Die alte Dame
In der kleinen Stadt sprach sich herum, dass der Geburtstag der alten Dame nahe bevorstand. Menschlich schätzte man sie wenig, sie wirkte kühl und berechnend. Aber gerade sie war es, ohne deren Unterstützung das Kinderheim hätte geschlossen werden müssen. Das wussten die Kinder und überlegten sich, wie sie sich bei ihr bedanken könnten. "Und ausgerechnet diese alte Giftmurchel wollt ihr beschenken?", fragte Rike genervt in die Runde. "Warum denn nicht? Ohne sie wären wir jetzt nicht hier, sondern sonstwo", erwiderte Rita. Rikes Misstrauen gegen die alte Dame rührte aus Erfahrungen her, die sie im Restaurant Neptun gemacht hatte, wo sie als Putzkraft arbeitete. Die alte Dame gehörte zu den Stammkundinnen, obwohl sie als Person blass blieb, niemals mehr sagte als "Guten Tag" und "Auf Wiedersehen". Als Rike der alten Dame neben anderen Gästen die Hand gab, ärgerte sie sich, weil ihre schwarzhaarig-blauäugige Niedlichkeit bei der Frau nicht die gewohnte (und darum fest eingeplante) Wirkung zu zeitigen schien. Nur eine trockene Hand. Kein Lächeln, viele kleine ausweichende Blicke, die die Angst verrieten, einem Kind in die Augen zu schauen.
Rita schlug vor, einen Schokokuchen zu backen. Peter würde sich um das Rezept kümmern, Lene die Zutaten heranschaffen und Rita als selbsternannter Küchenmensch die Entstehung des Werks dirigieren. Alle hatten Spaß daran, von dem schmatzig-leckeren Teig zu naschen, so viel, dass gerade noch genug für einen kleinen Schokokuchen übrigblieb. Nur Rike hatte sich zurückgezogen, wurde aber unweigerlich aus ihrem Winkel gelockt durch das fröhliche Lachen ihrer Freunde. Als sie die Küche betrat, war der Kuchen bereits fertig. "Der ist aber schnuckelig geworden. Wolltet ihr nicht einen richtigen Kuchen backen?" Die bräunlich eingesprödeten Mundwinkel der Grinsgesichter gaben ihr einen Eindruck davon, was in ihrer Abwesenheit geschehen war. Alle hatten Spaß gehabt, obwohl Rike nicht dabei war. Der Gedanke, für die anderen entbehrlich zu sein, überfiel sie und ließ ihr einige Tränchen über die Wange rieseln. "Was hast du? Ist was Schlimmes vorgefallen?", fragte Rita besorgt. "Nein, nein", sagte Rike und lechzte gleichzeitig danach, von ihrer besten Freundin in den Arm genommen zu werden.
Am Nachmittag des nächsten Tages besuchten die Kinder die alte Dame. Sie hatte mit keinem Besuch gerechnet; in ihrem Gesicht leuchtete eine bis dahin noch nie gesehene Freude und Dankbarkeit darüber, an diesem Tag nicht vergessen worden zu sein. Sie begann zu weinen. Rike, die dachte, sich längst wieder beruhigt und innerlich eingependelt zu haben, erschrak über sich. Denn waren es nicht gerade Menschen wie sie, die, getrieben von einem erbarmungslosen Geliebtwerdenwollen, all jene zu Unmenschen abstempelten, die distanzierter empfanden? "Aber warum weinst du denn?", fragte die weinende alte Dame das Mädchen, dem dicke Tränen über die Backe kullerten, und bot ihr an, sich auf ihren Schoß zu setzen. Sie strich ihr durch's Haar und drückte Rike, als wäre sie die Tochter, die sie nie gehabt hatte.