die Leere neben mir. Sie konnte nicht sein – durfte nicht sein … aber sie war da … mein Spiegelbild war verschwunden. Wo war es? Selbst wenn ich hätte aufstehen wollen, es wär mir nicht gelungen. Irgendeine Kraft lähmte mich, hielt mich auf dem Sitz fest.
Noch wenige Augenblicke der Dunkelheit des Tunnels, neben mir das Fenster ohne mein Spiegelbild, dann war es vorbei. Das Licht des nächsten Bahnhofs vertrieb alle Spiegelbilder.
Ich weiß nicht, wie ich es schaffte, aus dem Zug zu steigen, die Rolltreppe hinauf ans Tageslicht zu kommen. Mein Kopf fühlte sich seltsam leer an. Was da geschehen war, war undenkbar. War aber geschehen. Nur eins blieb mir als Lösung: Ich musste ein paar Sekunden eingenickt sein. So etwas gibt es. Den Sekundenschlaf. Und in diesen Sekunden hatte ich das Ganze geträumt. Doch dieser Gedankenausweg überzeugte mich nicht so ganz.
Rasch lief ich von der U-Bahn Station zu meinem Cafe und sofort vorbei an einigen Schaufenstern. Ich sah mein Spiegelbild, in jedem Fenster, sehr beruhigend und ganz normal. Mein Herz klopfte wieder leiser und beim Betreten des Cafes fühlte ich mich beinahe gut. Ich bestellte meinen gewohnten Capuccino und versuchte das U-Bahn Erlebnis zu verdrängen. Gänzlich gelang es mir nicht, denn ohne es zu wollen, kam mir der Gedanke, dass es ja auch ein Spiegelbild-Cafe geben musste, das ich im Moment nicht sehen konnte, da es draußen zu hell war. Die riesigen Scheiben des Cafes boten genug Raum und es mochten sich darin vielleicht Dinge abspielen, von denen weder ich noch sonst jemand eine Ahnung hatte.
Blödsinn … ich schob die Gedanken weg … schob sie einfach zur Seite und grüßte ein paar nette Menschen, die ich kannte.
Eine sehr sympathische Dame, mit der ich mich schon häufiger unterhalten hatte, setzte sich mir gegenüber und erzählte mir eine Geschichte, in der unvermuteter, plötzlicher Schlaf eine Rolle spielte. Sie war ein Mensch, der niemals nachmittags schlief. Doch eines Tages passierte es denn doch. In einem Winter. Es war schon dunkel und es muss später Nachmittag gewesen sein. Da sie nicht auf die Uhr geschaut hatte, war ihr die Zeit nicht bewusst gewesen. Sie fühlte sich ein wenig müde, legte sich auf ihre Couch und döste ein. Als sie zu sich kam – mit anderen Worten – erwachte, schaute sie auf die Uhr. Da war es sieben Uhr. Etwas verwirrt, sich angekleidet auf der Couch zu finden, stand sie auf, wollte sich das Frühstück machen und musste feststellen, dass es sieben Uhr am Abend war.
Bei ihr ging es zwar nicht direkt um Sekundenschlaf, aber um die Verwirrung, zu der ein kurzer, unvermuteter Schlaf führen kann. Ihre Geschichte beruhigte mich sehr. Bestätigte sie mir doch meinen, wenn auch nur halbherzigen Verdacht. Als ich heim ging fühlte ich mich sehr viel besser.
Nach einigen Tagen, in denen ich ziemlich beschäftigt war, dachte ich dann kaum noch an mein Erlebnis. Und nach ein paar U-Bahnfahrten, in denen mein Spiegelbild, getreu seiner Aufgabe, brav neben mir sitzen blieb, gar nicht mehr.
An einem trüben Tag rief mich eine meiner innigsten Freundinnen an. Probleme! Selbstverständlich fuhr zu ihr. Mit der U-Bahn. Und meinem folgsamen Spiegelbild.
Die Probleme meiner Freundin waren so alt wie die Welt, nur wenn sie einen treffen, zeigen sie sich jedes Mal neu und scheußlich. Meine Freundin ist zehn Jahre jünger als ich und bestimmte Dinge, die mich inzwischen nicht mehr aus der Bahn werfen würden, treffen sie noch gewaltig.
Sie empfing mich mit leicht verquollenen Augen. Kaum stand ich vor ihr, fiel sie mir in die Arme. Weinend erzählte sie mir, dass ihr Mann sie betrügen würde. Sie wisse es … ganz sicher … da gäbe es keinen Zweifel!
Als ich ein wenig nach Beweisen pochte, kamen ein paar, die mir eher spärlich und an den Haaren herbeigezogen schienen. Einige Abende sei er viel später als gewöhnlich heim gekommen, weil er, wie er behauptete, noch im Büro zu tun hatte. Doch dort rief sie ihn an und er war nicht mehr da. Zumindest ging er nicht an seinen Apparat und sein Handy war ausgeschaltet. Das wiederum, behauptete er, hätte er ausgeschaltet um nicht gestört zu werden.
Beinahe war ich versucht zu lachen, was ich mir jedoch verkniff, denn ich wollte sie auf keinen Fall kränken. Ich kenne ihren Mann und ich weiß, was für ein Arbeitstier er ist. Wenn er meine Freundin betrügt, dann allein und gänzlich mit seiner Arbeit, denn für sie opfert er tatsächlich zu viel Zeit, Zeit die diese beiden Menschen gemeinsam verbringen sollten. Nicht ganz überzeugt, aber ein wenig beruhigter, konnte ich sie nach einiger Zeit, mit dem großen Versprechen immer für sie da zu sein, wieder verlassen.
Mein Weg heim führte wieder zur U-Bahn, wieder hinunter in die Unterwelt. Allerdings noch voll mit den Gedanken an meine Freundin. Einerseits ganz froh darüber, dass mich derartige Probleme nicht mehr plagten, andererseits mit einem Rest Sehnsucht genau danach. Einer Sehnsucht, der ich nicht erlaubte, stark zu werden, zu reifen, um mich zu beunruhigen. Und doch … latent gab es sie, immer wieder unvermutet und von mir zur Seite geschoben.
Auf dem Bahnsteig standen recht viele Leute und ich ahnte, dass die eben einfahrende Bahn voll werden würde. Und so ließ ich die Ungeduldigen, Drängelnden gerne ohne mich aus-und einsteigen. Lieber wartete ich die wenigen Minuten auf die nächste Bahn, die tatsächlich weitaus leerer war. Ich setzte mich auf einen Fensterplatz. Die Bahn fuhr los. Fünf Stationen lagen vor mir und ein spannendes Buch in meiner Tasche.
Noch bevor ich es heraus nehmen konnte, geschah das Unfassbare wieder: Mein Spiegelbild stand auf und entfernte sich … wie beim letzten Mal … in den rückwärtigen Wagenteil. Mein entsetzter Blick konnte es nur kurz verfolgen, weil Sitze, Stangen und Menschen … hier wie da … ihn blockierten.
Mein Herz schlug wie ein Presslufthammer und ich fühlte wie sich Schweiß auf meinem Rücken sammelte. Ein fieses Gefühl. Aber diesmal konnte ich mich bewegen.
Ich stand auf und ging, mit einem Empfinden von leichtem Wahnsinn, durch den Wagen. Zumal weder in der Bahn, noch in den sich widerspiegelnden Scheiben weitere verrückte Dinge geschahen. Und auch keiner der Fahrgäste war etwa verschwunden oder verhielt sich seltsam. Wie beim letzten Mal achtete niemand besonders auf mich. Wer achtet schon auf eine Frau, die suchend durch den U-Bahnwagen geht. Keiner bemerkte den Verlust meines Spiegelbildes.
Ich aber … suchte … nach ihm. Einerseits fühlte sich das wie Wahnsinn an, andererseits sagte mein Inneres, dass ich nicht wahnsinnig war.
Ich suchte und … fand. Auf der hintersten Bank an den Fensterplätzen entdeckte ich mein Spiegelbild. Auf der Bank saß ein zeitungslesender Mann. Alleine. Vertieft in einen Artikel. Was allerdings nun geschah, war … unvorstellbar. Der zeitungslesende Mann spiegelte sich im Fenster. Doch … da las er nicht, sondern beugte sich zu meinem, vor ihm hockenden Spiegelbild hinunter. Ich selbst aber stand. Beide Spiegelbilder sprachen – unhörbar – miteinander. Mein Spiegelbild griff nach der Hand des Spiegelbildmannes. Behutsam zog er mein Spiegelbild hoch und legte seine Hand zärtlich auf die Schulter meines Spiegelbildes. Beide Spiegelbilder fanden sich, soweit man das erkennen konnte, in einem Blick voller Sehnsucht und … Liebe.
Dann … war es vorbei. Schwärze im Fenster. Der reale Mann legte seine Zeitung zusammen und auch das Spiegelbild des Mannes legte die Zeitung zusammen – benahm sich, wie ein Spiegelbild sich zu benehmen hat.
Mein Spiegelbild war in dieser Sekunde auch nur noch mein Spiegelbild und stand korrekt so wie ich, im Gang.
Der Mann mit der Zeitung stand auf. Auch sein Spiegelbild. Ich schaute ihn an. Hatte er nichts bemerkt? Gar nichts? Sein Blick streifte mich flüchtig. Flüchtig mit einem winzigen, kaum wahrnehmbaren Zögern. Dann ging er Richtung Tür.
Da stand ich. Völlig verwirrt, irritiert, benommen und noch drei Stationen von meiner Haltestelle entfernt.
Ich setzte mich. Mein Spiegelbild setzte sich. Ich bewegte meine Hand, fuhr durch meine Haare. Mein Spiegelbild widerspiegelte alles. Und doch hatte mein Spiegelbild eben noch vor einem zweiten Spiegelbild gekniet. Eindeutig in einer Situation in der es … um Liebe ging. Wie, um Gottes Willen, war das möglich?
Ich stellte mir den Mann vor. Kannte ich ihn? Hatte ich irgendwann mit ihm zu tun gehabt? Nein, er war mir absolut fremd. So sehr ich versuchte ihn in einer Nische meiner Erinnerung zu finden, ich kannte ihn nicht. Aber mein Spiegelbild … es kannte ihn … und es kannte ihn gut.
Nach diesem Erlebnis hatte ich zwei Probleme: Nummer eins: das absolut irrwitzige Verhalten meines Spiegelbildes und Nummer zwei: Seine Beziehung zu dem Spiegelbild eines mir völlig fremden Mannes.
Mit Nummer eins, so schwor ich mir, würde ich mich ab jetzt anders beschäftigen. Nicht mehr vor Angst und Verwirrung schlotternd, sondern beobachtend.
Das führte automatisch zu Nummer zwei. Herauszufinden, wer dieser Mann war. Wobei ich mich fragte, wie ich das anstellen sollte, denn es war sehr ungewiss, wann dieser Mann mir wieder begegnete. Ob er mir überhaupt noch einmal begegnete. Solange ich ihn nicht sehen, ihm an einem abgedunkelten Fenster gegenübersitzen konnte, würde auch mein Spiegelbild nicht mit dem seinen zusammentreffen.
Was für eine groteske Situation.
Meine nächsten U-Bahnfahrten verliefen allerdings absolut unspektakulär. Nichts geschah. Mein Spiegelbild verhielt sich … wie sich ein Spiegelbild zu verhalten hatte. Es verging so viel Zeit, dass ich schon wieder begann, an den gesamten Erscheinungen zu zweifeln. An meiner möglicherweise überbordenden Fantasie, Einbildung, Vorstellungskraft.
Doch dann begegnete ich eines Tages auf der Straße diesem Mann. Er kam mir entgegen, sein Blick fiel kurz auf mich, wieder mit diesem kaum wahrnehmbaren Zögern. Wenn er denn überhaupt zögerte. Er ging an mir vorbei. Das ging so rasch, dass ich nicht reagieren konnte. Wie auch? Ich kannte ihn nicht. Was hätte ich sagen sollen? Entschuldigen Sie bitte … aber kennen Sie mein Spiegelbild?
Dennoch schlug mein Herz hart.
Ich schaute dem Mann nach und sah, dass er Richtung U-Bahn ging. Nun entschloss ich mich blitzartig, lief hinterher, durchs Sperrengeschoss, hinunter auf den Bahnhof und schaffte es in den gleichen Wagen zu steigen.
Wieder setzte er sich in den hinteren Teil des Wagens. Ich setzte mich einige Reihen vor ihn, an einen freien Fensterplatz. Ihn zu sehen war nicht schwer. Er saß mit dem Rücken zu mir und hatte seine Zeitung vor sich.
Gut – ich war bereit. Bezwang Bangigkeit, inneren Tumult und Unruhe soweit wie möglich, da ich ja nun wusste, was auf mich zukommen konnte. Und ich schaute nicht ins Fenster. Ein Gefühl sagte mir, ich solle es nicht tun.
Die Bahn brauste in den Tunnel. Ich sah es nicht, ich spürte es. Mein Spiegelbild stand auf und lief nach hinten. Ich stand auf, lief ihm nach und setzte mich stumm dem zeitungslesenden Mann gegenüber. Er blickte nicht auf und ich sprach ihn nicht an, weil eine innere Stimme mich daran hinderte.
Noch innerhalb der Fahrt passierte es. Das Spiegelbild des Mannes und meines fanden sich im Fenster, standen sich gegenüber. Unberührt las der reale Mann weiter in seiner Zeitung.
Beide Spiegelbilder verhielten ein paar magische Sekunden mit ineinander versunkenem Blick im Fenster. Sie nahmen sich bei den Händen, drehten sich um und ... verschwanden … die Fenster blieben leer … und dunkel. Jedoch nur noch ein oder zwei Sekunden, denn der Zug fuhr ein in die nächste Station. Helligkeit, Türen auf, Menschen, Einsteigende, Aussteigende. Der Zug fuhr wieder los.
Mit einer seltsamen inneren Leere saß ich an meinem Platz. Und einem ebenso unerklärlichen Empfinden, als sei eine Sache … ja, abgeschlossen. Welche auch immer.
Der Mann mir gegenüber schien tatsächlich nichts bemerkt zu haben. Und plötzlich, als wäre nichts geschehen, waren unsere Spiegelbilder wieder da – absolut normal. Meine Hand bewegte sich identisch mit jener im Fenster, ebenso wie die Zeitung des Mannes sich im Fenster widerspiegelte.
Also war alles, was ich erlebt, gesehen, beobachtet hatte – Einbildung? Reine Fantasie?
„Nein“, sagte der Mann, der meine Gedanken zu lesen schien. Er faltete seine Zeitung zusammen, lächelte mich freundlich an und stand auf. „Alles war so, wie Sie es sahen. Die Beiden sind nun zusammen. Und so sollte es sein. Es gibt unzählige davon. In unzähligen anderen Dimensionen. Und manchmal treffen sie sich … irgendwie … irgendwo. Diesmal war es hier. Und wir beide“, sein Lächeln schien mich beruhigen zu wollen, „wir haben nun zwei neue Spiegel-Partner. Ich hoffe sie werden glücklich.“
Er drehte sich um und ging zur Tür, die sich gleich öffnen würde. Ich konnte nichts fragen, konnte nicht aufstehen. Der Zug hielt. Der Mann stieg aus. Ich blieb sitzen … auf meinen Fragen und meiner Ungewissheit.
Es dauerte lange, bis ich alle unbeantworteten Fragen mehr und mehr von mir schob. Nie wieder verlor ich mein Spiegelbild.
An einem Gedanken allerdings hielt ich in mir fest: Wenn die beiden Spiegelbilder sich gefunden hatten, in welcher Dimension auch immer, wünschte ich meinem Spiegelbild, dass sich die Sehnsucht erfüllen würde, welche mir … bis jetzt… versagt geblieben war.