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Die andere Art von Trauer und Trost

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15.10.2003
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Die andere Art von Trauer und Trost

Tränen verlassen ihre Augen, bahnen sich ihren Weg über die geröteten Wangen und landen auf ihrem grauen Nachthemd, dass sie immer noch trägt, obwohl es schon früher Nachmittag ist. Sie sitzt zusammengekauert in ihrem Bett, den Blick zum Fenster gerichtet und es wirkt, als sei sie gar nicht da. Sie fühlt sich leer und verlassen, es ist als ob sie nur eine Hülle wäre, ohne Leben, ohne Freude und ohne Emotionen. Aber leider ist es nicht so. Die Emotionen sind da, stärker als je zuvor und deswegen ist da noch Leben in ihr, doch die Freude ist gewichen. Immer wieder stellt sie sich die gleiche Frage. Immer wieder spürt sie den Schmerz erneut aufkommen. Immer wieder schluckt sie schwer, als könnte sie damit den Schmerz, die Trauer verschwinden lassen und Geschehenes ungeschehen machen. Immer wieder zwingt sie sich die Augen offen zu halten, um nicht den Bildern folgen zu müssen, die sich vor ihrem geistigen Auge abspielen, sobald sie es wagt, sie zu schließen.

Wenn man sie fragen würde, was sie jetzt fühlt würde sie nur vage antworten können. Es ist als ob jemand auf dich zukommt, dir das Herz aus dem Körper reißt, es auf den Boden wirft und vor dir mit Freude darauf herumspringt. Du fühlst dich machtlos, kannst keinen Einspruch erheben und auf Begnadigung hoffen. Du kannst es nicht ändern und bist gezwungen damit umzugehen.

Und obwohl sie weiß, dass jeder einmal diese Erfahrung machen muss, ist es keine Erleichterung für sie. Besser andere als sie selbst. Wird der Schmerz jemals vergehen, wird die Zeit wirklich alle Wunden heilen? Sie ist sich nicht sicher.

Immer wieder kehren Erinnerungen zurück. Wie hat er sich angefühlt? Wie hat er gerochen? Warum war sein Lächeln so stärkend für sie? Was haben sie gemeinsam erlebt? Wie oft hat er ihr gesagt, wie sehr er sie liebt, obwohl er nie zu hoffen gewagt hätte, seine Traumfrau zu finden?

Und jetzt? – Alles weg. Er, seine Wärme, sein Lachen, sein sanfter Blick, sein ruhiges Gemüt……

Wenn er sie nicht mehr geliebt hätte – ok.
Wenn sie sich auseinander gelebt hätten – ok.
Wenn irgend Etwas anderes der Grund gewesen wäre – ok.

Leider war es das nicht. Sie wurden getrennt und nicht gefragt, ob es für sie in Ordnung ist. Nein, die Entscheidung hat jemand anders für sie getroffen und sie mussten sich fügen – ob sie wollten oder nicht.

Sie steht auf, geht müde und lustlos aus dem Zimmer. Wie automatisiert bewegt sie sich auf das Badezimmer zu, streift ihr Nachthemd ab und steigt unter die Dusche. Vielleicht funktioniert es diesmal. Vielleicht kann sie sich heute die Wut, die Trauer und den Schmerz vom Körper waschen. Vielleicht fühlt sie sich heute besser, wenn sie geduscht hatte.

Das warme Wasser läuft über ihren Kopf, ihr Gesicht, ihre Schultern und den Rest ihres Körpers. Es vermischt sich mit den Tränen und nimmt sie mit, aber der Schmerz und alles andere, das sie beseitigen wollte bleibt. Wie auch die Tage zuvor. Es hat auch heute wieder nicht funktioniert.

Entmutigt steigt sie aus der Dusche, nimmt ein Badetuch aus dem Schrank, bindet sich dieses um und setzt sich erneut auf das Bett. Den Blick wieder durch das Fenster in den Himmel gerichtet. Kraftlos, müde und enttäuscht vom Leben sitzt sie da. Auch in diesem Punkt ist sie seit den letzten Tagen nicht weitergekommen.

Es läutet an der Tür. Sie reagiert nicht. Auch da hat sie nicht die Kraft sich zu ändern. Seit Tagen läutet das Telefon, sie möchte mit niemandem reden. Seit Tagen versucht man sie zu kontaktieren, aber sie möchte nicht Stellung beziehen. Möchte alleine trauern, versuchen alleine den Schmerz zu überwinden und selbst wieder zu leben beginnen. Aber das braucht Zeit und die Zeit nimmt sie sich, egal wie es die anderen sehen, sie müssen es akzeptieren.

Die Türklingel meldet sich erneut. Es kommt ihr der Gedanke, die Tür vielleicht doch zu öffnen, vielleicht ist das der erste Schritt. Langsam steht sie auf, richtet das Badetuch zurecht und geht zur Tür.

Mit unsicheren Händen greift sie zum Türknopf, legt ihre Finger darum und überlegt, ob sie öffnen soll.

Ein weiteres Klingeln ermutigt sie dann doch zu öffnen. Sie dreht den Knopf, die Tür springt auf und sie weicht einen Schritt zurück.

Vor ihr steht jemand, den sie nur flüchtig kennt. Jemand, zu dem sie nie wirklich Kontakt aufgenommen hatte, aber von dem sie weiß, dass auch er trauert.

Er bewegt sich langsam mit zwei Schritten auf sie zu und zu ihrer Überraschung sagt er kein Wort. Er nimmt sie einfach in den Arm, drückt sie an sich und sie verharren in dieser Haltung eine ganze Weile. Es war ein angenehmes aber ungewohntes Gefühl. Dafür, dass sie diesen Menschen zum ersten Mal umarmt, fühlt sie sich eigenartiger Weise sehr wohl. Sie schweigen während der Umarmung und es wirkt nicht fehl am Platz. Es ist gut so wie es ist.

Dann löst er sich langsam von ihr, sieht sie an und sagt mit leiser, sanfter Stimme: „Zieh dir etwas an, wir fahren mal ein bisschen durch die Gegend.“

Was? Was sollte das jetzt? Sie will ja gar nicht weg. Sie möchte hier bleiben, in ihrem Bett und möchte nicht reden und nichts erklären. Möchte nicht unter Leute und auch sonst nichts.

Er sieht ihren fragenden, leicht trotzigen Blick und sagt: „Bitte!“

Was liegt ihm daran, mit mir weg zu fahren? Wo möchte er hin? Was hat er vor?
Aber irgendwie wirkt seine Bitte und sie setzt sich in Bewegung, geht zurück ins Schlafzimmer, zieht sich eine Jeans an, einen Pullover, Socken und Schuhe. Ihr Aussehen ist ihr nicht wichtig, sie sollte sich ja nur etwas anziehen. Sie bürstet sich kurz die Haare und geht wieder zurück in den Flur. Er steht noch genauso da wie vorher. Der Ausdruck seiner Augen zeigt, dass auch er sehr wenig geschlafen haben muss. Dicke Augenringe zeichnen sich in seinem Gesicht ab.

Sie öffnet die Tür, nimmt den Schlüssel von der Kommode und geht hinaus. Er folgt ihr wortlos und schließt die Tür. Sie gehen gemeinsam zum Auto, steigen ein und der Wagen setzt sich in Bewegung.

Die Fahrt verläuft ebenfalls schweigend und wieder wirkt es nicht unangenehm. Sie ist erstaunt wie wohl sie sich außerhalb ihrer Wohnung fühlt und genießt sogar ein bisschen die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut.
Die Umgebung verändert sich. Sie fahren hinaus aus der Stadt und eine Straße entlang, die durch eine Reihe von Feldern, Wäldern und vereinzelten Häusern führt.

Entspannung macht sich in ihr breit und als der Wagen hält, weiß sie zwar nicht wo sie ist, aber sie freut sich darauf, sich in dieser ruhigen Umgebung bewegen zu können, ohne dass die Ruhe sie bedrückt.

Sie steigen beide aus dem Wagen, er nimmt ihre Hand und sie gehen auf einem schmalen Weg in Richtung Wald, der sich vor ihnen erstreckt.

Noch immer schweigen sie und sie freut sich darüber, dass ihr dieses Mal keine Fragen gestellt werden, niemand versucht sie zu erheitern oder sie bemitleidet. Nein, sie fühlt nur seine Wärme und geht mit ihm durch den Wald spazieren. Und sie hätte nie gedacht, dass sie sich dabei mehr verstanden und getröstet fühlen würde, als bei den Menschen, die versucht haben, Verständnis und Trost durch Worte zu spenden.

Nach einiger Zeit weichen sie vom Weg ab und gehen quer durch den Wald, verlassen diesen und kommen zu einer großen Wiese. Der Eindruck, den sie jetzt hat lässt sie lächeln.

Der dunkle Wald hinter ihr, das grüne, leuchtende Gras vor ihr und der blaue Himmel über ihr. Es ist als hätte sie das erreicht, was sie bis jetzt mit den Duschaktionen bezweckt hatte.
Der Druck fiel von ihr ab und sie hatte das Gefühl, dass ihr das Atmen wieder leichter fällt, sie musste nicht mehr angestrengt schlucken, weil das Gefühl des Erstickens nachgelassen hatte.

Sie atmete tief durch, löste sich von seiner Hand und ging langsam in die Mitte der Wiese. Dort setzte sie sich auf das weiche Gras und wartete auf ihn, der das gleiche Tat. Er setzte sich ihr gegenüber, legte die Hand auf ihr Knie und schwieg weiterhin.

Es war neu für sie. Und sie wusste nicht, warum sie es befreite, einfach hier zu sein, mit jemandem den man kaum kennt und einfach nur zu schweigen.

Langsam kam in ihr das Gefühl hoch, dass sie sprechen möchte und ihm erzählen, was in ihr vorgeht. Sie möchte ihm freiwillig all das sagen, was sie den anderen nicht erzählt hatte. Sie wollte dass er sie verstand. Was sie jedoch nicht wusste war, dass er es bereits jetzt schon tat. Worte waren nicht nötig.

Sie begann leise und undeutlich zu erzählen. Anfangs waren es nur Bruchstücke und bildeten sich dann zu ganzen Sätzen. Sie sah ihn nicht an, beachtete ihn nicht. Sie erzählte einfach, als würde sie mit sich selbst reden.

Sie sprach von ihm, wie er war, was er tat, was sie so an ihm liebte. Erzählte von dem was sie gemeinsam erlebt hatten und sie lächelte zwischendurch, wenn sie sich an eine witzige Situation erinnern konnte. So verging die Zeit und mit der Zeit fiel immer ein Stückchen ihrer Befangenheit ab, bekam das Gefühl ihrer eigenen Sicherheit wieder zurück und konnte durch das was sie sagte, einen Teil ihrer Vergangenheit bewältigen. Selbst als sie begann von dem Tag zu erzählen, an dem sich alles verändert hatte.

Wie sie am morgen gemeinsam aufgestanden waren und gefrühstückt hatten, wie sie sich bei der Haustür zum Abschied geküsst hatten, tagsüber noch telefonierten, um einander zu sagen, dass sie sich lieben und sich auf den gemeinsamen Abend freuten, sie besprochen hatten, was es zum Abendessen geben würde und dann……….

Dann kam der Anruf. Der Weg ins Krankenhaus. Der Weg auf die Intensivstation. Der letzte Blick. Der letzte Atemzug. Die letzte Begegnung.

Ein Autounfall. Verursacht durch einen betrunkenen Fahrer, der sein Fahrzeug nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ein Unfall, der ihr den Mann, den sie liebte aus dem Leben riss.

Nachdem sie dann von den vergangen Tagen gesprochen hatte, wie leer sie sich fühlte und wie sich die Menschen um sie herum bemüht hatten sie aufzumuntern, ohne ihr damit zu helfen, wagte sie einen Blick in das Gesicht des Menschen, der ihr solang zugehört hatte ohne ein Wort zu sagen. Er war einfach nur da gesessen, hat ihr zugehört und ihr Knie gestreichelt, ohne Ansprüche zu stellen, ohne nachzufragen, ohne den Versuch zu starten sie zu erheitern.

Tränen liefen nun auch über seine Wangen. Er saß da, als hätte sie nicht nur ihre Emotionen beschrieben, sondern auch seine offenbart. Die gemeinsame Wut, die gemeinsame Angst, die gemeinsame Trauer und den gemeinsamen Schmerz.

Sie war ihm so dankbar für die letzten Stunden und fragte sich, warum sie ihn nie näher kennen lernen wollte, wo er doch dem Menschen, den sie so liebte, mit dem sie so viel Zeit verbracht hatte, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte, so nah gestanden hat.

Sie hatte gelernt, dass sie sich in diesem, so wie wahrscheinlich auch in anderen Menschen geirrt hatte und es war ein weiter Schritt, der sie von der Oberflächlichkeit und des Abgestumpftseins der breiten Masse abhob.

 

Hallo,

ich kann einfach nur sagen das diese Geschichte richtig gut ist. Man kann sich sehr gut in die Person versetzen und ihr Leiden mitverfolgen.
Mehr kann man dazu nicht sagen, als dass es wirklich richtig gut ist

Tschau
Jaster

 

Hy PM!

Ich möchte mich herzlich für das Lob bedanken.

Kurz zu der story:

Ich habe es nicht selbst erlebt sondern einmal als Schularbeit unter dem Thema: "Ein guter Zuhörer" - indirekte Charakteristik verfasst.

Ich hätte nicht gedacht, dass zwei mal hintereinander ein Lob kommt, aber ich freue mich sehr, dass das feeling der Geschichte rüberkommt und man sich damit identifizieren kann.

Vielen Dank.

LG shanila

 

Ich will hier ja niemanden zum Abheben hochloben, aber dafür das du dich nur hineinversetzt hast klingt die gesamte Geschichte sehr authentisch.
Mach weiter so
Jaster

 

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