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Die Akazie an der Straße
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„Wie viel geben Sie mir dafür?“, fragte der alte Mann. Er klopfte mit der flachen Hand auf den rauen Stamm des Baumes.
„Hmm“, sagte der Forstwirt, „Robinie ist überall zu haben ... mehr als sechshundert pro Kubikmeter kann ich Ihnen nicht zahlen, tut mir leid.“
Der alte Mann löste sich vom Stamm und blickte nach oben. Der Baum war gerade gewachsen. Dicke Äste trieben in alle Himmelsrichtungen. Die Krone war voller Blätter, sie ragte weit über sein Grundstück hinaus und überdeckte die halbe Straße.
„Seit ich klein war, haben wir ihn ‚die Akazie an der Straße‘ genannt. Ich glaube sogar, meine Eltern haben unter seiner Krone Verstecken gespielt. Ach, ich kann nicht mal ein Insekt töten, wie kann ich da über sein Schicksal entscheiden. Das bringe ich nicht übers Herz.“
Der Forstwirt fingerte nervös mit dem Kugelschreiber rum und kratzte sich damit verlegen am Ohr. Er kaufte Städtern ungerne Bäume ab, viel lieber arbeitete er alleine in seinem Waldstück. Städter verwirrten ihn und auch der Lärm der Stadt war ihm ein Groll. Aber der alte Mann hier war sanftmütig, entwaffnend blickte er mit seinen trüben Augen auf den Forstwirt, und da beschloss dieser Taktgefühl an den Tag zu legen.
„Nun ja, wir beliefern ein Unternehmen, welches Spielgeräte herstellt, Spielgeräte für öffentliche Spielplätze. Sie stellen Baumhäuser und Klettergerüste her, so etwas in der Art. So gesehen entledigen Sie sich des Baumes nicht, Sie geben ihm nur einen sinnvollen Zweck ... einen Nutzen sozusagen.“ Nach einer Pause fügte er noch hinzu: „Ganz zu schweigen vom finanziellen Gewinn, den Sie dabei erwirtschaften. Ich schätze, es werden etwa anderthalbtausend Euro sein.“
Der alte Mann ließ müde seine Schultern hängen. Er seufzte tief. Es klang sinvoll, was der Forstwirt da sagte und dagegen konnte er wahrlich nichts einwenden.
„Also gut“, sagte er, „kommen Sie ins Haus, es ist zu heiß hier draußen. Kommen Sie mit und ich unterschreibe den Kaufvertrag. Bitte hier entlang.“
Der Forstwirt setzte ungeschickt den Kugelschreiber ein, hielt den Stift mit dem ungeübten Griff eines kleinen Kindes fest. Er strich grob den Namen des alten Mannes aus einer Liste, dann folgte er ihm ins Haus. Der alte Mann war der letzte Anwohner in der Kirchengasse, der ihm Holz zu verkaufen hatte. Damit war sein Auftrag erfüllt und er konnte der Stadt endlich entfliehen.
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Es war Mittag, die Hitze war feucht und klebrig. Kein Windhauch regte sich weit und breit. Fenster und Türen des Hauses standen sperrangelweit offen. Der alte Mann atmete schwer, er schwitzte am ganzen Körper und das tat seinem Blutdruck überhaupt nicht gut. Dabei hatte er immer wieder nach draußen geschielt, hatte die Akazie in Augenschein genommen und sie aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet: der Baum wollte aber nichts davon wissen, dass sein Schicksal bereits besiegelt war. Der Baum ragte riesig am Ende des Gartens auf und nur sein Wipfel schwankte bedächtig hin und her. Weit oben in der Krone nisteten einige Krähen, es war heiß und keine davon verspürte das Bedürfnis nach Bewegung. Lediglich ein kurzes Krächzen ließen sie manchmal ertönen, etwa wenn ein Greifvogel in der Nähe war. Ansonsten waren diese Krähen laute, streitsüchtige Taugenichtse und nicht nur einmal hatten sich die Nachbarn über sie beschwert. Der alte Mann wollte aber nichts davon wissen, für ihn waren Krähen außergewöhnliche Vögel. Wer sie einmal kennenlernte, der kam nicht umhin, ihre Intelligenz und ihren Gemeinschaftssinn zu respektieren.
Erneut sah der alte Mann nach dem Baum und ihm war, als hätte der Baum auch ihn angeschaut. Da senkte er beschämt den Blick zu Boden. Schwerfällig bewegte er sich im Haus herum. Immer wieder blickte er nach draußen, so als erwartete er einen wichtigen Gast. Tatsächlich aber wurde sein Blick immer wieder von der Akazie eingefangen und die Akazie schien über ihn Gericht zu halten, stumm klagte sie ihn an und bezichtigte ihn des Verrats. Dann wollte er sich nicht mehr im Haus verstecken und er trat hinaus.
Er schleppte mühsam einen abgesessenen Klappstuhl durch den Garten und setzte sich langsam unter den Baum, den Rücken zur Straße gewandt und ein Glas kalten Tees in der Hand. Er saß dort mit geschlossene Augen und hörte das leise Rascheln der Blätter, versuchte mit dem Baum zu reden, doch sein Körper ließ ihn nicht dazu kommen.
Sein Atem war flach und schnell und sein Herz lief unrund wie ein verbogenes Rad auf eine schadhafte Achse. Sein Arzt hatte ihn bereits vorgewarnt, hatte ihm geduldig erklärt, dass sein Gesundheitszustand mittlerweile kritisch war, dass das Herz ohne die notwendige Operation nicht mehr lange arbeiten würde. ‚Wer will denn schon ewig leben‘ hatte er gebrummt und er hatte er den Arzt nicht mehr aufgesucht. Seitdem hatte er sich nur noch unwohl gefühlt, nicht etwa weil sein Körper sich auflöste (denn das war der natürliche Lauf der Dinge und zu sterben war nur eine Notwendigkeit, die das Geborensein mit sich brachte), unwohl fühlte er sich, weil die Diagnose ihm nur noch mehr den Stempel der Unbrauchbarkeit aufdrückte und er mit seiner winzigen Rente seiner Tochter schon genug zur Last fiel. Sie war so klein die Rente, dass das Leben des Baumes da tatsächlich einen großen Unterschied gemacht hätte. Der alte Mann hoffte, dass der Baum das verstehen würde.
Die Wahrheit aber war, dass er ein ganzes Leben lang unbrauchbar gewesen war, unbrauchbar im Beruf und unbrauchbar daheim. Als Bäcker hatte er in einem ausbeuterischen Familienbetrieb für wenig Geld und immer für andere gearbeitet und Zuhause hatte seine Frau den Haushalt wie ein ehrgeiziger General geführt. Man gewinnt Schlachten gegen den Schmutz, aber nie den Krieg, doch davon wollte die Frau nie etwas wissen. Tagaus-tagein lamentierte sie, beschwerte sich über seine Untüchtigkeit und nicht nur einmal verlor sie dabei die Geduld.
Einmal hatte sie ihn eine geschlagene Stunde angeschrien und da gab er nach, voller Hoffnung gab er das Trinken auf und fürwahr, er erwartete wirklich dadurch tüchtiger und lebhafter zu werden. Aber genau das Gegenteil trat ein, er wurde von einer dunklen Melancholie befallen und da gefiel ihm die Welt überhaupt nicht mehr, gar viele Fehler entdeckte er darin. Es waren menschliche Fehler und dagegen konnte er nichts unternehmen, nichts außer sich darüber zu beklagen, und da wurde er streitsüchtig und unumgänglich. Nach langen Monaten unterdrückter Wut kaufte ihm seine Frau eine Flasche Korn, diese eine Flasche setzte sie ihm wortlos auf dem Tisch und ihm wurde es augenblicklich warm ums Herz. Eine tüchtige, gute Frau hatte er und nie hatte er daran gezweifelt.
Er war aber nicht maßlos in seiner Trunksucht, er mochte es nur still am Zaun unter der Akazie zu sitzen und die Kirchengasse zu beobachten. Dabei trank er manchmal aus einer Kaffeetasse winzige Schlucke und der Alkohol erwärmte seinen Magen. Sommer wie Winter grüßten ihn Passanten und Nachbarn mieden meistens seine Augen, er blickte aber immer freundlich vor sich hin, blau und wässrig war sein Blick und nie hätte er etwas Schlechtes über die Welt gesagt, weder über das Wetter, noch über die Politik. Doch nicht nur einmal wollte er alles hinter sich lassen, das Tor öffnen und in der riesigen Welt da draußen verschwinden. Untüchtig jedoch wie er war, hatte er immer einen Grund anzuführen gehabt, der ihn daran hinderte, von dort wegzugehen. Siebzig Jahre waren schon vergangen, ohne dass er je mit Bestimmtheit sagen konnte, was dieses „etwas“ wirklich wäre.
Als seine Frau starb, waren ihre kleinen Ersparnisse restlos aufgebraucht, und das Familienhaus mit zwei Hypotheken belastet. Seine Tochter hatte die Lücke zu füllen versucht, die seine Frau hinterlassen hatte. Sie zog wieder ein und dennoch war es mit ihr zu leben nicht das Gleiche, wie mit ihrer Mutter. Die Tochter war arbeitsam und nie zuhause, immerzu bemühte sie sich etwas zu erreichen. Sie wechselte ständig den Beruf und fand nie Zeit eine Familie zu gründen. Trotzdem hatte sie dauernd Geldsorgen und mittlerweile zwei Jobs. Der alte Mann dachte oft darüber nach, dass es besser für sie wäre einfach still zu halten, die Aufregung abzuschütteln, und mit ihm gemeinsam unter der Akazie zu sitzen. ‚Um Gottes Willen, soll ich etwa so werden wie du?‘ hatte sie ihm an den Kopf geworfen und von da an hatte er sich nicht mehr in ihr Leben eingemischt. Aber unbrauchbar hatte er sich dabei gefühlt, unbrauchbar und geschwätzig wie die Krähen im Blätterdach der Akazie, die ununterbrochen Streit suchten und von jedem außer ihresgleichen mit Missmut wahrgenommen wurden.
Der alte Mann öffnete die Augen und blickte auf das Haus. Es war ein ungewohnter Anblick von dort, wo er jetzt saß, stets hatte er das Haus hinter sich gehabt. Interessiert hatte ihn immer nur die Straße, nie das Haus. Wie zum ersten Mal sah er das winzige Häuschen eingemummt in hochwachsenden Efeu, sah die Obstbäume, die seine Frau gepflegt hatte. Verwildert waren die Obstbäume nun und das Dach bedurfte gewiss auch einer Reparatur, aber das berührte ihn nicht, diese Arbeit überstieg bei Weitem seine Fähigkeiten. Seufzend erinnerte er sich, wie sich seine Frau mit dem Garten abgemüht hatte, wie sie die Bäume eigenhändig gepflanzt und großgezogen hatte. Es gab noch mehr Obstbäume hinter dem Haus, Apfel-, Pflaumen- und Kirschbäumen. Doch keiner davon hatte es geschafft so lange zu leben wie die Akazie an der Straße, die Akazie, die jeden anderen Baum im Garten überragte und mächtig und stolz ihre Äste ausstreckte. Jedes Jahr tat seine Frau den Obstbäumen Gewalt an und beschnitt sie, schränkte ihren Wachstum und ihre natürliche Freiheit ein. Wenn die Obstbäume Früchte trugen, dann brachen manchmal ganze Äste unter der Last ihrer Arbeit. Nicht ein einziger unter den Obstbäumen starb eines natürlichen Todes, alle paar Jahre wurden die Müden und Verbrauchten aussortiert und durch frische, junge Bäume ersetzt. Die Akazie aber, die stand noch da und das obwohl sie weder Früchte trug, noch irgendeinen anderen Nutzen vorzuweisen hatte. Verdreht war diese Welt und wehe dem, der den eigentlichen Sinn dahinter erkannte.
***
Eine Woche darauf, in aller Herrgottsfrühe, hielt ein LKW mitsamt Kran vor dem Haus. Mehrere mit Kettensägen und Seilen bewaffneten Männer stiegen aus, es waren kräftige Burschen in dunkelgrüner Arbeitskleidung. Aus ihrer Mitte löste sich eine schwere Frau, diese drückte die Klingel zum Haus und zeigte mit dem Finger auf die Akazie.
„Diese hier“, sagte sie und deutete den Männern an, rasch mit der Arbeit zu beginnen. Sie näherte sich der Akazie und nahm sie unter die Lupe. Etwas gefiel ihr dabei nicht, denn sie griff nach einer schweren Eisenstange und schlug in Brusthöhe auf den Stamm des Baumes ein, schlug zweimal hintereinander und die Akazie tönte wie ein Fass Wein. Der Baum war hohl und zu nichts zu gebrauchen und da fluchte die Frau: sie waren übers Ohr gehauen worden.
Sie sprachen mit der Tochter des Hauses, eine dreißigjährige Blonde mit spärliches Haar und verwaschene, blaue Augen. Der alte Mann war nicht mehr da und noch war sie mit den Formalitäten seines Ablebens beschäftigt. Von einem Kaufvertrag wusste sie nichts, sehr bedauerlich sei das.
„Er ist völlig unbrauchbar, nicht mal zu Pellets taugt sein Holz. Den schlagen wir nicht, niemals“, sagte die Chefin der Truppe und fügte hinzu, dass sie nie dafür zahlen würde. Es sei ein Fehler des Forstwirts gewesen und daran waren sie nicht gebunden. Dass der Forstwirt ein Trinker war, das musste sie jetzt nicht sagen. Sie nahm sich aber vor, den Vorfall weiter zu melden.
Das sah auch die junge Frau ein und ihr war es ganz gleichgültig, ob der Baum blieb oder nicht. Sie hatte zurzeit andere, dringendere Sorgen und mit eingezogene Schultern kehrte sie rasch ins Haus zurück.
Nachdem der Wagen abgefahren war, trat Stille in der Kirchengasse ein. Ein leichter Wind erhob sich von der Hauptstraße, Staub und driftende Insekten tauchten in der Helligkeit der Straße kurz auf und verloren sich sogleich in den Gärten der Einfamilienhäuser. Es war ein sonniger und friedlicher Morgen, die Luft roch warm nach Sommer und die Akazie an der Straße raschelte sanft ihre Blätter. Unvermittelt hoben die Krähen im Blätterdach ein Geschrei an, dabei war ihr Gekrächze rau und reibend wie ein schadhaftes Getriebe.