Die Altenpflegerin
Er freute sich. Er freute sich so sehr, dass er noch schusseliger zu Werke ging als sonst. Das richten von Tropfen zählte nicht zu den aufregendsten Aufgaben. Doch jetzt, mit ihr als Zuschauerin, geriet es zu einem wahren Abenteuer. Das Herz klopfte ihm zum Hals heraus, die Hand mit der Tropfenflasche zitterte und da er auch die andere Hand mit dem Tropfenbecher nicht ruhig zu halten vermochte, bekam sein rechter Schuh die meisten Tropfen ab. Mit dem letzten Rest von Bedenken versuchte er sich zu konzentrieren, damit er sich nicht noch kurz vor dem Ziel zum Affen machte. Er würde nie den Grund erfahren, aber in dem Moment vor zwei Wochen, als er sie zum ersten Mal erblickte, war es um ihn geschehen. Er sah sie und seitdem konnte er nicht mehr schlafen. Er stand in Flammen, alle Gedanken kreisten um sie. Beim essen geriet er zwischen den Bissen in Atemnot, seine Handschrift wurde krakelig, weil ihr Bild ständig auf dem Papier zu tanzen schien. Nachts brachte ihn die Vorstellung, sie neben sich im Bett atmen zu hören, um den Schlaf. Besonders schlimm war es, wenn er am morgen mit ihr zusammen zum Dienst eingeteilt war. Und sie beide bildeten ein Team.
Gerade tropfte er eine Ladung Beruhigungsmittel für Herrn Rech daneben. Unterdrückt fluchend ging er zum Handtuchspender, um seine Hände zu trocknen. Da geschah es: sie sprach mit ihm. Mit ihrer leisen und doch festen Stimme brachte sie seine Nackenhaare dazu, sich aufzustellen.
»Gib dem Kerl ruhig ein paar Tropfen mehr. Er ist heute sehr außer sich.«
Er stimmte ihr wortlos zu. Ihm fiel keine Antwort ein, der Kloß in seinem Hals hinderte ihn. Herr Rech war ein Sonderfall. Offenbar konnte er sie nicht leiden. Immer, wenn sie gemeinsam in sein Zimmer gingen, rollte der alte Mann mit den Augen, zeigte auf sie und fluchte etwas von einer >Ausgeburt der Hölle<. Sie tätschelte in diesen Fällen immer Herrn Rechs Wange und flüsterte etwas von >Dich hole ich nicht; Du bist zu fett<, woraufhin der alte Mann mit den Zeigefingern beider Hände ein Kreuzzeichen formte und >weiche von mir, Satan> schrie. Der alte Mann war geistig verwirrt, litt an Alzheimer, außerdem war er sein ganzes Leben lang im Kirchenvorstand tätig gewesen. Bei dieser Vorgeschichte schien ein religiöser Verfolgungswahn fast zwangsläufig zu sein. Um ihr zu gefallen, füllte er die doppelte Dosis in den Tropfenbecher. Herr Rech würde kein Problem mehr darstellen.
Er aber wälzte noch ein Problem, während er die letzten Tropfenbecher für die Heimbewohner füllte. Denn heute war Freitag und ein freies Wochenende drohte. Zwei Tage lang würde er sie nicht sehen. Dabei konnte er seine Chance förmlich riechen. Natürlich, sie war zehn Jahre älter als er, ihr Gesicht zeigte die ersten Falten. Und doch begeisterte ihn gerade die Aussicht, bei einer erfahrenen Frau zu landen. In den letzten Tagen schienen sich die Falten zu verstärken. Ihre großen Augen lagen tiefer im tödlich blassen Gesicht, die Falten warfen Schatten, sie wirkte insgesamt erschöpft. Auf eine bestimmte Art erfreute ihn diese Entwicklung. Er bildete sich ein, dass sie wegen ihm ebenfalls schlaflose Nächte verbrachte. Und was machte er? Nichts. Er brachte es nicht über sich, sie zu fragen. Er traute sich nicht, sich zu ihr umzudrehen, während er mit klammen Fingern insgesamt 114 Tropfenbecher befüllte, verrann die Zeit.
Und dann waren alle Tropfen gestellt, mit zitternden Händen stellte er das Tablett weg, räumte die Flaschen und Fläschchen auf und machte seine Eintragungen in der Dokumentation. Er verzweifelte dabei. Die Schicht würde in fünfzehn Minuten enden. Mit hängenden Schultern drehte er sich um und sah genau in ihre Augen. Sie sah ihn an, ganz entspannt und freundlich und unaufgeregt. Dann öffnete sich ihr seltsam kleiner Mund und mit ihrer etwas zu hohen Stimme sagte sie:
»Möchtest Du nachher mit zu mir kommen?«
Die Worte flossen durch sein Ohr und vagabundierten in seinem Kopf herum. Er sah in ihre hellgrauen Augen, die ihn eher kühl abwartend als erwartungsfroh betrachteten und begriff nicht, was sie gerade gesagt hatte. Hilflos und zähflüssig interpretierte er an dem Wortsinn herum. Sie hatte nichts von einer anstehenden Reparatur gesagt, auch nichts von einer Feier, zu der noch andere Kollegen erscheinen würden. Als er merkte, dass er zu viel Zeit verplemperte, brachte er ein mattes nicken zu Stande, was sie wiederum mit einem befriedigten Brummen quittierte und das Dienstzimmer verließ.
Die nächsten fünfzehn Minuten wurden die längsten seines Lebens. Für seine Kollegen allerdings auch, er stolperte, er stotterte, er füllte die Kaffeemaschine mit Kakaopulver. In seinem Kopf zitterte die Erwartung mit der Angst um die Wette. Er hatte absolut keine Ahnung, was von ihm erwartet wurde, wie ältere Frauen sich die Dinge so vorstellten, was er an welcher Stelle sagen musste. Vor allem aber plagte ihn die Angst, seinen Einsatz zu verpassen. Wenn er sie küssen sollte: wann und wie? Sollte er ihr gleich an den Busen fassen, und würde sie sich vor ihm ausziehen? Seine Gedanken jagten sich in engen Kreisen, ein Ergebnis kam nicht in Sicht. So geschah es dann, dass er sich nach Dienstschluss auf dem Parkplatz wiederfand. Sie kam nach ihm aus dem Altenheim, ging zu seinem Schrecken an ihm vorbei zu ihrem kleinen Geländewagen, stieg ein und... öffnete ihm die Beifahrertür. Erleichtert hastete er heran, schlug sich das Knie an der spartanischen Tür an und hüpfte so schnell auf den Sitz, dass er beinahe auf sie gefallen wäre.
Die nächsten Minuten konzentrierte er sich auf seine Angst. Nun allerdings handelte es sich um eine andere Art von Angst. Sie fuhr den Wagen, als wartete für den Notfall an der Box ein Ersatzwagen. Schon die erste Kurve vom Altenheim weg nach Pelm hinein offenbarte ihre Gnadenlosigkeit gegenüber dem Auto. Sie drehte die Gänge aus, bis der Motor um Gnade winselte, rammte dann den nächsten Gang in die knirschende Kulisse und gab weiter Gas. Sie hielt sich an keinerlei Regeln, sondern fuhr beharrlich Vollgas. Tat sich ein Hindernis in Gestalt eines langsameren Fahrzeugs auf, so überholte sie ohne weitere Umstände, ob mit Sicht oder ohne, mit Gegenverkehr oder ohne. Er hatte den Eindruck, dass der Wagen ständig schwamm und schlingerte, doch wagte er nicht, etwas zu sagen. Wahrscheinlich hätte sie den Kopf zu ihm gedreht, und dieser winzige Moment der Ablenkung hätte sicherlich ihr sofortiges Ende bedeutet. Wider Erwarten ging alles gut, sie erreichten Hillesheim in Rekordzeit. Sie fand die Lücke auf dem von Schulkindern gefüllten Zebrastreifen, umkurvte einen Rollstuhlfahrer mit gelbem Käppi, der gerade mit hoher Geschwindigkeit die Bundesstraße herunterrollte und dabei etwas aus der Kurve getragen wurde und vermied es sogar, den alten Mann vor der Anlage für Betreutes Wohnen zu überfahren. Statt dessen erwischte sie eine seiner beiden Einkauftüten, die platzte und eine Wolke von Bierdosen freigab, die den alten Mann umwirbelte. Sie bremste hart und fast dachte er schon, dass sie sich um den Mann kümmern wollte. Doch dann bog sie scharf links ein, dann noch einmal links und kam vor einer Art Gartenhaus zum Stillstand. Sie stieg aus und schloss die Türe auf. Er folgte ihr mit weichen Knien. Das Gartenhaus bestand aus Holz und großen Fenstern, die aber allesamt mit dichten Vorhängen jeden Einblick verhinderten.
Er trat durch die Tür, woraufhin sie diese schloss und einen soliden Riegel vorschob. Er sah dies und runzelte die Stirn. Er hätte nie gewagt, zu fragen, doch sie gab die Antwort ganz freiwillig: »Manchmal kommen Kinder und machen sich einen Spaß daraus, die Tür zu öffnen. Wir wollen doch ungestört sein, oder?«
Nun wurde ihm richtig heiß, mit hektischem Blick betrachtete er die Umgebung. Er stand inmitten eines großen Raumes, der Schlafzimmer, Wohnzimmer und Küche zugleich war. Nur eine einzige Tür gab es noch, vermutlich das Bad. Sie zündete gerade eine ganze Reihe Kerzen an, die auf schweren Ständern rund um das Bett angeordnet waren. Dadurch erhielt er einen Eindruck von der merkwürdig morbiden Einrichtung. Die spärlichen Möbelstücke, eine hohe Vitrine, zwei alte Eichenstühle, ein langer schmaler Tisch, ein Kleiderschrank aus Pinie, alles wirkte alt, gebraucht, abgeschabt, nicht auf alt getrimmt, sondern wirklich alt. Und dann das Bett. Es war aus Eisen, aus altem Eisen. Die Verzierungen der vier Pfosten erinnerten ihn an die Verschnörkelungen von Stuck-Fassaden Bonner Jugendstilvillen. Unendlich massiv stand es in der Mitte des Raumes, die schweren Daunendecken passten perfekt. In sein halb betäubtes Betrachten drang ihre Stimme: »Ziehe Dich doch schon mal aus. Ich bin gleich soweit.«
Das ging aber schnell. Irritiert fasste er sich an die Stirn. Noch keine 14.00 Uhr, noch keine zwanzig Minuten vergangen, seit sie den Wechsel vom Kollegen zum Bekannten vollzogen, keine zehn Minuten, als er sich fragte, ob sie wohl... . Und nun wollte sie auf der Stelle. Er fasste es nicht. Sein Denken kam nicht mehr mit, er wusste nur noch eins: er würde diese Chance beim Schopfe ergreifen. Mit fliegenden Händen zog er sich aus und wühlte sich anschließend unter die schwere Decke. Keine Zeit blieb für sorgenvolle Bedenken, denn als ob sie es gehört hätte, öffnete sich die Tür zum Bad. Sie trat auf ihn zu, öffnete den Bademantel und dann stand sie da. Nackt. Schön. Lächelnd.
In diesem Moment wäre jede Frau für ihn schön gewesen, und das lag nicht allein an der schlechten Beleuchtung. Doch diese hier entsprach all seinen Träumen. Schlank an Hüften und Beinen, trotzdem ein ordentlicher Busen und ein großer Hintern. Und sie war zehn Jahre älter. Zehn Jahre. Diese zwei Worte dröhnten wie Glocken in seinem Kopf. Sie legte sich tatsächlich zu ihm, jetzt spürte er auch ihre kalte kleine Hand. Er dankte Gott auf Knien dafür, dass ihre Hand kalt war. Alle Sorgen, alle Ängste lösten sich auf und schwammen fort. Im Halbdunkel zwischen zugezogenen Vorhängen und flackernden Lichtern verlor er jede Vorstellung von Zeit. Allein seine fortschreitende Erschöpfung gab ihm den Hinweis, dass es lange dauerte, sehr lange. Erst genoss er es, ihre kühle bleiche Haut, ihre sanften Bewegungen, ihre klammernden Schenkel. Dann, nach den ersten Strapazen, wollte er mehr, er wollte, dass sie Geräusche machte. Er arbeitete hart dafür, aber sie lächelte immer nur. Sie stöhnte nicht, sie hechelte nicht, sie schwitzte noch nicht einmal. Das alles machte ihm allerdings nicht wirklich Probleme, er befand sich im Paradies.
Dann erreichte er zu seinem allergrößten Bedauern den Punkt, an dem er nicht mehr konnte. Er schwitzte enorm und alle seine Muskeln schmerzten, selbst der Muskel, der gar keiner war. Er ließ von ihr ab und ließ sich krachend auf den Rücken fallen. Während er noch nach Luft rang, erhob sie sich behände, so als ob nichts gewesen wäre, machte in paar von den Kerzen aus und kam zurück. Nun also wollte sie wohl ein Nickerchen bei ihm machen. In seinem wohligen Rausch malte er sich bereits aus, was sie beide wohl nach dem Nickerchen anstellen würden. Sie hockte sich neben ihn, streichelte mit ihrer kalten trockenen Hand sein Gesicht und hauchte lächelnd mit einer Stimme, in der nicht die winzigste Spur von Erschöpfung lag:
»So, mein Lieber. Du hattest gerade den Sex Deines Lebens. Ich werde mich nun kurz im Bad vorbereiten und dann wirst Du bezahlen.«
Der Rausch endete auf der Stelle. Ein kalter Schauer raste über seinen Rücken. Er wollte etwas erwidern, etwas fragen, doch wieder einmal dauerte es zu lange. Die Tür zum Bad schloss sich hinter ihr. Und im Bad begann sie tatsächlich zu singen. Verwirrt stand er auf und taumelte ziellos durch den Raum. Eine Hure! Sie liebte ihn gar nicht. Er diente ihr lediglich als Nebenerwerb. Wie konnte er nur so dumm sein? Niemand außer ihm wäre der Vorstellung aufgesessen, eine reife Frau würde einen peinlichen Grünschnabel in ihr Bett lassen, einfach aus Zuneigung. Er raufte sich die Haare über seine Dummheit. Während er im Geiste ihre möglichen Preisvorstellungen durchging, fiel sein Blick auf die hohe Vitrine. Vorhin war er zu aufgeregt gewesen, um sich näher mit ihrem Inhalt zu beschäftigen. Jetzt, abgelöscht wie er war, betrachtete er den dort ausgestellten Objekten, eigentlich beiläufig. Er sah den Inhalt, und wieder einmal quälte sich die Erkenntnis auf schwierigen Umwegen in sein Bewusstsein. Der Groschen fiel und er setzte sich vor Schreck auf den Boden. Ein keuchen entfuhr seinem weit geöffneten Mund. Widerwillig rückte er näher heran, um es ganz genau zu sehen. Kein Zweifel. Zur Sicherheit öffnete er ein Fenster und mit zitternder Hand griff er hinein, brachte es über sich, eines der Teile zu berühren. Mit einem leisen Aufschrei zog er die Hand wieder zurück. Kein Gummi, kein Latex, kein Scherz, alles echt. Ihm wurde kalt. Ihm wurde übel. Er zwang sich, aufzustehen, immer noch weigerte sich sein Hirn, die nötige Erkenntnis zu produzieren.
In der Vitrine lagen, er zählte zwei mal, insgesamt zweiundzwanzig... Ringfinger! Und an jedem Ringfinger war noch der Ehering aufgesteckt. In rasendem Entsetzen zuckte sein Blick zu seiner eigenen Hand. Natürlich. Wie blöde. Er war verlobt gewesen. Ganze drei Monate. Vor einem Jahre hatte ihn die blöde Ganz sitzen gelassen. Und nur weil er danach keine andere Freundin finden konnte, nur weil er immer wieder an sie denken musste, nur weil er hoffte, sie eines Tages zurückgewinnen zu können, trug er diesen verdammten Ring noch. Schweiß trat auf seine Stirn, viel Schweiß, dessen Kälte die eben noch alles erfüllende Hitze verdrängte. Er wollte nicht, aber er schaute wieder in die Vitrine. Sein Blick fiel auf die Schubladen ganz unten. Mit zitternden Händen öffnete er die erste und prallte zurück. Sie war bis oben hin gefüllt mit Ringfingern. Ringfinger mit Ehering, alle kalt, tot, echt. In den Dunst beginnender Panik erkannte er etwas. Mit spitzen Fingern schob er den Haufen etwas auseinander und zog einen bestimmten Ringfinger hervor. Eis rieselte den Rücken hinunter und an einer ganz ungünstigen Stelle bildete sich eine Gänsehaut. Diesen Ringfinger kannte er. Genau genommen kannte er den Ring. Ein breiter goldener Ring mit zwei kyrillischen Buchstaben. Sein Hirn puzzelte und setzte die Teil zusammen. Wladimir Duda. Der Russland-Deutsche, der auf der anderen Station als Hilfspfleger gearbeitet hatte. Immer fleißig, immer pünktlich. Vor sechs Wochen kam er nicht mehr. Keine Nachricht, keine Krankmeldung, kein Nichts. Frau Bauchmüller, die Heimleitung, hatte getobt und eine fristlose Kündigung per Einschreiben geschickt. Herr Duda tauchte trotzdem nicht wieder auf.
Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Er schätzte die Zahl der Finger, multiplizierte mit sechs Wochen und schüttelte den Kopf. Das konnte nicht stimmen, das ergab ja mindestens zwölf Jahre, und in die andere Schublade hatte er noch gar nicht geschaut. Dann musste sie mehr als zehn Jahre älter sein, dachte er, und wurde sich gleichzeitig des puren Irrsinns bewusst, in dieser Situation so etwas zu denken.
Das singen hörte auf. Die Tür öffnete sich und sie kam heraus, ihr Körper vollständig mit einem hautengen roten Latexanzug bedeckt. Vor wenigen Minuten noch hätte ihn die Gier angesprungen wie ein tollwütiger Wolf, doch jetzt floss nur das Eis des Entsetzens durch seine Adern. Sie lächelte ihn an, breiter noch als zuvor. Dennoch brachte er mit brüchiger Stimme eine Frage zu Stande, mit einer Hand vage und unsicher auf die Vitrine deutend:
»Haben die nicht bezahlt?«
Sie folgte seinem Blick, dann lachte sie glockenhell und erfrischend auf.
»Nein, mein Lieber, sie haben bezahlt, vollständig, prompt und ohne jede Gegenwehr. Ich hebe diese Teile nur auf. So eine Art Andenken.«
Ein Kloß wälzte sich vom Bauch in Richtung Hals. Wieso verspürte er das Gefühl eines sich nähernden Verhängnisses? Mühsam brachte er seine Frage hervor:
»Aber... Warum hebst Du ... Ringfinger auf? Echte Ringfinger. So viele Ringfinger.«
Sie lachte keck und antwortete offen und ohne alle Bedenken.
»Na, Du bist ja lustig. Wo soll ich denn damit hin? Stelle Dir doch mal vor, wie das wäre: Ich werfe die Teile in den Müll, und in der Verbrennungsanlage kullern sie von dem LKW herunter einem Arbeiter vor die Füße. Das gäbe ja eine schöne Panik. Nein, mein Lieber, die bleiben hier. Das ist am sichersten.«
Langsam spürte er das Verstehen in sich aufsteigen. Wie eine Dampfwalze kroch es heran. So viel Angst wie jetzt hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gehabt. Es reichte gerade noch für ein fast unhörbares Hauchen:
»Warum?«
Sie machte ein Gesicht, als müsste sie einem Kind erklären, warum man die Süßigkeiten an der Kasse bezahlen musste.
»Weißt Du, es ist ganz einfach. Ich hebe diese Finger auf, als Symbol ihrer Sünde. Ich bin eine von den Guten. Ich nehme nur die Bösen zu mir. Und diese kleine Sammlung ist der Beweis.«
Gleich würde er verstehen, doch er wollte nicht verstehen. Er wollte weg. Er konnte nicht weg. Seine Beine zitterten und sie stand im Weg. Sie lächelte noch offener, weidete sich an seinem Zittern und setzte gut gelaunt nach:
»Es tut mir wirklich leid, mein Lieber. Ich gestatte es mir nicht, einfach nur meinen Hunger zu stillen. Dann hätte ich Dich bereits im Auto zu mir nehmen können. Auch wenn ich es dann ohne diese wunderbare Speisebekleidung hätte tun müssen. Ich aber verfüge über Stil und Anstand und lasse mich nicht zu Fressorgien hinreißen. Ich lege Wert auf Geschmack. Besonders beim Essen. Und nichts schmeckt bekanntlich so gut wie ein junger Mann ohne Fett, der nicht nach Rauch stinkt und nicht nach Bier. Vor allem jedoch ist das Adrenalin wichtig, es macht das Fleisch zart und butterweich. Die Angst, die Du gerade verspürst, verleiht Dir ein gewisses Maß an Würze, gerade richtig für meinen Gaumen. Und da Du ein Fremdgänger bist, ist es nicht schade um Dich.«
Er erkannte, dass es gleich soweit sein würde. Mit einer Art Tunnelblick saugte er die Tür ein. Ein mal tief Luft holen und dann flankte er über das Bett, fiel auf der anderen Seite hin, rappelte sich hoch und hetzte zur Tür. Er versuchte gerade, den Riegel aufzuziehen, da fiel ihm Bergwerk auf den Rücken. Blitzartig brach er unter der Last zusammen, wurde herumgerollt und erkannte, dass es kein Bergwerk war. Während er verzweifelt versuchte, sie wegzuschieben, fragte er sich, wieso diese schmale kleine Frau so viel wog? Wieso hatte sie mehr Kraft als er? Wieso gelang er ihm nicht, ihren Griff zu lösen? Sie einfach weg zu heben? Er kämpfte und kämpfte, und sie wehrte ihn ab wie eine lästige Fliege. Schließlich hatte sie genug. Sie gab ihm ein paar Ohrfeigen, dass er die Glocken dröhnen hörte. Atemlos gab er seine Bemühungen auf. Er konnte nicht mehr. Das Blut tobte durch die Adern und ließ ihn ihre Worte kaum verstehen.
»So, ich denke, das reicht. Es ist jetzt genug Adrenalin in Deinem Fleisch. Du bist fertig. Es kann losgehen.«
Die Angst verwischte die Realität. Als sie näher kam, meinte er zu erkennen, wie ihre Augen sich veränderten. Sie sahen aus wie Katzenaugen in der Nacht, geschlitzt und rötlich leuchtend. Dann hörte er ein letztes Wort, herausgefaucht mit einer unbändigen Freude, wie kurz vor dem Orgasmus:
»Mahlzeit.«
*
Mit einem Schrei wachte er auf. Wirr blickte er sich um. Er lag in ihrem Bett, sie saß auf der Bettkante. Sie sah ihn milde lächelnd an.
»Schlecht geschlafen, mein Lieber? Nach so einer Nacht? Ich muss mich wundern.«
Er griff sich an den Kopf. Alles war so gewesen wie in seinem Traum, nur das Ende... Da stand die Vitrine, da saß die Frau. Was sagte sie gerade?
»So, mein Lieber, Du hattest gerade den Sex Deines Lebens. Ich werde mich nun kurz im Bad vorbereiten und dann wirst Du bezahlen.«
Der Schreck dröhnte in seinem Kopf. Sie stand auf. Keine Zeit, er musste schnell etwas unternehmen. Mit Panik in der Stimme schrie er, kurz bevor sie die Badezimmertür erreichte:
»Ich muß Dir was sagen!«
Sie winkte nur abwehrend. Die Tür war fast zu. Aus Leibenskräften schrie er: »Ich bin gar nicht verheiratet! Ich trage den Ring nur wegen der Erinnerung!«
Die Tür schloß sich. Und ging wieder auf. Eine gar nicht mehr lächelnde Frau stand im Türrahmen und raunzte: »Nicht verheiratet? Auch nicht verlobt?«
Er schüttelte wild den Kopf und erklärte es ihr hastig. Sie wurde böse. Sie keifte. Dann sagte sie nur ein Wort: »Raus!«
Nie zuvor hatte er sich so schnell angekleidet. Er lief die elf Kilometer zu seiner eigenen Wohnung in Rekordzeit. Dann meldete er sich krank. Dann erbrach er sich ausdauernd.
Als er nach vier Tagen wieder zum Dienst erschien, war sie weg. Die Heimleiterin tobte und schickte eine fristlose Kündigung. Doch sie tauchte nicht mehr auf.