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Die alte Lukrezia
Die alte Lukrezia
Mitten in der Nacht hört man die Hunde heulen und auf den schiefen Dächern stehen Schornsteine wie Säulen.
Durch die Fenster sieht man hier und dort schwaches, trübes Licht.
Hinter den kleinen, staubigen Scheiben könnte man sie an ihren Tischen kauern sehen, wenn man dort um diese Zeit spazierenginge und durch die Fenster schauen würde.
Niemand geht dort mehr Nachts spazieren.
Niemand außer dem beißenden Wind und ein paar alten, kampferprobten Katzen, welche sich vorsichtig witternd, langsam und schattengleich bewegen.
Das Leben versickert zwischen den Steinen und die Zeit wächst langsam wie das Moos an den Mauerfugen der alten Häuser entlang.
Die Totenuhr klopft leise,wenn Du den Atem anhältst, kannst Du sie in fast jedem der noch stehenden Häuser ticken hören.
Das Heu ist im trockenen, und oft viel zu schwer.
Nicht mehr viele sind geblieben.
Die Kirche ist fest verschlossen seit der alte Pfarrer gestorben ist.
Es wird hier nie mehr einen Pfarrer geben.
Es sind zu wenige.
Auf dem kleinen Bahnhof säuselt der Wind um die Ecken und treibt Staub und Blätter vor sich her.
Die Gräser erobern sich zusammen mit dem Löwenzahn den Bahnsteig zurück.
Fast schon sieht es Tagsüber aus, wie eine kleine,freundliche Blumenwiese vor dem verwitterten Stationsgebäude mit den zugenagelten Fenstern und der überall abblätternden Farbe.
Alles was man hört, sind Züge, die auf der Durchfahrt sind.
Sie pfeifen, wenn sie vorbeisausen.
Drinnen sitzen Menschen mit Zielen.
Sie bemerken das leise Sterben nicht im vorbeirasen...zu schnell ist es wieder vorbeigehuscht, nur kurz erleuchtet durch den Wiederschein des Lichts aus den Waggonfenstern an der kleinen, brüchigen Fassade.
Dort, im letzten Haus hinter dem Bahnhof faltet die alte Lukrezia die Hände um ein kleines Stückchen Papier.
Still schaut sie in die Kerzenflamme vor dem Kruzifix.
Es ist, als schliefe sie mit offenen Augen.
Ihr Herzschlag gleicht dem Flügelschlag eines Schmetterlings.
Ein klares strahlendes Leuchten spiegelt sich in ihren Augen wieder, die schon so viel gesehen haben, und immer noch sehend in die Welt schauen, immer noch teilhaftig werden des Wunders täglich neu entstehender Schöpfung.
Noch einmal hört man die Hunde heulen, dann stößt die letzte Kuh ihr langgezogenes brüllendes Klagen aus und wieder versickern alle Geräusche im Mondlicht zu flüsternder Stille.
Der Morgen nähert sich mit schwachem Licht.
Marder machen noch letzte Beute.
Die Fledermäuse kehren zu ihren Schlafplätzen im Kirchturm zurück die ihnen außer einer Eule niemand mehr streitig macht.
Keine Glocke stört mehr ihren Schlaf.
Nur manchmal whispert das kühle Metall im Wind, als erinnerten sich die Glocken an jene Tage, an denen sie den Lobgesang zu Ehren Gottes in die Weite tragen durften.
Die alte Lukrezia steht langsam auf, bekreuzigt sich, neigt ihr greises Haupt in Richtung des Erlösers und geht langsam zur Türe.
Sie legt sich ihr bestes wollenes Tuch um, denn Morgens ist es frisch draußen.
Sie gießt ein bischen Milch in die kleine gesprungene Schale mit den aufgemalten Blumen und stellt sie neben die Türe damit die Katze sie gleich am gewohnten Platz vorfindet, wenn sie von ihrem Streifzug nachhause kommt.
Sorgsam schließt sie die Türe hinter sich, ohne jedoch abzusperren.
Hier bleiben die Türen immer offen.
Dann geht sie mit langsamen, behutsamen Schritten aus dem Haus bis zu der Bank unter dem Apfelbaum.
Wenn es warm war hatten sie hier immer gesessen.
Sie hatten gelacht, und gefeiert, sie waren zärtlich gewesen und sie konnten schweigen.
Oft hatten sie geträumt, wie einmal alles werden würde.
Sie zählte die Stunden nicht die glücklich, oder unglücklich mit dieser Bank verbunden waren.
Es war gut so gewesen wie es war.
Was mußte man da reden...
Sie setzte sich mit einem leichten Aufseufzen hin, zog das Tuch fester um ihre schmalen Schultern und faltete erneut die Hände über dem kleinen Stückchen Papier.
Die Vögel waren längst erwacht, und ließen ihren Gesang durch die sich sachte im Morgenwind wiegenden Baumwipfel schallen.
Bald würde es soweit sein.
Sie war bereit das große Licht zu begrüßen.
Mit pastellfarbenem Lichtglanz kündigt sich das nahende Licht an.
Der erste Sonnenstrahl bricht sich gleißende Bahn durch die schattenschwarzen Wipfel des großen Tannenwaldes hoch oben am Berg.
Lukrezia lächelt während sie die Gnade des Lichtes in ihrem Herzen empfängt .
„Ich danke Dir für jeden neuen Tag“ flüstert sie leise und streckt ihre mageren Arme gen Himmel.
Das Papier entfällt ihrer ausgestreckten Hand und flattert zu Boden.
Eine Lerche schwingt sich jubilierend ins klare Blau.
Ein glückliches Paar auf einer kleinen Schwarzweißphotographie sieht ihr lächelnd nach.
21.05.2002 AP
[ 26.05.2002, 16:12: Beitrag editiert von: Lord Arion ]