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Die alte Frau und das Meer
Jeden Tag geht die alte Frau aufs Meer und pflanzt einen Baum. Morgens nach dem Frühstück schultert sie ihre Werkzeuge, nimmt den noch kleinen Baum auf den Arm und geht los. Die windstillen Tage sind ihr am liebsten, schließlich wird sie auch nicht jünger. Dann hüpft sie bei der Brandung nur über ein paar Wellen und kann danach ganz entspannt zu ihrem Wäldchen laufen. Wenn es stürmig ist, wird es für sie anstrengender. Selbst wenn sie es dann endlich über die ersten brechenden Wände geschafft hat, muss sie bis zum Ziel immer wieder auf und ab laufen.
Einen Baum zu pflanzen ist nicht schwer. Zuerst muss man ein Loch in das Wasser schaufeln. Dann stellt man den Setzling hinein, bestenfalls mit den Wurzeln nach unten. Und danach schüttet man das Loch wieder zu. Natürlich sind Setzlinge teuer, aber die Alte hat schon genug Zeit gehabt um ordentlich viel zu erben.
Im Wäldchen ist es so ruhig wie in einem Raum voller Kinder, die ihr Mittagsschläfchen abhalten. Da es sich inzwischen mehr wie Erde als Wasser anfühlt, trauen sich die Wellen nicht mehr weit rein. Nur ab und zu schwappt mal eine durch die Bäume. Das Wäldchen ist inzwischen auch kein Wäldchen mehr, sondern ein Wald. Aber weil die Alte immer nur vom Wäldchen redet, haben es die anderen Inselbewohner auch übernommen.
Die meisten Inselbewohner betreten es nicht, denn sie sind Bootsbesitzer und der Meinung, dass die Alte ihnen den Platz wegnehme. Als die Alte auf die Insel gezogen ist, hatte sie viel Streit mit den Bootsbesitzern. Diese sind oft rausgefahren und haben ihre Setzlinge herausgerissen. Sie hat sich aber trotzdem kein anderes Meer gesucht. Die Lösung war, dass sie vereinzelt Obstbäume gepflanzt hat, in deren Schatten man jetzt immer die Boote ankern sieht. Die Inselbewohner beschweren sich immer noch über die Alte, aber man merkt, dass sie eigentlich ganz zufrieden mit ihrer Arbeit sind.
Mit Motorbooten kommt man nicht in das Wäldchen. Den Bäumen gefällt der Krach nicht und sie rücken näher zusammen, so dass ein Durchkommen unmöglich ist. Nur selten sieht man jemanden, sich mit dem Ruderboot auf den Weg machen um den ruhigen glitzernden Wald zu besuchen. Sobald er angekommen ist, kann er die Ruder einholen und sich von der sanften Strömung unter den Bäumen entlangziehen lassen.
Die einzigen, die auch zu Fuß zum Wäldchen laufen, sind die Nonnen vom Inselkloster. Im Gänsemarsch springen sie eine nach der anderen vom Wellenbrecher aufs Wasser und laufen Kirchenlieder singend zum Wäldchen. Dort angekommen setzen sie sich auf eine Lichtung um zu picknicken und beten. Dies machen sie an keinem bestimmten Tag, sondern immer nur wenn das Wasser ruhig ist. Wenn die Alte vorbeikommt, grüßt sie nett, aber setzt sich nur zu ihnen, falls es schon Zeit fürs Mittagessen ist.
Die Menschen auf dem Festland wissen, dass Bäume nicht auf dem Wasser stehen und wachsen können. Deswegen kommt niemand von ihnen das Wäldchen besuchen. Die Geschichten der Inselbevölkerung tun sie als Seemannsgarn ab und lachen über den Ernst, mit dem die Geschichte erzählt wird. Wenn sie dann dochmal auf dem Wasser einen Obstbaum oder sogar das Wäldchen entdecken, reden sie nur über Luftspiegelungen und lassen sich nicht beirren.
Einmal kam ein Artikel in der Zeitung, der von ungewöhnlichen Mangrovenfunden berichtet hat. Eigentlich sollte es in diesem Meer viel zu kalt für sie sein. Weiter nachgeforscht hat trotzdem niemand, denn der Artikel kam zufälligerweise am ersten April raus und die Wissenschaftler waren alle zusehr damit beschäftigt Zahnpastatürklinken und Wassereimern auszuweichen, als dass sie die Zeitung gelesen hätten.
Weit im Landesinneren gibt es einen Ort, an dem man den Inselbewohnern ihre Geschichte glauben würde. Es ist ein Dorf an einem stark bewachsenen See. Nachdem die Alte in Rente gegangen ist, lebte sie eine Weile in diesem Dorf. Der See ist natürlich ihr Werk. Man kann über ihn gehen und es nicht bemerken. Erst wenn man die Blätter und kleinen Äste vom Boden wegfegt, sieht man, dass man auf Wasser läuft. Die meisten, die das merken, sind davon so überrascht, dass sie sofort ins Wasser fallen und zum Ufer zurück schwimmen müssen.
Durch das Dorf fließt ein Fluss, der früher immer übergetreten ist und die Gärten und Kellerinhalte der Dorfbewohner zerstört hat. Es war üblich, die schicken Möbel ins Obergeschoss zu stellen. Und Gäste nach oben zu bitten, war ein Zeichen des Respekts.
"Ich würde ihm die Treppe zeigen", war ein beliebter Ausdruck um wertschätzend über jemanden zu sprechen. Bis heute haben die Pokale des lokalen Sportvereins noch die Form einer Treppe und das Siegertreppchen hat sich auch im Rest der Welt durchgesetzt.
Der Kultur zum Trotz waren die Dorfbewohner nicht zufrieden mit den ständigen Überschwemmungen und überlegten, wie sie das Problem lösen könnten. Das Dorf war aber leider nur für seine schicken Obergeschosse bekannt und nicht für seine klugen Köpfe. Deswegen entschlossen die Dorfbewohner, die alte Frau, die sich erst vor kurzem dort niedergelassen hat, mit einer Problemlösung zu beauftragen.
"Kannst du dafür sorgen, dass der Fluss nicht mehr übertritt?", fragte der Vertreter der Dorfversammlung, als er die Alte beim Briefkastenleeren überrascht.
"Äh, was?", antwortete diese völlig überrumpelt.
"Der Fluss. Wir wollen keine Überschwemmungen mehr. Du bist doch die Klügste im Dorf. Also die Einzige, die es schaffen kann."
"Ich könnte es vielleicht versuchen", sagte die Alte zögerlich.
"Na also, du wirst unser Problem lösen. Ich gehe schon mal den anderen Bescheid sagen." Und er ließ die Alte in ihrem Vorgarten stehen.
Das Problem war nur, die Alte ist überhaupt keine Wasserexpertin. Sie ist zwar sehr klug und hat auch studiert, aber nichts, bei dem Wasser auch nur im entferntesten vorkommt. Ihr Berufsleben hat sie in der Verwaltung eines mittelständischen Unternehmens verbracht und ihr einziges Interesse ist das Gärtnern. In ihrem Schrebergarten war der Gartenschlauch der einzige Kontakt zu Wasser den sie hatte. Sogar im Dorf hatte sie nichts mit dem Fluss zu tun, weil ihr Häuschen ein wenig höher als die anderen stand. Sie setzte sich also an den Küchentisch und dachte nach, bis sie ihr kam, die Idee.
Wenn man Erde durch eine Bepflanzung festigen kann, dann funktioniert das bei Wasser doch sicherlich auch. Also lief sie mit einem Sack Rasensamen los, ging in die Mitte des Flusses und säte sie dort sorgfältig aus. Dies wiederholte sie mehrere Tage, bis die übertretenden Stellen des Flusses voll waren. Schon nach kurzer Zeit spross dort das grüne Gras, denn auf dem Wasser wächst es besonders gut. Und es funktionierte. Durch den Rasen war der Fluss so beruhigt, dass er nur noch in seinem Bett blieb. Der Auftrag war erfüllt, aber die Alte hatte Blut geleckt. Das Wasser zu bepflanzen machte ihr viel mehr Spaß, als nur den Garten zu pflegen. Grassamen hatte sie keine mehr, also nahm sie die Baumsetzlinge, die eigentlich für ihren Garten bestimmt waren. Den Bäumen auf dem See beim Wachsen zuzusehen brachte ihr noch mehr Freude, weswegen sie komplett auf Bäume umstieg. Und nach wenigen Monaten war der See zugewachsen. Daraufhin nahmen die Dorfbewohner ihre anfängliche Beigeisterung zurück:
"Mit dem See hatten wir doch überhaupt keine Probleme", sagte der Vertreter der Dorfversammlung.
"Wenn ich in den Wald will, dann gehe ich in den Wald. Und wenn ich an den See will ... Dann ist das verdammt nochmal nicht mehr möglich", sagte der cholerische Ehemann.
"Stimmt", sagte seine Frau.
"Rein physikalisch betrachtet kann man gar nicht übers Wasser laufen", sagte der Dorfpfarrer.
"Eigentlich war es vorher auch ganz nett. Da wurde unten zumindest mal feucht durchgewischt", sagte der Grisgram, der früher alles besser fand.
"Mach du doch ab sofort den Haushalt, du Esel", sagte seine Frau.
"Ich habe schon immer gesagt, dass wir keine gebildeten Leute ins Dorf lassen sollten. Die gehören hier nicht hin und machen nur Ärger", sagte der Dorfbewohner.
"Na gut", sagte die Alte. "Dann gehe ich eben woanders hin. Auf dem See ist eh kein Platz mehr."
Jetzt lebt die Alte auf einer kleinen Hütte auf der Insel und kümmert sich um das Wäldchen im Meer. Es ist über die Zeit immer größer geworden. Zuerst standen dort nur ein paar Bäume. Jetzt sind es so viele, dass sie einen endlosen Wald erschaffen können. Durch die Strömung verschieben sich die Bäume immer wieder und man kann jeden Tag durch einen anderen Wald laufen. Wie die Wellen selbst, dringt auch ihr Rauschen selten in den Wald. Vereinzelt hört man Singvögel, aber es haben sich noch nicht viele dort angesiedelt. Meeresvögel haben kein Interesse am Wald. Wie auch den Inselbewohner ist er ihnen fremd, und sie rümpfen nur den Schnabel, wenn sie vorbeifliegen. Das Meer leuchtet und die Bäume glitzern. Die Tiere fühlen sich im Wäldchen wohl. Da kaum Menschen dort sind, laufen sie in Scharen vom Festland rüber, bleiben aber nicht lange, weil es noch nicht viel Futter gibt. Kleinere Pflanzen und Büsche haben sich noch nicht kultiviert. Der Gedanke, den festen Boden unter den Wurzeln zu verlieren macht ihnen Angst und nur zögerlich siedeln sie über. Sobald sie einmal dort sind, merken sie aber wie schön es auf dem Wasser ist.