Die Anatomie der Sache an sich
Ich vermisse ihn, vor allem wenn ich aus dem Fenster schaue oder durch die Innenstadt flaniere: den Frühling. Da ich dieses hier gerade zu Papier bringe, fällt mir auf, dass alle Monate männlich sind, daher klingt der Einleitungssatz auch ein wenig Kölnanbiedernd. Homophobe werden sich bestätigt fühlen.....
Meiner Meinung nach hätte es genügt, die unschöne Hälfte des Jahres mit männlichen Artikeln zu strafen, der Rest ist doch blühend, sich selbst erneuernd und unbeschwert, also weiblich. Man verzeihe mir den stark überzogenen, schon fast ins ironische gleitenden positiven Rassismus diesbezüglich. Wobei es ja eigentlich Sexismus heissen müsste. Ich bin mir nur nicht sicher ob es einen positiven Sexismus gibt. Dieser Problematik werde ich mich beizeiten widmen müssen, aber ich war beim Winter: Kein das Auge blendender Sonnenschein, keine adrett gekleideten jungen Damen, die zu amüsanten Exkursionen überredet werden wollen, keine Ermutigung den Tag mal Tag sein zu lassen und arschkalt ist es auch noch. Zeit die Gedanken zu ordnen und sich in eine gesunde Seitenstraße zwischen weihnachtsherbeisehnenden Kaufrauschterroristen und sich komatös saufenden Feiertagshassern zurückzuziehen. Durch Glühweinbuden verschandelte Innenstädte und abgelegene Eckkneipen sind somit für nicht gänzlich Verrohte zu meiden.
Es wird, glaube ich, deutlich, dass ich kein Befürworter dieser Jahreszeit bin. Und die Politik trägt ihren Teil dazu bei. Wer auch immer dafür verantwortlich ist, dass die Uhr am 21.11. eines jeden Jahres um eine Stunde zurückgedreht wird, ist mein persönlicher Feind, denn er verkürzt mir den Tag auf das Unangenehmste: Nachdem ich meine ausschweifenden Träumereien beendet habe, zeigen die glühenden Augen meines Radioweckers schon meist eine Zeit an, bei der ich mich sputen muss, um noch Bankgeschäfte am Schalter tätigen zu können oder meinen Reisepass verlängern zu lassen.
Ich gebe es zu, die Jahre meines nicht wirklich ernstgemeinten Studiums zeigen fatale Auswirkungen auf meine Tagesgestaltung. Neben den Beschwerlichkeiten mit diversen Öffnungszeiten und Erreichbarkeiten von bösen Menschen, die mir unsinnige Rechnungen schreiben, kommt der Mangel an Tageslicht zum Tragen. Melancholische Apathie, blasse Haut und tiefe Augenringe sind die Folge. Psychisch und physisch derart gezeichnet, kann ich nur mit einem aufwarten: Freizeit!
Ein flüchtiger Blick in meinen Terminkalender bestätigt mir diese Offensichtlichkeit auch recht kompromisslos: Ich habe dieses Jahr nichts mehr vor. Die jungfräulichen Seiten der Wintermonate fristen ein zölibatäres Dasein. Die einzigen Eintragungen in diesem nutzlosen Heftchen sind Geburtstage von Freunden, die ich nicht besuchen und willkürlich zusammengewürfelte Telefonnummern von Frauen, die ich nicht zurückrufen werde. In Unkenntnis meiner Person könnte man aus dieser Liste auf einen vielköpfigen und noch mehr beinigen Freundeskreis plus ein erfülltes Matratzenleben schliessen. Da ich jedoch zumindest ansatzweise Kenntnis von meiner Person habe und Selbstbeschiss in meinem Alter nicht so einfach zu erreichen ist, ringe ich mich dazu durch, mal wieder unter Menschen zu gehen. Schließlich brauche ich neue Nummern und Geburtsdaten.
Die Mensa meiner mich nicht wirklich herzenden Universität scheint mir ein geeigneter Ort für dezente Belästigungen des weiblichen Geschlechts zu sein, ausserdem hat eine vollständige Mahlzeit für 1,50 € für mich mehr als nur einen anachronistischen Charme. Auf in den Geschlechterkampf....
Zeitsprung: Ich gebe zu, ich habe mich verirrt, vielleicht gar verloren, sowohl geographisch als auch in der Wahl meiner diesnächtlichen Begleitung. Die mich umgebende Lokalität ist nicht von humanistischen Feingeistern entworfen worden, soviel steht für mich betonsilofest, denn ein Bier kostet annähernd das Gleiche wie ein Friseurbesuch, jedenfalls einer in Kreuzberg. Einen After – Work Club nennt die mir gegenübersitzende Dame, die ich bis vor fünfzehn Minuten noch aufrichtig entzückend fand, diese Collage aus Guccisofacafe und hipper Chromstuhltheke. Dazu Musik, die keinen interessiert und nur sehr wenige stört. Ich fühle mich falsch gekleidet, falsch rasiert und falsch betrunken. Hier geht es wahrlich gesittet zu. Keine klirrenden Gläser, keine angeregten Diskussionen, nur gedämpftes Licht, gedämpftes Lachen, sogar die Longdrinks scheinen zu dampfen. Man kann die Käseglocke förmlich spüren. An der Theke tummelt sich die Generation der börsenbegeisterten Sportcoupefahrer und plauscht lässig in einem mir unbekannten Abkürzungsjargon.
Das von mir zu bewältigende Gespräch verläuft nach recht gutem Start zunehmend zäher. Ich will schon seit geraumer Zeit gehen, aber Sarah gefällt es hier offensichtlich. Also muss ich mich mit Rod Steward abfinden und das ist nur mit Bourbon im Viertelstundentakt durchzustehen. Dementsprechend sieht es wenig später auch in den empfindlichen Verknüpfungspunkten meiner Hirnstränge aus und mich durchströmt mir fremd anmutendes Gedankenwerk. Sollte ein Abend mit gepflegtem Bier und anregender Lektüre in den heimischen vier Wänden einem Abend mit ungepflegtem Whiskeyverschnitt und nur hormonanregender Begleitung in einem Pfuibahetablissement vorzuziehen sein? Ich beantworte die Frage in der mir eigenen Weise und verabschiede mich mit der durchaus zutreffenden Entschuldigung körperlichen Unwohlseins. Ich gehe aber keinesfalls nach Hause, denn im Kühlschrank lagern keine wohltuenden Pilsreserven und lesen ist auch nicht mehr drin. Dann doch lieber zwecks Zerstreuungssuche zwei Querstraßen weiter in eine sympathisch wirkende Kellerkneipe und an den gut frequentierten Tresen gesetzt. „Verzeihen sie ,holde Maid, möchten sie sich bei einem Biere über das anthroposophische Prinzip mit mir austauschen?“