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Die allesvernichtende Katastrophe...
...war für die Nacht von Donnerstag auf Freitag angekündigt. Der Nachrichtensprecher war sichtlich bemüht, ein besorgtes Gesicht zu machen. Es war nicht zu fassen. Herr Paschulte blickte zu Rudi und Rudi blickte zu Herrn Paschulte. Rudi war ein Rauhhaardackel, außerdem war er klein, aber nicht so klein, dass er hier keine Erwähnung verdient hätte. Rudi schwieg. Herr Paschulte sprang auf, rannte zum Fernseher und stellte den Ton lauter. In Wirklichkeit fummelte er nur nervös an dem Gerät herum. Er schwitzte und blickte immer wieder auf die Uhr. Als er, durch einen glücklichen Zufall, endlich den richtigen Knopf gefunden hatte, war die Meldung schon vorüber.
Der Nachrichtensprecher war bereits gegen die Wetterkarte ausgetauscht worden. Am Nachmittag sollte es örtlich Regen geben, aber bis zum Abend hätten sich die Wolken verzogen, das Wochenende werde schön. Das Wochenende, Herr Paschulte tippte sich mit dem Finger an die Stirn. Er warf einen Blick auf den Kalender. Heute war Mittwoch. Das hieß, es blieben noch zwei Tage.
Unter den gegebenen Umständen erschien es ihm unsinnig, zur Arbeit zu gehen. Zumindest war es eine erstklassige Begründung. Allerdings konnte es kein Fehler sein, kurz anzurufen und Bescheid zu sagen, der Chef würde sicherlich Verständnis zeigen. Der Chef zeigte kein Verständnis. Er hatte nichts von einer Katastrophe gehört. Trotzdem war er überraschend schnell damit einverstanden, ihm einige freie Tage zu gewähren. Er gab ihm den wohlgemeinten Rat, einfach mal die Beine hochzulegen und die Seele baumeln zu lassen, dann wäre er bald wieder frei von diesen...Sorgen.
Herr Paschulte dachte nicht daran, die Beine hochzulegen, aber er wollte dem Chef nicht widersprechen. Er beschloss, der Sache genauer nachzugehn und schaltete den Fernseher wieder ein. Auf der Suche nach weiteren Informationen zappte er durch sämtliche Kanäle. Zeichentrickserien, die Weltmeisterschaft im Hammerwerfen, live, eine Dokumentation über australische Kaninchen und eine Talk-Show, es ist toll, dick zu sein. Nichts, was ihn weiter brachte. Bei dem Sender von vorhin anzurufen war nicht möglich, er wusste ja nicht einmal mehr, um welchen es sich handelte. Seine Bekannten wollte er vorerst aus der ganzen Sache raushalten, bis absolut kein Zweifel mehr bestünde. Es ging ja schließlich nicht um irgendwelchen Krimskrams, es ging um eine ernste Sache. Es ging um das Ende der Welt.
Um irgendetwas zu tun, holte er seinen Mantel und verließ die Wohnung. Im Treppenhaus traf er seinen Nachbarn, Herrn Schuster. „Guten Morgen, Herr Schuster. Wissen sie es schon?“ „Nein, was denn?“ „Ach, nichts weiter.“ Paschulte wandte sich ab und strebte mit Riesenschritten dem Ausgang entgegen. Auf der Straße schien sich niemand der drohenden Gefahr bewusst zu sein. Die Sonne strahlte auf die Bäume, in den Bäumen saßen kleine, bunte Vögel, und die Vögel trällerten ihre Vogellieder. Alles in allem deutete nichts auf das Ende hin.
Er fragte einen Eisverkäufer, ob er etwas von der Sache wisse. „Erdbeer, Vanille oder Schoko?“, sagte der Eisverkäufer. Das ganze war sehr sonderbar. Auch die anderen Passanten, die er ansprach, konnten ihm nicht wirklich weiterhelfen. Die Antworten waren schlicht enttäuschend. „Tut mir leid, ich kaufe nichts.“ „Soll das jetzt ne Anmache sein?“ „Hauen sie ab, Mann und richten sie ihren kleinen Sekten-Freunden gleich aus, dass sie hier nicht erwünscht sind!“ Niemand wollte von der Katastrophe gehört haben. Das machte die Sache nicht gerade einfacher.
In Paschulte wuchsen die Zweifel. Nicht diejenigen, die seine geistige Gesundheit betrafen. Nein, er bekam ernste Zweifel daran, dass bereits Vorkehrungen gegen die Katastrophe getroffen worden waren. Wo war die Polizei, wo die Warnsirene, wo die Katastrophen-Experten? War die Regierung überhaupt informiert? Paschulte fühlte sich verpflichtet, es zu überprüfen, zu diesem Zweck würde er mit dem Präsidenten telefonieren. Es gab nur ein Problem. Er hatte kein Kleingeld bei sich. Es war zum Verzweifeln.
Vielleicht musste man die Sache von weiter unten angehn. Aber die von der Polizei wollten auch nichts wissen, nichts hören und schon gar nichts unternehmen. Das gäbe es zwar öfters, aber bisher hätte es sich jedesmal als Fehlalarm herausgestellt, was ja ganz offensichtlich sei. So ein Blödsinn. Paschulte glaubte nicht an einen Fehlalarm. Wenn man ihm nicht helfen wollte, durfte man sich nachher nicht beschweren. Nun, ganz so einfach war es nicht, das wusste er selber. Er begann zu ahnen, was nun folgerichtig kommen müsste. Die Entscheidung ließ sich nicht länger aufschieben. Entweder verließ er sich ganz und gar auf die Geistesgegenwart der anderen, was ihm zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingt ratsam erschien, oder er nahm das Heft eben selber in die Hand und rettete die Welt, nicht mit dem Heft, natürlich nicht.
An der nächsten Straßenecke stand er still und sein Entschluss fest. Zumindest versuchen musste er es, das war er sich selbst und seinem Rudi und der Menschheit schuldig. Ihm kam nun die Rolle des Helden zu. Wichtigste Eigenschaft des Helden ist die realistische Einschätzung seiner Situation. Nun, im Grunde konnte man seine Situation durchaus bescheiden nennen. Er hatte keine Ahnung, wie die Welt zu retten war. Auch wollte er niemanden um Rat fragen, ein Held beriet sich schließlich nicht, er folgte einfach seinem Heldeninstinkt. Jedenfalls musste man sich Gehör verschaffen. Bald sah der Held ein, dass seine Person allein nicht genügend Aufsehen erregte und so schaute er sich nach einem Gehilfen um.
Die Suche gestaltete sich einfacher als erwartet. Schnell hatte er eine Gruppe Obdachloser von der Wichtigkeit seiner Mission überzeugt. Zugegebenermaßen gab es da einige Missverständnisse, beispielsweise hatte er nicht von einer Spendensammelaktion gesprochen und das Wort Besäufnis hatte er auch nicht in den Mund genommen, aber das war jetzt auch nicht weiter wichtig. Die Hauptsache war, dass er endlich ein paar Gehilfen aufgetrieben hatte und die von ihm angeführte Truppe schon deutlich mehr Blicke auf sich zog. Bald schloss sich ihnen ein sehr altes Ehepaar an, worunter das Marschtempo doch erheblich litt. Dann stieß noch ein kleines pummeliges Mädchen dazu, das immer wieder stehen blieb und mit weit offenem Mund in den Himmel starrte. Der Held konnte nicht ganz nachvollziehn, wieso es trotzdem immer wieder zu der Gruppe aufschloss, aber in seinen Augen spielte es eigentlich auch keine Rolle.
Das Lächeln auf dem Gesicht des Helden wurde zunehmend breiter. Bedauerlicherweise kam es bald zu den ersten kleineren Konflikten, als sich ein paar kampfeslustige Rechtsradikale unter die Anhänger mischten und es zu einem sehr kurzen Scharmützel mit mehreren weniger kampfeslustigen Ordensschwestern kam. Bereits nach einer Stunde waren die seltsamsten Gerüchte über die Gründe des Aufmarsches im Umlauf. Von einer christlichen Demonstration bis zum Werbegag einer großen Kaufhauskette war die Rede. Nach unbestimmter Zeit meinte der Held, dass seine Sache nun genügend Beachtung finden würde. Was hieß hier überhaupt seine Sache, es ging um das Schicksal aller, um das an dieser Stelle noch einmal klarzustellen. Er brauchte eine Art Podium oder Rednerpult, daran führte kein Weg vorbei. Offenbar führte auch kein Weg dorthin, alles was er fand, war eine Straßenlaterne, er versuchte sich daran hoch zu ziehen, rutschte jedoch jedesmal ab und plumpste unschön auf den Gehsteig.
Vielleicht war das mit der Rede vorerst auch gar nicht so wichtig. Wichtig war, dass er die Kontrolle behielt und das Ziel nicht aus den Augen verlor. Ein geeignetes Ziel für sein Vorhaben war das Rathaus als Zentrum der Macht, von dort war es dann nicht mehr weit zum Präsidenten. Das ganze war ein Kinderspiel. Leider kam ihm auf dem Weg dorthin ein Teil seiner Jünger abhanden. Nachdem der Zug an einer durchaus stilvollen Kneipe vorbeimarschiert war, fehlten die Rechtsradikalen und die Obdachlosen. Kurz darauf standen die Obdachlosen wieder auf der Straße. Auch unter den anderen gab es Verluste. Einige nutzten die Zeit zum Einkaufen, ein paar der älteren Jünger hatten den Anschluss verloren oder sich völlig verlaufen und der größte Teil der Jugendlichen verzog sich, als die ersten Regentropfen fielen.
Das alles konnte den Held nicht erschüttern, sein Blick war weiter heldenhaft nach vorn gerichtet, sodass er die allmähliche Verstreuung seines Gefolges überhaupt nicht bemerkte. Als er endlich vor dem Rathaus stand und sich umdrehte, war da nur noch das kleine pummelige Mädchen. Es hatte sich abgewandt und betrachtete seine Füße, die erstaunlich tief in einer Pfütze steckten. Das war nicht gerade, was er sich insgeheim erhofft hatte, aber die zweite wichtige Eigenschaft des Heldes ist sein teilweise schon an Stumpfsinn grenzender Optimismus. Der Held konnte und wollte einfach nicht aufgeben, nicht nach den ganzen Strapazen und auch grundsätzlich nicht. Er würde weiterkämpfen, für sich, für seinen Rudi und zur Not auch für die Menschheit. Es gab schließlich eine Welt zu retten.
Er ging zu dem Kind und fragte, warum es denn noch hier sei, habe es denn kein Zuhause. Das Kind hob den Kopf und sah ihn einen Moment an. Dann drehte es sich um und rannte weg. Der Held zuckte mit den Schultern. Er hätte einiges dafür gegeben, Rudi in diesem Augenblick neben sich zu wissen, aber Rudi mochte keinen Regen und wäre vermutlich auch nicht weniger ratlos. Trotz allem war die Welt noch nicht verloren, es bestand noch eine letzte Chance. Wie ein Held es eben tut, riss der Held die beiden Flügel der Rathaustür weit auf und donnerte sie gleich darauf wieder hinter sich ins Schloss. Somit kam ihm sofort die gewüschte Aufmerksamkeit zu, ohne großartige Einstiegsreden. Mit einem Satz war er am Tisch eines jungen Angestellten, der gerade damit beschäftigt war, irgendwelche unwichtigen Papiere zu sortieren.
Der Held fegte den ganzen unnützen Kram vom Tisch und begann mit zitternder Stimme zu sprechen: „Hören sie mir genau zu! Wir alle sind in äußerster Gefahr. Etwas muss unternommen werden. Sie müssen die Katastrophe verhindern!“ Der Beamte zupfte an seiner Krawatte herum. „Ich? Wieso denn gerade ich? Wissen sie, ich habe da im Grunde gar keine Meinung. Es mag ja alles stimmen, was sie sagen, aber bitte beruhigen sie sich doch, es wird ja alles gut. Ganz davon abgesehn bin ich überhaupt nicht zuständig für solche Angelegenheiten. Da wenden sie sich besser erst einmal an die Polizei und erstatten Anzeige, meinetwegen gegen Unbekannt.“ Er machte eine Pause. „Auf was warten sie denn noch? Haben sie eigentlich keinen Schirm? Die Wettervorhersage verpasst, was?“ Der Held wollte gerade etwas unglaublich Schlagfertiges entgegnen, als es begann. Eineinhalb Tage vor dem angekündigten Zeitpunkt. Wieder einmal traf die Vorhersage nicht zu, es war schlicht bedauerlich.