Mitglied
- Beitritt
- 11.04.2011
- Beiträge
- 246
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Die alte Schule
Hermine Schatz lässt ihren schmalen Körper in die Bank sinken. Sie schließt die Augen und nimmt all die vertrauten Gerüche wahr: den des von Holzwürmern zerfressenen Tisches, den der Kreide und des alten Lappens unter der Tafel. Den Leinengeruch der alten Weltkarte und den des Leders der Schulranzen. Sie öffnet die Augen und betrachtet die auf die Tafel geschriebenen, großen und kleinen Buchstaben. Das von Flecken umgebene Tintenfässchen, das Kruzifix an der Wand.
Die Wand. Sie vermisst den Riss darin.
Eine Granate der Franzosen hatte das Nebengebäude getroffen - da hatten sie bereits im Keller gesessen, Buben und Mädchen und sogar der Lehrer dicht aneinandergedrängt. Plötzlich bebte der Boden und als sie dann wieder nach oben kamen war da der Riss. Stieg hinter dem Lehrerpult empor, als hätte Zeus einen zornigen Blitz geschleudert.
Ihre Gedanken heben ab und fliegen.
Nach der letzten Stunde wird sie mit Dora und Gertrud zusammen aufs Feld gehen, durch die Reihen kriechen und die wenigen, vom Bauer vergessenen Knollen aufsammeln. Der Mutter beim Anfachen des Zubers helfen, die Wäsche waschen und zur Mangel bringen.
Der Vater ist seit Jahren im Krieg. Fürs Vaterland heißt es und sie versteht das. Dass der Führer jetzt auch ihren Bruder Stefan geholt und zum Volkssturm eingezogen hat, versteht sie nicht.
Er wird nicht zurückkommen, weiß sie.
Er wird bei einer Übung im Prorer Wieck von einem Schrapnell getroffen werden. Sie wird den Ort aufsuchen und sich den kleinen Krater mit den verbrannten Bäumen ansehen.
Später werden der Dachstuhl der alten Schule in Flammen auf- und der Krieg verloren gehen.
Sie wird heiraten und zwei Mädchen gebären, ihren Mann beerdigen, Enkel und Urenkel bekommen.
Sie wird ihr Gehör verlieren und aus dem schiefen Haus ausziehen in eine Wohnung.
„Hat es Ihnen geschmeckt?“, reißt sie die Stimme der Kellnerin aus ihren Gedanken.
Hermine Schatz erinnert sich: Die alte Schule ist jetzt ein Restaurant.
„Sie hätten die Kerze anzünden müssen“, rügt sie die Kellnerin und trinkt aus.