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Die alte Lukrezia

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26.10.2001
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Die alte Lukrezia

Die alte Lukrezia

Mitten in der Nacht hört man die Hunde heulen und auf den schiefen Dächern stehen Schornsteine wie Säulen.
Durch die Fenster sieht man hier und dort schwaches, trübes Licht.
Hinter den kleinen, staubigen Scheiben könnte man sie an ihren Tischen kauern sehen, wenn man dort um diese Zeit spazierenginge und durch die Fenster schauen würde.
Niemand geht dort mehr Nachts spazieren.
Niemand außer dem beißenden Wind und ein paar alten, kampferprobten Katzen, welche sich vorsichtig witternd, langsam und schattengleich bewegen.
Das Leben versickert zwischen den Steinen und die Zeit wächst langsam wie das Moos an den Mauerfugen der alten Häuser entlang.
Die Totenuhr klopft leise,wenn Du den Atem anhältst, kannst Du sie in fast jedem der noch stehenden Häuser ticken hören.
Das Heu ist im trockenen, und oft viel zu schwer.

Nicht mehr viele sind geblieben.
Die Kirche ist fest verschlossen seit der alte Pfarrer gestorben ist.
Es wird hier nie mehr einen Pfarrer geben.
Es sind zu wenige.

Auf dem kleinen Bahnhof säuselt der Wind um die Ecken und treibt Staub und Blätter vor sich her.
Die Gräser erobern sich zusammen mit dem Löwenzahn den Bahnsteig zurück.
Fast schon sieht es Tagsüber aus, wie eine kleine,freundliche Blumenwiese vor dem verwitterten Stationsgebäude mit den zugenagelten Fenstern und der überall abblätternden Farbe.
Alles was man hört, sind Züge, die auf der Durchfahrt sind.
Sie pfeifen, wenn sie vorbeisausen.
Drinnen sitzen Menschen mit Zielen.
Sie bemerken das leise Sterben nicht im vorbeirasen...zu schnell ist es wieder vorbeigehuscht, nur kurz erleuchtet durch den Wiederschein des Lichts aus den Waggonfenstern an der kleinen, brüchigen Fassade.

Dort, im letzten Haus hinter dem Bahnhof faltet die alte Lukrezia die Hände um ein kleines Stückchen Papier.
Still schaut sie in die Kerzenflamme vor dem Kruzifix.
Es ist, als schliefe sie mit offenen Augen.
Ihr Herzschlag gleicht dem Flügelschlag eines Schmetterlings.
Ein klares strahlendes Leuchten spiegelt sich in ihren Augen wieder, die schon so viel gesehen haben, und immer noch sehend in die Welt schauen, immer noch teilhaftig werden des Wunders täglich neu entstehender Schöpfung.

Noch einmal hört man die Hunde heulen, dann stößt die letzte Kuh ihr langgezogenes brüllendes Klagen aus und wieder versickern alle Geräusche im Mondlicht zu flüsternder Stille.
Der Morgen nähert sich mit schwachem Licht.
Marder machen noch letzte Beute.
Die Fledermäuse kehren zu ihren Schlafplätzen im Kirchturm zurück die ihnen außer einer Eule niemand mehr streitig macht.

Keine Glocke stört mehr ihren Schlaf.
Nur manchmal whispert das kühle Metall im Wind, als erinnerten sich die Glocken an jene Tage, an denen sie den Lobgesang zu Ehren Gottes in die Weite tragen durften.

Die alte Lukrezia steht langsam auf, bekreuzigt sich, neigt ihr greises Haupt in Richtung des Erlösers und geht langsam zur Türe.

Sie legt sich ihr bestes wollenes Tuch um, denn Morgens ist es frisch draußen.
Sie gießt ein bischen Milch in die kleine gesprungene Schale mit den aufgemalten Blumen und stellt sie neben die Türe damit die Katze sie gleich am gewohnten Platz vorfindet, wenn sie von ihrem Streifzug nachhause kommt.
Sorgsam schließt sie die Türe hinter sich, ohne jedoch abzusperren.
Hier bleiben die Türen immer offen.

Dann geht sie mit langsamen, behutsamen Schritten aus dem Haus bis zu der Bank unter dem Apfelbaum.
Wenn es warm war hatten sie hier immer gesessen.
Sie hatten gelacht, und gefeiert, sie waren zärtlich gewesen und sie konnten schweigen.
Oft hatten sie geträumt, wie einmal alles werden würde.
Sie zählte die Stunden nicht die glücklich, oder unglücklich mit dieser Bank verbunden waren.
Es war gut so gewesen wie es war.
Was mußte man da reden...

Sie setzte sich mit einem leichten Aufseufzen hin, zog das Tuch fester um ihre schmalen Schultern und faltete erneut die Hände über dem kleinen Stückchen Papier.

Die Vögel waren längst erwacht, und ließen ihren Gesang durch die sich sachte im Morgenwind wiegenden Baumwipfel schallen.

Bald würde es soweit sein.
Sie war bereit das große Licht zu begrüßen.

Mit pastellfarbenem Lichtglanz kündigt sich das nahende Licht an.
Der erste Sonnenstrahl bricht sich gleißende Bahn durch die schattenschwarzen Wipfel des großen Tannenwaldes hoch oben am Berg.

Lukrezia lächelt während sie die Gnade des Lichtes in ihrem Herzen empfängt .
„Ich danke Dir für jeden neuen Tag“ flüstert sie leise und streckt ihre mageren Arme gen Himmel.
Das Papier entfällt ihrer ausgestreckten Hand und flattert zu Boden.

Eine Lerche schwingt sich jubilierend ins klare Blau.

Ein glückliches Paar auf einer kleinen Schwarzweißphotographie sieht ihr lächelnd nach.

21.05.2002 AP

[ 26.05.2002, 16:12: Beitrag editiert von: Lord Arion ]

 

Hi Mylord Arvid,

sag mal: Wie schaffst du das bloß, solche Geschichten zu schreiben? Mit einem Auge weint man, mit dem anderen lacht man... zumindest geht es mir so. Du malst nachvollziehbare Stimmungen, ohne jemals ins Kitschige abzugleiten, auch da, wo es um Hoffnung, um Liebe und um Gott geht.

Wenn es sich vielleicht auch wie Schleimen anhört: Ich kann nur loben, loben, loben.

Ein oder zwei Schreibfehler sind mir aufgefallen, aber ich kann sie nicht aufzeigen. Eine gute Geschichte an Kleinigkeiten zu bekritteln kommt mir immer vor wie Erbsenzählerei. Bin ich nicht zu in der Lage.

Hochachtung vom größten Lakita-und-Lord-Fan
Pip

 

Hi, Lord,
die sanfte Zeichnung der Atmosphäre dieser Geschichte wirkt, glaube ich, sofort auf den Leser. Ich mag die Geschichte kaum in die Hand zu nehmen, so zerbrechlich wirkt sie auf mich.
Sehr gut gelungen sind die Bilder, die die Eigenschaften von Frau und Ort gleichsetzen, wei ich finde: das Bahnhofsgebäude, verwittert, aber in neuem Glanz durch die Blumen, die das Feld zurückerobern. Wie die Frau, die sich so vom Ende des Lebens ennehmen lässt, ohne verbittert zu sein. Die Glocken, die still hängen, nur manchmal - ganz leise - von damals träumen; auch das macht die Frau - still warten und sich dann und wann auf der Bank dem Träumen hingeben.
Desweiteren noch mehr davon.
Also, das hast Du echt gut gemacht, die ganze Geschichte bildet eine Einheit in ihren Bildern, wirkt beruhigend auf mich ein.
Auch sonst lässt sich kaum meckern. Die Intention der Geschichte stimmt, baut Zuversicht auf: dem Tod nicht entgegenfiebern, obwohl er um so viel schöner scheint, sondern mit Hingabe jeden Tag zu begrüßen. Dabei bildet sich auch schön der schleichende Umschwung in der Geschichte heraus. Erst vom Zerfall berichtend, dann langsam und fast unmerklich die Kehrtwendung. Gefällt mir wirklich gut.
Allein ein, zwei Formulierungen sind mir etwas zu 'schwülstig' (aber nicht wirklch schlimm);
hier z.B.:

immer noch teilhaftig werden des Wunders täglich neu entstehender Schöpfung
Naja, insgesamt ein tolles Bildermeer.

ruß, baddax

 

@pip
Freut mich immer von Dir was liebes zu hören, ich glaub ich schreibe am besten, wenn ich eine fragile, traurige Sehnsucht in mir trage...die Bilder kommen dann von ganz alleine...ich schreib sie bloß auf...
danke Dir. :kuss:
@Baddax
Lieber Baddax
gerade auch von Dir iene gute Kritik zu bekommen freut mich sehr.
Sei sicher, dass da, wo die geschichte herkommt, noch mehrere aufs Licht der Welt warten..

euer Lord

 

hier war doch ein könner am werk *g* - eine sehr opernhafte darstellung.
die geschichte kommt sehr schwer (bitte nicht im sinne von schwierig *g*) rüber, sie verlangt vom leser ein aufmerksames lesen. die erzählweise selbst war äußerst anschaulich.
fazit: nichts für verwöhnte leser aber (oder gerade deswegen) eine professionelle geschichte!
bye
barde

 

Hmm..Barde..Bardenmäßige Kritik, nach der ich echt nicht weiß ob ich mich nun gelobt, oder getadelt fühle...ich tendiere mal eher zu gelobt(in dubio pro reo) :D
Lord ;)

 

Hallo Lord,

ist ja interessant, wie unterschiedlich Geschichten auf Menschen wirken:

die geschichte kommt sehr schwer (bitte nicht im sinne von schwierig *g*) rüber, sie verlangt vom leser ein aufmerksames lesen.
meint etwa der Barde.

Keineswegs, rufe ich da zurück, weil ich das Gegenteil empfinde: Wer da mit Sorgen beladen, hochgradig nervös oder einfach nur schlecht drauf ist, der lese deine Geschichte, auf dass er seine Probleme für eine Weile vergesse, sich beruhige und inneren Frieden finde.

Warum sie gut ist, kann ich dir wegen eigener mangelnder Ausdruckskraft nicht sagen, aber dass sie trotz aller Morbidität Ruhe und Besinnung vermittelt, das bestätige ich dir als Gemütsmensch mit Vergnügen.

Weiter so.

Servus, Georg

 

Lieber Arvid,

dir ist mal wieder eine wunderschöne sanfte Geschichte gelungen.
Pip hat es schon sehr treffend gesagt, ich staune auch, wie du das immer wieder hinbekommst, mit schlichten Worten eine so dichte beruhigende Atmosphäre zu schaffen und kein peinliches Abgleiten in den Kitsch hervorzurufen.
Absolut gelungen.
Ich finde es sehr schwer, eine Kritik zu schreiben, wenn ich an einer Geschichte nichts auszusetzen habe, was soll man da viel sagen. So geht es mir hier.

Gruß elvira

[ 26.05.2002, 02:06: Beitrag editiert von: lakita ]

 

@ georg & Lakita

Vielen Dank ihr beiden, freut mich, dass es euch auch gefällt.
@ Mirko, der Katzensmilie is spitze !!

Lord :) :) ;)

 

Vorschlag - einfach nur:

Der Morgen naht .....

Servus, Georg

 

Noch einmal hört man die Hunde heulen, dann stößt die letzte Kuh ihr langgezogenes brüllendes Klagen aus und wieder versickern alle Geräusche im Mondlicht zu flüsternder Stille.
Ein Hund bellt, eine Kuh muht, der Mond scheint, es ist still.
Mit pastellfarbenem Lichtglanz kündigt sich das nahende Licht an.
Der erste Sonnenstrahl bricht sich gleißende Bahn durch die schattenschwarzen Wipfel des großen Tannenwaldes hoch oben am Berg.
Die Sonne geht auf.

Ich glaube, an meinen "Alternativen" erkennt man, wer der wahre Meister der Stimmung ist. Wer die richtigen Worte findet...

Klasse Lord ! :thumbsup:

 

Hallo heiko...habe daraus "nähert sich" gemacht...danke für den Tip, dank auch an G.H. auch Querkopp sei nicht vergessen...

Lord :) ;)

 

Hallo Lord,

ich war zunächst ein wenig verwirrt, als ich deine Story las, da es auf mich wie ein Gedicht wirkte, nicht wie eine Kurzgeschichte.
Und tatsächlich zeichnen die gewählten Worte ein kunstvolles Bild, das Mut zum Leben macht.

 

Hi Andre

Freut mich sehr, wenn ich das mit meiner geschichte erreichen konnte...

Lord

 

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