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Die alte Wichteldame
Rosalynn saß traurig, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, auf den Stufen der Veranda. Gerade hatte sie von ihren Eltern erfahren, dass ihre geliebte Großmutter jetzt ein Engel war und sie künftig im Himmel wohnen würde. „Großmutter wird nie ganz weg sein. Sie sieht und hört jetzt alles. Das bedeutet du kannst trotzdem immer in Gedanken mit ihr sprechen und sie wird dich verstehen“, hatte ihr die Mutter erklärt. Sie schaute in den Himmel und suchte irgendwo in den Wolken das Lächeln der geliebten Großmutter. Aber da war nichts. Die Wolken zogen einfach weiter ohne ihr Beachtung zu schenken.
„Warum bist du so betrübt?“, fragte ein zartes, helles Stimmchen hinter ihr. Rosalynn schaute sich suchend um. Aber sie konnte niemanden entdecken. „Ich bin hier unten!“, rief das helle Stimmchen. Rosalynn schaute auf den Boden der Veranda und entdeckte ein winziges Wesen, das sich auf einen Gehstock stützte und nicht größer war, als eine Ameise.
„Wer bist du denn?“, fragte sie erstaunt.
„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Florentine, Amalia, Leonore, Cassandra. Aber alle nennen mich nur Flo“.
Rosalynn musste kichern, „ Ja, du bist auch nicht viel größer, als ein Floh, der Name passt gut zu dir“.
Flo verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust und drehte Rosalynn den Rücken zu. „Wenn du fertig bist mit Lachen, verrätst du mir dann vielleicht auch deinen komischen Namen, damit ich auch etwas zu lachen habe?“
„Entschuldige, ich heiße Rosalynn und ich wollte dich nicht ärgern, aber dein Name klingt wirklich sehr lustig und eigentlich bin doch sehr traurig, weil meine Großmutter jetzt im Himmel bei den Engeln ist.
„Entschuldigung angenommen. Das ist wirklich sehr traurig, das tut mir sehr leid. Sicher hast du sie sehr gern gehabt?“
Rosalynn nickte wehmütig. Das Wesen kam etwas näher an sie heran, und legte eine Hand an ihr Bein, das ihm wie ein Riese vorgekommen sein musste.
„Darf ich mich zu dir auf einen Finger setzen? Mir fällt langes Stehen etwas schwer. Wie du sehen kannst bin ich nicht mehr die Jüngste“, stöhnte Flo.
Rosalynn hielt ihren Zeigefinger an den Stufenrand, so dass Flo bequem hinüber laufen konnte. Nachdem sie es sich, schwerfällig darauf bequem gemacht hatte, schaute Rosalynn sie genauer an. Flo versteckte ihr langes, graues Haar unter einer langen, roten Zipfelmütze. Dazu trug sie ein einfaches, schwarzes, langes Wollkleid, das Rosalynn an die Kutte des Pfarrers erinnerte.
„Du siehst aus, wie unser Pfarrer. Der trägt auch immer so ein langes, schwarzes Kleid, obwohl er doch ein Mann ist“. Flo musste lachen. „Du meinst, er trägt eine Kutte. So nennt man das. Ich trage tatsächlich ein Kleid und obwohl es nicht so hübsch wie deines ist, fühle ich mich doch sehr wohl darin. In meinem Alter spielen hübsche Kleider keine so große Rolle mehr, da müssen sie nur praktisch sein“, erklärte die alte Dame.
" Wie alt bist du denn?“, wollte Rosalynn wissen und legte dabei den Kopf etwas schief.
„Ach, Kindchen, ich bin schon sehr, sehr alt. Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich fünfhundert Jahre alt bin?“
Rosalynn überlegte kurz. „Also ich bin acht Jahre, Oma war fast siebzig Jahre, und du sollst fünfhundert Jahre alt sein? Nein, ich denke, das glaube ich nicht“, antwortete sie. „Das geht gar nicht. Kein Mensch wird fünfhundert Jahre alt, Mami hat mir einmal erzählt, dass ein Mensch über hundert Jahre alt werden kann, wenn er gesund lebt, und noch irgendwelches anderes, komisches Zeug im Körper hat “.
„Nun, meine liebe Rosalynn, da hat deine Mami sicher Recht und was das „komische Zeug“ betrifft, meinte sie sicher die guten Gene. Der Unterschied zwischen mir und dir besteht jedoch darin, dass ich kein Mensch bin und deshalb auch ein ganz anderes Alter haben kann. Du hast doch bestimmt noch nie einen so kleinen Menschen, wie mich gesehen, oder?“
„Ja, das stimmt, und was bist du dann?“
„Ich bin eine alte Wichteldame. Ich komme immer dann, wenn kleine Kinder wie du traurig sind, oder sie einen geliebten Menschen verloren haben“.
Rosalynn schaute nachdenklich drein, dann fragte sie, „Ist das für dich nicht traurig immer nur mit Kindern zu tun haben, die traurig sind?“
„Ja, manchmal ist das so, aber ich weiß etwas, was du noch nicht weißt. Nämlich dass alle Menschen sich irgendwann wiedersehen und dann wieder ganz glücklich miteinander sind. Auch du wirst eines Tages deine geliebte Großmutter wiedersehen, aber bis es soweit ist, passt sie auf dich und deine Eltern auf. Sie ist jetzt ein Engel, der dich überall hin begleitet. Du kannst sie zwar nicht sehen, aber immer wenn du ganz fest an sie denkst, weiß sie das, und dann ist sie genau hier“, Flo deutete auf die Stelle wo ihr Herz saß.
Rosalynn gefiel das und hielt sich ebenfalls ihre Hand auf die Brust. Nun glaubte sie zu verstehen was ihre Mutter damit meinte, als sie sagte, sie könne jederzeit in Gedanken mit Großmutter sprechen. Das Herz ist die Verbindung, das verstand sie nun.
„Ja, genau da ist es richtig, so, und jetzt komm, ich zeige dir wo ich wohne. Aber du darfst es niemandem verraten, sonst kommt nie wieder eine Wichteldame zu den traurigen Kindern und das willst du doch nicht, oder?“
Rosalynn war aufgeregt und versprach hoch und heilig, niemandem ihr Geheimnis zu verraten.
Sie waren eine Weile durch den kleinen Wald, der direkt hinter dem Haus lag, gelaufen, ehe sie an eine Mauer kamen, die dicht mit Efeu und allerlei anderem Rankengewächs, zugewachsen war. Flo blieb davor stehen.
„Da müssen wir jetzt durch“, wobei sich Flo ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
„Wie soll ich denn da durch kommen? Ich kann doch nicht durch eine Mauer laufen“, beschwerte sich Rosalynn.
„Oh doch, du kannst! Pass mal auf“, rief Flo.
Die alte Wichteldame erhob ihren Stock und schwang ihn, wie ein Dirigent, ein paar Mal hin und her, wobei sie unverständliche Laute murmelte, die Rosalynn nicht verstand.
Mit großen Augen, starrte Rosalynn auf die Mauer. Wo sich eben noch Efeu an einer Mauer empor schlängelte, befand sich nun ein riesiges Loch, das aus vielen schwingenden Kreisen bestand. Es erinnerte sie ein wenig an die Kreise, die entstehen, wenn man einen Stein ins Wasser warf. Das Loch war von einem so hellen Licht umgeben, dass Rosalynn sich die Hand über die Augen halten musste, weil es so blendete.
„Nun komm, oder willst du dort Wurzeln schlagen?“, drängte Flo.
Mechanisch setzte Rosalynn sich in Bewegung. Sie hatte etwas Angst, aber ihre Neugier, was sich hinter diesem Loch verbarg, war stärker.
Flo hüpfte hinter Rosalynn her und die Kreise zogen beide in einen Strudel, der Rosalynn unendlich erschien. Nach einer gefühlten Ewigkeit landeten sie etwas unsanft auf einer saftig, grünen Wiese. Ein so intensives Grün hatte Rosalynn noch nie gesehen. Verwirrt schaute sie sich um. Sie war nun genauso groß oder genauso klein, je nachdem wie man es sah, wie die alte Wichteldame. Wo war sie? War das der Himmel, in dem Großmutter nun lebte?
Flo schaute Rosalynn amüsiert an. Sie schien ihre Gedanken zu kennen. „Ja, liebe Rosalynn, das ist der „Himmel“ in dem deine Großmutter nun lebt“.
Erstaunt fragte Rosalynn, „Woher weißt du, dass ich diese Frage hatte?“
„Ich kann alle deine Gedanken lesen“, antwortete Flo und grinste breit.
„Hier ist alles etwas anders, als du es kennst. Du bist jetzt im Land der Wichtel und Elfen. Vieles wird dir komisch vorkommen, aber für uns ist unsere Welt genauso normal, wie deine Welt für dich. Also lass dich einfach überraschen“.
„Werde ich Großmutter hier wiedersehen?“, fragte Rosalynn aufgeregt.
„Wie gesagt, lass dich überraschen, und nun lass uns zu der kleinen Lichtung dort drüben gehen, denn dort befinden sich mein Dorf und meine Wichtelschule. Wir werden schon erwartet“.
Als sie in Sichtweite des Dorfes kamen, liefen ihnen schon von weitem, begleitet von Elfen mit leuchtend, bunten Flügeln, kleine Wichtel entgegen.
„Hallo meine lieben Kinder“, begrüßte Flo sie freudig und zu Rosalynn gewandt, „Willkommen in der Wichtelschule, hier dürfen alle Verstorbenen noch einmal Kinder sein. Ich bin ihre Lehrerin und bilde sie alle zu Wichtel aus. Manche von ihnen werden später als Lehrer in der Wichtelschule, andere weiter im Dorf leben, um andere Aufgaben zu übernehmen.
„Heißt das, du warst auch mal ein Mensch und bist dann in die Wichtelschule gekommen?“
„Ja, mein Kind, so ist es. Auch ich war mal ein Mensch. Nach meiner Ausbildung in der Wichtelschule, lebte ich zunächst im Dorf mit meiner neuen Familie, aber man mochte mich nicht besonders. Ich war einmal sehr hübsch, musst du wissen, aber aus Neid darüber, haben meine Geschwister mich oft gehänselt. Irgendwann beschloss ich, fort zu gehen und landete wieder in der Wichtelschule. Hier bin ich nun seit über dreihundert Jahren glücklich. Die Arbeit mit den Kindern macht mir Spaß und sie mögen mich, so wie ich bin. Das ist meine Geschichte“, schloss Flo mit einem Lächeln.
Rosalynn fand das alles ziemlich aufregend und faszinierend. Verstorbene Menschen, die zu Wichtel ausgebildet wurden und dann auch noch magische Fähigkeiten, wie Zaubern, Gedanken lesen und sicher vieles mehr, besaßen. Für einen Augenblick wünschte sie sich, auch für immer in diesem Dorf leben zu können. Aber dann besann sie sich und sie wusste, dass sie sich eigentlich nur danach sehnte, Großmutter noch einmal zu sehen.
Natürlich kannte Flo, Rosalynns Gedanken und Sehnsucht, daher wollte sie, sie auch nicht länger warten lassen. Wieder einmal schwang Flo ihren Stock und murmelte unverständliche Laute vor sich hin. Wie aus dem Nichts stand sie plötzlich da. Ungläubig blickte sie in das liebevoll, lächelnde Gesicht der Großmutter. Sie sah noch genauso aus, wie Rosalynn sie in Erinnerung hatte. Es dauerte einen Moment, ehe sie sich aus ihrem Erstaunen lösen konnte und dann freudig rief, „Großmutter!“.
Großmutter breitete ihre Arme weit aus und rief, „Rosaylnn, mein liebes Kind! Ich bin so glücklich, dass ich dich noch einmal sehen darf“.
Rosalynn konnte einfach nicht anders. Sie rannte direkt in die weit ausgebreiteten Arme der Großmutter. Tränen der Freude und der Trauer zugleich, liefen über ihre Wangen. Auch die Großmutter konnte nun ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Beide verharrten für eine Weile, schweigend in der Umarmung. Rosalynn wünschte, dieser Augenblick würde nie vergehen. Sie wollte für immer hier, ganz nah bei der Großmutter bleiben.
„Das geht nicht, Kleines, und das weißt du auch“, antwortete die Großmutter auf Rosalynns Gedanken und löste sich langsam aus der Umarmung.
„Du kannst auch Gedanken lesen?“, fragte Rosalynn erstaunt.
„Ja, jeder hier kann das“, lächelte die Großmutter, und strich Rosalynn sanft über das blonde Haar.
„Deshalb werden wir uns auch immer ganz nah sein. Ich werde immer deine Gedanken kennen und darauf antworten, wenn du mich rufst. Glaub mir, du wirst mich immer verstehen.
Erinnerst du dich noch an all die Geschichten, die ich dir vor dem Einschlafen erzählt habe? An all die Geschichten über die Elfen und Wichtel? Ich konnte dir nur davon erzählen, weil auch ich als Kind schon einmal hier war, und mich von meiner Großmutter verabschieden durfte. Nun wirst auch du später einmal deinen Enkelkindern vom Land der Wichtel und Elfen erzählen können, und wir werden uns hier eines Tages wiedersehen. Bis es soweit ist, nimm diesen Stein. Wenn du mich rufst, halte ihn immer ganz fest in deiner Hand und denke an mich“. Rosalynn betrachtete den kleinen, rosafarbenen Stein. Er funkelte sehr stark, und wenn man ihn gegen das Licht hielt, schien es so, als könne man durch ihn hindurchschauen. Rosalynn spürte, dass es Zeit war Abschied zu nehmen. Sie wusste aber auch, dass es kein Abschied für immer war, auch wenn sie sich nicht mehr sehen würden, so würden sie doch immer in Verbindung bleiben, nur eben anders. Das tröstete Rosalynn ein wenig. Langsam verblasste das Bild der Großmutter und Rosalynn war wieder in dem Strudel des Kreises, der sie jedoch dieses Mal nach Hause bringen würde.
„Rosalynn, Rosalynn, wach auf, Kleines!“, hörte sie, wie aus weiter Ferne, die Stimme ihre Mutter. Rosalynn öffnete die Augen und schaute sich verwirrt um. Sie lag draußen auf der Veranda in der Hollywood Schaukel, und fröstelte.
„Komm rein, es wird kühl und du wirst dich noch erkälten, wenn du noch länger hier liegen bleibst. Es gibt bald Abendessen“.
Rosalynn schaute in ihre rechte Hand. Sie war nicht sicher, ob sie alles nur geträumt hatte, aber der Stein, in ihrer Hand war noch immer da.
„Mami, ich habe Großmutter gesehen, es geht ihr gut und sie ist jetzt bei….,Rosalynn stockte. Ihr fiel plötzlich das Versprechen ein, dass sie Flo hatte geben müssen. Es musste ein Geheimnis bleiben, sonst würden nie wieder kleine Wichtel zu traurigen Kindern kommen und sie trösten. Rosalynn presste die Lippen aufeinander.
„Was wolltest du sagen?“, fragte ihre Mutter. „Du hast Großmutter gesehen und es geht ihr gut, sie ist jetzt bei…bei wem?“.
„Äh ja, sie ist jetzt bei den Engeln. Sie hört und sieht jetzt immer alles, hat sie gesagt. Ich soll nur an sie denken, dann wäre sie immer bei mir“, presste sie hervor und hielt dabei den Stein ganz fest in der Hand.
„Ja, Rosalynn, Oma hat dir in deinem Traum noch einmal gezeigt, dass sie immer für dich da sein wird und du dir keine Sorgen machen musst, auch wenn du sie nicht siehst. Das war wirklich ein toller Traum, so und jetzt aber rein ins Haus“.
Rosalynn lächelte und schlang ihre Arme um den Hals der Mutter. Die Mutter gab ihr einen Kuss und hob sie Huckepack ins Haus.
Im Land der Wichtel konnte man jetzt eine alte Wichteldame schmunzeln sehen. Kopfschüttelnd, und mit auf dem Rücken verschränkten Armen, machte sie sich auf den Weg zur Wichtelschule, wo nun viele kleine Wichtel, auch Rosalynns Großmutter, auf ihren Unterricht warteten.