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Die alten, bösen Lieder
Die alten, bösen Lieder
Es ging nicht von heute auf morgen. Es kam allmählich, dass er beim Singen immer mehr Kraft aufwenden musste, um die Leichtigkeit in einem Ton zum Klingen zu bringen, die für ihn früher selbstverständlich war. Und dabei war es diese Leichtigkeit, die ihn als Sänger so besonders machte. Eine Agilität, eine Behändigkeit in der Gestaltung von Melodien in weit gespannten Bögen, in allen Lagen seiner Stimme, der technisch scheinbar keine Grenzen gesetzt waren und vor der die Fachpresse regelmäßig anbetend auf die Knie fiel. „Der Tenor des Jahrhunderts“ konnte man überall lesen, „Das Stimmwunder“, oder schlicht und einfach „Der Sänger“. Und es war völlig klar, dass man damit ihn meinte, ohne seinen Namen nennen zu müssen.
Kometenhaft war sein Aufstieg. Nach seinem vielumjubelten Debut als Tamino am Staatstheater Stuttgart, wo er für einen erkrankten Kollegen einsprang, standen ihm weltweit die Türen offen. In einer für ihn atemberaubenden Geschwindigkeit nahm seine Karriere ihren Lauf. Paris, London, New York, man huldigte ihm, wohin er kam.
Wenn er anfangs noch vorsichtig und zurückhaltend auf der Woge seines Erfolgs ritt, gewöhnte er sich doch bald an frenetischen Applaus, an die Wellen der Begeisterung, die er dankbar entgegennahm, genoss das Tuscheln der Frauen, wenn er am Bühnenausgang an ihnen vorüberging, und sammelte ihre bewundernden Blicke.
Die Intensität seiner Ausstrahlung spürte er ganz besonders in den Proben, während derer die Konzertsäle leer blieben und sich nur wenige Hausbedienstete in den Rängen aufhielten. An den Gesichtern, den Augen, den offenen Mündern dieser Wenigen seine Wirkungsmacht abzulesen, brachte ihm eine ungeheuere Genugtuung. Und sie ergaben sich seinen Tönen, seinem Gesang, der aus einer anderen Welt zu kommen schien, wie gezähmte Tiere, ließen sich von ihm willenlos im Kreis drehen und aus dem hellsten Licht in tiefe Dunkelheit stürzen.
Und dabei war er im Ausdruck von einer sonderbaren Kühle, um nicht zu sagen Steifheit. Niemals gab er sich den Rollen ganz hin. Immer herrschte eine klare Distanz zwischen ihm und den Figuren, die er verkörperte, ohne dass dies der Begeisterung für ihn einen Abbruch tat. Vielleicht nährte es sogar die Sehnsucht der Zuhörer, weil es ihn wie ein Ideal, wie eine heilige Ikone des Gesangs erscheinen ließ, die unmittelbar in das Herz traf aber doch unterreichbar war.
In einem kleinen Konzertsaal in der deutschen Provinz begann es dann. Ein finanzstarker Sponsor der Region hatte zu einem Konzert vor ausgewähltem Publikum geladen. Man wünschte die „Dichterliebe“. Wie oft hatte er diesen Liederzyklus gesungen. Er konnte ihn im Schlaf, er war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Im zwölften Lied „Hör ich das Liedchen klingen, das einst die Liebste sang, so will mir die Brust zerspringen … Schmerzensdrang …“. Kaum, dass er „-springen“ und „-drang“ als höchsten Endpunkt der Melodie noch herauswürgen konnte.
Er hatte in den Wochen davor immer wieder kleine Unsicherheiten bemerkt. Ein spröder Ton hier, ein fast unmerkliches Zittern da. Wie bei Sängern üblich, hatte er eine ganze Litanei an Ursachen zur Begründung parat: das Wetter, zu scharfes Essen, schlecht geschlafen oder ein Whisky zu viel in der letzten Nacht. Aber dieser Moment ließ keinen Zweifel zu. Ein zunehmender Kontrollverlust über sein Stimmorgan bahnte sich an und machte sich ab diesem Konzert immer mehr bemerkbar.
Er, der immer alles zu beherrschen wusste, dem jede Schattierung, jede Farbe der Stimme in allen möglichen Nuancierungen zur Verfügung stand, hatte Angst.
Vor den Auftritten stellten sich nun regelmäßig Panikattacken ein, Schweißausbrüche, unkontrollierbares Zittern und ein beschleunigter Puls. Symptome, die er aus seiner Anfangszeit kannte, die sich aber mit steigernder Routine rasch gelegt hatten. Mehr und mehr kam ihm jetzt die Unbeschwertheit abhanden, mit der er früher in der Garderobe mit den Sängerkollegen herumgealbert hatte bis kurz vor dem Auftritt. Immer war er charmant, gesellig, zu einem Scherz aufgelegt gewesen. Und die sonst oberflächlichen, affektierten Begrüßungsrituale der Theaterleute mit ihrem „Bussi hier“ und „Liebling da“ waren bei ihm ehrlicher, tiefer und von einer echt empfundenen Zuneigung geprägt. Nichts davon blieb. Sein Umgang wurde starr und befangen.
Im Kollegenkreis wurde seine Wesensveränderung bald bemerkt. Die stimmlichen Einschränkungen hielten sich, bis auf den peinlichen Unfall in der Dichterliebe, zunächst noch in Grenzen, und seine Vorzüge überwogen bei weitem. Mit Befremden allerdings nahm man seine sich einstellenden zwanghaften Verhaltensweisen wahr, mit denen er versuchte, die Kontrolle über das Geschehen zu behalten.
So hatte er die irrationale Vorstellung entwickelt, sich bei Liederabenden dem Klavier immer von links nähern zu müssen. Lag der Bühneneingang, wie in vielen Konzertsälen, rechts, vollzog er zuerst eine umständliche Prozession an der Bühnenwand entlang und umrundete dann das Instrument, bis er schließlich an seinem Platz stand. Den irritierenden Eindruck, den der spiralförmige Kreisgang beim Publikum hinterließ, nahm er in Kauf.
War er in der Garderobe allein, verbeugte er sich beschwörend dreimal vor dem Spiegel und sprach sich ein Mantra in fünffacher Wiederholung vor: „Immer schön locker bleiben, immer schön locker bleiben …“. Dabei streckte er für jede Phrase einen Finger aus. Wenn er unsicher war, ob er die richtige Anzahl ausgeführt hatte, begann er das Ritual von neuem. Mit der Zeit kam es öfter vor, dass er aus seinem Zimmer zur Vorstellung geholt werden musste, weil er sich häufig verzählte und das unwürdige Spektakel immer und immer wieder von vorne begann.
Zu einer geradezu unappetitlichen Gewohnheit wurde sein „Einrotzen“, wie er es für sich selbst nannte. An der Bühnentür angekommen, hielt er sich zu Beginn noch heimlich, doch später ganz unverhohlen und zum Entsetzen der Türsteherinnen, das rechte Nasenloch zu und schnaubte durch das linke wie ein Stier, bevor er in die Arena gejagt wird. Den Vorgang wiederholte er dann in umgekehrter Reihenfolge.
Zuletzt griff er noch auf eine Strategie zurück, die er oft in seiner Schulzeit angewendet hatte. Bei der Rückgabe von Klassenarbeiten hatte er dort immer die besten Schüler der Klasse imitiert, ihre Körperhaltung angenommen, war genau ihrer Gestik gefolgt und hatte sie nachgemacht. Seine widersinnige Hoffnung war es, dadurch Anteil an den Fähigkeiten der Mitschüler zu erhalten und auf eine schlechte Note im Nachhinein Einfluss nehmen zu können. Auf der Bühne verlor er durch den Einsatz dieser Technik zunehmend seine Identität, weil er vor allem jüngere Sängerkollegen in ihrem Habitus täuschend echt kopierte. Schlenderten sie lässig am Bühnenrand vorbei, betrat er das Podium im gleichen Schritt, bei athletischen Gesangspartnern mit breitem Rücken zog er die Schultern nach oben und ging mit eingezwicktem Kopf und stampfenden Schritten hinaus, ja sogar Sopranen begann er auf eine völlig unpassende Art mit wippendem Gesäß und auf Zehenspitzen zu folgen. Er war zu einer Karikatur geworden. Nichts erinnerte mehr an seine frühere Strahlkraft.
In seiner Verzweiflung suchte er unzählige Gesangslehrer auf, um mit einer vielleicht neuen Methodik seine Probleme in den Griff zu bekommen. Alte Lehrerinnen, die allesamt ehemalige Opernsängerinnen gewesen waren und nun als hartherzige und gefürchtete Stimminstanzen Ratschläge erteilten, saßen in ihren wuchtigen Wohnzimmersesseln und krähten im Greisensopran entsetzliche Töne, um ihm zu demonstrieren, dass er seine Stimme aus der Ferne zu sich herholen solle, die Töne einfangend, sie empfangend, wie ein Geschenk. Sein Versuch, in der Essener Philharmonie den Ton von der hintersten Tür des Saals zu sich herzuholen, geriet allerdings zu einem verzweifelten Gezerre. Der Ton löste sich einfach nicht von der Tür und er konnte von Glück sagen, dass im Schlusssatz von Beethovens 9. Sinfonie, die er dort sang, das Solistenensemble ein unerträgliches Geplärr aus „Freude schöner Götterfunken“ anstimmte, dass sein in höchstem Maß geknödelter und gepresster Ton nicht arg ins Gewicht fiel.
In der Salle Gaveau, an der Rue de la Boétie, einer der besten Adressen für klassische Musik in Paris, wollte er dieses für ihn immer unerträglichere Schauspiel beenden. Er hatte genug. Er konnte nicht mehr. In seine immer komplizierter werdenden Zwangshandlungen verstrickte er sich dermaßen, dass er kaum mehr wusste, wer er war. Seine Vorstellungen waren zu kümmerlichen Reflexen verkommen, in denen er nur noch unter Anstrengung das abrufen konnte, was ihm, dem Wundersänger, einst mühelos zuflogen war. Das musste nun ein Ende haben. Er liebte diesen Konzertsaal, weil er trotz der beachtlichen Kapazität von mehr als tausend Zuhörern, im schlichten Weiß der kühlen Architektur eine intime Note hatte. Dichterliebe, Schumann, Heine, das sollte der Abschluss sein. Am ersten Tag der Ankündigung war die Vorstellung ausverkauft. Sein Ruf war noch intakt.
Im Hotel hatte er kurz vor dem Auftritt noch eine Dusche genommen. Auch dies eine mittlerweile zum strengen Ritual gehörende Handlung, eine rituelle Waschung sozusagen, während der er versuchte, durch die tiefe Inhalation des Wasserdampfs seine Stimmlippen zu befeuchten und elastisch zu machen. An diesem Abend intensivierte er die Zeremonie dergestalt, dass er den Wasserstrahl direkt auf den geöffneten Mund richtete und röchelnd den Anfang der Bildnisarie aus Mozarts Zauberflöte, seines einstigen Bravourstücks, in den Schwall gurgelte: „Dies Willnis is beschauern schöön …“.
In der Tat hatte er den Eindruck, dass die anstrengende Wasserkur einen gewissen Effekt auf sein Organ zu haben schien. Seine Einsingübungen in der Garderobe gelangen freier und gelöster als sonst. Der Übergang aus dem Brust- in das Kopfregister, das am meisten unter der Veränderung gelitten hatte und immer wieder peinvolle, jodelartige Brüche verursachte, schien ausgewogen und gut geschmiert. Freilich aber nur unter Einsatz einer Hilfsspannung, die er als letztes Mittel erst seit ein paar Tagen praktizierte. Um seinen Vokaltrakt halbwegs von Muskelverkrampfungen frei zu halten, verlagerte er die Spannung auf andere Körperregionen, die nicht unmittelbar an der Tongebung beteiligt waren. Er ballte dabei die Faust mit aller Kraft zusammen und bohrte sich unter Schmerzen die Fingernägel in die Handinnenfläche.
Sobald er die Bühne betreten hatte, das vollbesetzte Parkett und die Ränge im Blick, und sich nichts mehr, nichts sehnlicher wünschte, als hier und jetzt einen für alle unvergesslichen Abgang seiner Karriere zu feiern, beschloss er, zur Sicherheit diese Ersatzspannung auf den ganzen Körper auszuweiten. Der Pianist spielte die melancholische Einleitung des ersten Lieds und seine Stimme löste sich wie in alten Tagen aus der Klavierkantilene „Im wunderschönen Monat Mai“, während sich seine Finger wie Schraubstöcke in das Holz des Flügelrandes krallten. Die Melodie führte höher und höher zum „… die Liebe aufgegangen…“, und die Linie gelang ihm traumwandlerisch sicher in einer selten gehörten stimmlichen Vollendung. Ein Seufzer ging durch den Saal und niemand im Publikum bemerkte, dass er neben der Hand nun auch die Oberschenkel, sein Gesäß, die Bauch- und Rückenmuskulatur aufs Äußerste angespannt hielt. In absoluter Regungslosigkeit und unter Aufwand aller ihm zur Verfügung stehenden körperlichen Kräfte ließ er so alle sechzehn Lieder folgen.
Zementiert wie ein Monument, die Endgültigkeit seines Auftritts vor Augen, beschloss er nun, stimmlich an die Grenzen des Ausdrucks zu gehen. Wie oft hatte er sein künstlerisches Credo verkündet, dass er nur ein Medium sei, durch das die Musik hindurchfließe. Eine wirkliche Beteiligung im persönlichen Sinn verbiete sich für Sänger, für Schauspieler. „Du darfst nicht deine Rolle leben, das machen Dilettanten.“ Das war sein Leitspruch. Schlackenlos, bis zur abgeklärten Kühle solle eine Interpretation, solle die Kunst überhaupt sein. Weil Subjektivismus sie erschlägt, sie verhüllt in einem Sammelsurium aus Tand und Schnörkeln. Das hielt er mit der Sprache ebenso, weshalb ihm die wortkargen Autoren besonders lieb waren. Die blumigen, sich in weiten Satzgebilden verlierenden Romanciers waren ihm zuwider.
Gleichzeitig spürte er an diesem Abend, dass diese Kühle, die Objektivität, für die er so bewundert wurde, weil sie so viel Freiraum für den Zuhörer offen ließ, für ihn auch ein Schutz war. Ein Schutz vor der überwältigenden Macht der Musik, der Lieder, die ihn ohne diese Abschirmung überrollt hätten.
Aber das sollte jetzt anders sein.
Das Bemühen um den schönen Ton, die sichere Distanz ließ er nun fahren. „Ich grolle nicht“, das neunte Lied im Zyklus, steigerte er zum rasenden Wutrausch, in dem er seine Lautstärke an die Grenzen trieb bis zur bewussten Scheußlichkeit. Ersterbend, fast geflüstert und am Ende ganz ohne Stimme das Zwölfte: „… dort löst sich auf in Tränen mein übergroßes Weh …“, in dem sein Tenor erlosch und nur der Pianist das fragile Klanggewebe zu Ende brachte. In einem letzten Kraftakt, einem finalhaften Aufbäumen, beschwor er im abschließenden Lied sein eigenes Ende herauf: „Die alten, bösen Lieder, die Träume, bös‘ und arg, die lasst uns jetzt begraben, holt einen großen Sarg“. Und der Sarg, in den er die alten, bösen Lieder im Gedicht legte, war auch seiner. Der Sarg für seine Stimme, die er jetzt, nachdem er sie an diesem Abend zu seiner eigenen gemacht hatte, zur Ruhe legte. Den letzten Vers, „Wisst ihr, warum der Sarg wohl so groß und schwer mag sein?“, sang er nicht mehr. Er schluchzte ihn stockend in seine Tränen, die weder er, noch die Zuhörer zurückhalten konnten: „Ich senkt‘ auch meine Liebe und meinen Schmerz hinein.“
Der letzte Ton war verklungen und es blieb still. Es blieb einfach still. Für alle war absolut klar, dass das eben Gehörte keinen Beifall vertrug. Es war ein persönlicher Abschied, ein Trauergesang zu einer Beerdigung. Und bei Beerdigungen wird nicht geklatscht. Er empfand das genauso, wie er da so regungslos am Flügel stand. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Sein Arm war am Flügel wie eingefroren und seine Füße spürte er nicht. Schritte waren in der im Krampf nun völlig fixierten Muskulatur unmöglich. Die Menschen blieben gelassen und ruhig auf ihren Stühlen sitzen. Minutenlang. Niemand sprach. Sanitäter betraten schließlich die Bühne. Wie einen zu Eis erstarrten Bergsteiger, geborgen aus einer Gletscherspalte, legte man ihn auf eine Bahre und trug ihn aus dem Saal durch die Stuhlreihen hindurch, wobei er den Arm, der völlig versteift war, nach oben ausgestreckt hielt. Die Menschen nickten ihm zu, manche berührten demutsvoll die emporragende Hand oder strichen über seinen Kopf. „Es ist gut jetzt, jetzt ist es gut“, gab er beruhigend zurück.