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- 02.06.2002
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Die alte Frau
Das Haus stand am Rand der Lichtung. Schon sehr lange stand es dort und in ihm wohnte die Frau. Sie war alt und schwach. Nachts, wenn es dunkel war und kalt, ging sie hinaus in den Wald, sprach mit den Tieren der Dunkelheit. Sie lauschte der Eule, sang dem Reh ein Lied und dem Fuchs. Sie ging hinein den tiefen Wald. Ohne Furcht und Angst, denn sie kannte den Wald. Seine Einsamkeit und die warme, schwarze Stille. Sie pflückte seine Kräuter, sie kannte die Wurzeln, die heilen. Jede Nacht ging sie in den Wald.
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Vom Dorf sahen die Menschen das Haus. Sie sahen es schon sehr lange. Hundert Jahre lebte die Alte schon dort, behaupteten einige. Ehrfurcht und Bewunderung lag in ihren Stimmen, wenn sie von ihr sprachen. Sie beherrsche die Kraft des Heilens und könne mit den Tieren reden. An Tagen, an denen der Regen auf das Dorf herabfiel und die Krüge im Wirtshaus schneller nachgefüllt wurden als sonst, konnte man den Erzählungen der Männer lauschen. Sie beugten sich weit über den Tisch und begannen leise zu flüstern.
Es war Winter, als vor langen Jahren der Enkel des Dorfältesten im Bett lag, vom Fieber gepeinigt. Die Krankheit zehrte die Farbe aus den Wangen des Kindes und schüttelte es in Krämpfen. Der Arzt wusste keinen Rat und der Pfarrer tröstete schon die Eltern mit den Bildern des Paradieses. Und als der Tod sich des Jungen schon fast bemächtigt hatte, brachte ihn der Vater zu der alten Frau. Damals schon wurde manches Wunder von ihr berichtet.
Sie beugte ihren alten Körper über den Jungen und legte ihre trockene Hand auf seine heiße Stirn. Kurz schaute sie ihm in die glasigen Augen. Dann sagte sie mit ihrer krächzenden Stimme:
„Sein Körper ist schwach und der Tod ist nah. Doch ein Trunk und Ruhe mögen ihn vertreiben. Geht heim und wartet auf den nächsten Morgen. Dann kommt wieder.“
Und der Vater tat wie ihm geheißen ohne Widerspruch zu wagen. In Angst ging er heim und am Morgen des nächsten Tages erschien er wieder in ihrem Haus. Dort lag das junge Kind in einem ruhigen Schlaf. Von Zweifel und Unglauben verwirrt, nahm der Vater seinen Sohn und brachte ihn heim. Am nächsten Tag spielte das Kind schon mit den anderen auf der Wiese und bald vergaß der Vater die alte Frau.
Ja, so sei es gewesen, sagten die Männer. Sie stopften ihre Pfeifen und tranken ihr Bier. Sie saßen um den Tisch und der Nächste begann zu erzählen. Er beugte sich weit über den Tisch und die anderen rückten näher heran.
Noch nicht lange war es her, da gab es im Dorf einen wohlhabenden Mann. Die Milch seiner Kühe verhalf ihm zu bescheidenem Reichtum und einem guten Leben. Doch eines Tages hörte sein bestes Tier auf Milch zu geben. Der Bauer gab ihm das beste Heu, das frischeste Gras und das klarste Wasser. Ohne Erfolg blieb er damit. Keinen Tropfen Milch brachte er aus ihrem Euter, das früher einen ganzen Eimer zu füllen vermochte. So brachte er schließlich die Kuh zur alten Frau.
Gebeugt von der Last der Jahre trat die alte Frau an das Tier heran. Sie streichelte die Kuh und sprach mit sanften Worten auf sie ein. Das Tier wurde ruhig, der Bauer stand still und die Frau flüsterte in das Ohr des Tieres. Die Kuh muhte. Noch ein Mal sprach die Frau leise zu der Kuh. Wieder muhte die Kuh und es klang wie ein Stöhnen. Die Frau klopfte der Kuh sanft und beruhigend auf den Kopf und wandte sich an den Bauern.
„Schafft hinfort das neue Tier! Zank und Unfrieden bringt es unter eure Herde. Schafft es fort, dann werdet ihr auch bei diesem Tier wieder Milch melken.“
Und so geschah es. Der Bauer ging heim und verkaufte die Kuh, die er vor kurzem erst mit viel Geld erstanden hatte an den Schlachter. Bald darauf molk er soviel Milch wie zuvor.
Da ging der Mann noch ein Mal zur Frau und zum Dank schenkte er ihr Milch solang sie lebe.
Ja, so sei es gewesen, sagten die Männer. Sie nickten zustimmend und bestellten noch ein Bier.
Der Abend verging mit den Erzählungen der Männer. Und der nächste Abend auch. Die Jungen lauschten den Alten, die Jüngeren den Jungen und die Jahre zogen ins Land.
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Die Männer sitzen um den Tisch. Sie trinken ihr Bier und rauchen ihre Pfeifen. Sie blicken sorgvoll, viele sind krank. Draußen fällt der Regen und einer beginnt zu reden.
„Der Regen fällt, eines halbes Jahr schon! Unser Korn geht ein und die Kartoffeln sind faul!
Seht hinauf zur Alten! Ihr Getreide steht in vollen Ähren, ihre Kartoffeln blühn!“
Die Männer nicken und für ein paar Augenblicke wird es still im Raum. Einer hustet und spricht weiter:
„Ich bin krank und meine Frau und meine Kinder. Sie husten und sind schwach! Der Arzt war bei mir. Viele Kinder im Dorf sind gestorben. Aber seht hinauf zur Alten! Rennt herum mit ihre hundert Jahr’ wie gesund!“
Die Männer nicken. Bei ihnen zu Hause husten sie auch. Sie senken den Kopf und ihre Blicke stochern in den Ritzen des Eichentisches. Ein anderer fährt fort:
„Das ist das Wasser. Das Wasser aus unserem Brunnen macht uns krank. Die Alte hat ihren eigenen Brunnen. Sie ist gesund. Vielleicht....“
Eine lange Pause währt, dann springt einer auf:
„Gift! Sie vergiftet den Brunnen, die alte...Hexe!“
„Sie verflucht unsere Felder!“
„Sie tötet unsere Kinder!“
Ja, so ist es wohl. Die Männer nicken grimmig. Sie beugen sich über den Tisch und reden bis tief in die Nacht. Dann gehen sie heim und manchmal blickt einer hinaus auf das Haus am Wald.
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Das Haus steht am Rand der Lichtung. Schon sehr lange steht es dort und in ihm wohnt die Frau. Sie ist böse und hässlich. Nachts, wenn es dunkel ist und kalt, schleicht sie hinaus in den Wald, jagt die Tiere der Dunkelheit. Sie reißt die Eule und dem Reh das Kitz. Der Fuchs flüchtet vor ihr. Sie schleicht hinein in den tiefen Wald. Ohne Furcht und Angst, denn sie kennt den Wald. Seine Einsamkeit und die stille, kalte Schwärze. Sie pflückt seine Kräuter, sie kennt die Wurzeln, die vergiften. Jede Nacht schleicht sie in den Wald.