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Die aggressive Mitbewohnerin
Die Höflichkeit gebietet, zuerst von IHR zu sprechen. Trotzdem möchte ich, um das Verständnis zu erleichtern, mit mir selber anfangen.
Also: ich heiße Adelbert, bin seit über vierzig Jahren Buchhalter in einem kleinen Betrieb und stehe folglich jetzt kurz vor meiner Pensionierung. Während meiner ganzen Berufsjahre war ich zuverlässig, loyal, hatte jeden Monat die Buchhaltung fein säuberlich geführt und den Monatsabschluss stets pünktlich am dritten Werktag des Folgemonats meinem Chef vorgelegt. Auf mich war die ganze Jahre über Verlass. Es gab kein „Wenn“ und kein „Aber“. Trotzdem schaffte ich es nie, in eine höhere Einkommensklasse zu kommen. Fast schäme ich mich, zuzugeben, wie wenig ich verdiene. Sagen wir einfach: „sehr wenig“; das ist für mich weniger peinlich, als eine exakte Summe nennen zu müssen; ich hoffe, Sie verstehen das – immerhin bin ich Buchhalter. Es ist paradox, dass Leute, die in einer niedrigen Gehaltsstufe sind, ihre Wohnungen dort suchen müssen, wo man ganz viele Stufen hinaufgehen muss, nämlich unter dem Dach. Nur Dachkammern sind für Leute wie mich noch erschwinglich. Und in so einer Mansarde lebe ich schon seit ich damals die Stelle als Buchhalter antrat. Heiraten hätte ich – wenn überhaupt – nur eine alte, reiche Witwe können. Alles andere wäre für mich finanziell nicht machbar gewesen.
Mein Tagesrhythmus ist seit vielen Jahren absolut unverändert. Ich fange im Büro um acht in der Früh an und arbeite dort bis sechzehn Uhr. Die Mittagspause verbringe ich in der Kantine eines nahegelegenen Großbetriebes. Auf dem Heimweg kaufe ich all das ein, was ich zum Leben benötige. Spätestens um siebzehn Uhr bin ich täglich zu Hause. Nur Samstag und Sonntag sind eine Ausnahme. Das kleine Fenster in meinem Mansardenzimmer muss tagsüber geschlossen bleiben, denn es ist nicht durch ein Vordach geschützt, und somit Wind und Regen voll ausgesetzt. Würde ich vergessen, es zu schließen, hätte ich bei einem Wolkenbruch sofort das ganze Wasser im Raum. Aber in den ganzen Jahren vergaß ich nie. Auch im privaten Bereich bin ich die Zuverlässigkeit in Person.
Als Frischluft- und Sauberkeitsfanatiker öffne ich immer als erstes das Fenster, wenn ich nach Hause komme. Beide kleinen Fensterflügel reiße ich bis zum Anschlag auf. Wenn es nicht gerade stark regnet lasse ich das Fenster dann exakt eine halbe Stunde offen stehen. Im Sommer wie im Winter. Aus Erfahrung weiß ich, dass diese Zeit benötigt wird, um den kleinen Raum von angesammelten Mief zu befreien.
Und genau das musste SIE beobachtet und registriert haben. Eines Tages – ich kann mich genau erinnern: es war der 26. August, ein Freitag – war sie plötzlich da. Zuerst sah ich sie gar nicht, ich hörte sie nur von Ferne. Es war ein Geräusch, auf das ich damals gar nicht bewusst achtete. Doch dann kam es näher. Diese hohe, nervöse Frequenz rief in mir sofort eine unangenehme, ja sogar eine schmerzhafte Erinnerung wach. Als ich etwa dreißig Jahre alt war, wurde ich von einer Mücke gestochen, und bekam davon eine sehr bösartige Vergiftung, verbunden mit akuter Atemnot. Der herbeigerufene Notarzt hatte alle Hände voll zu tun, um mich über die Runden zu bringen. „Nehmen Sie sich vor Mückenstichen in Acht, die können für Sie lebensgefährlich werden“, sagte er damals zu mir. Ab diesem Moment hatte ich gedanklich alle Urlaube am Wasser und in Sumpfgebieten endgültig gestrichen. Das machte mir im Grunde wenig aus, denn erstens bin ich Nichtschwimmer und zweitens genieße ich auch heute noch Ferien im Winter wesentlich mehr, als im heißen Sommer.
Also, an jenem denkwürdigen 26. August hörte ich sie zum ersten mal in meinem Mansardenzimmer. Sie musste durch das offene Fenster rein gekommen sein. Sie umschwirrte mich ein paar mal, wie um sich selber im Raum zurecht zu finden, dann setzte sie sich an die weiße Wand über dem Sofa. Da ich damals schon stark kurzsichtig war, hätte ich sie nur als einen schwarzen Punkt wahrnehmen können, hätte ich sie denn überhaupt weiter beachtet. Nein, es vergingen tatsächlich zwei volle Tage, ohne dass ich von ihr wirklich und aktiv Notiz genommen hätte.
Aber das änderte sich am 28. August schlagartig: Die Mücke wurde richtig zudringlich. Sie näherte sich mir nicht nur abwechslungsweise und blitzartig von allen Seiten, sondern sie verletzte auch hemmungslos die sonst übliche Distanz, die dem Schutz der persönlichen Sphäre eines Menschen dient. Wildes Rudern zuerst nur mit den Handflächen, später mit den Armen half nur wenig. Im Gegenteil, es schien die Angriffslust meiner Gegnerin geradezu herauszufordern. Und dazu formte sich immer wieder angstvoll der Satz meines Arztes in meinem Gehirn: „Nehmen Sie sich vor Mückenstichen in Acht....“.
„Aber von einer dummen Mücke werde ich mich doch nicht ins Bockshorn jagen lassen“, sagte ich mir und nahm den hingeworfenen Fehdehandschuh kampflustig auf. Natürlich war ich als erdgebundenes Wesen, noch dazu kurzsichtig und nicht besonders sportlich, klar im Nachteil. Dafür hatte ich Köpfchen – das hatte meine Gegnerin nicht zu bieten.
Das Fenster stand noch offen. Durch diese Öffnung musste die Mücke raus, das war klar. Damit das Tier nicht in mein Bier fallen konnte, das ich mir schon eingeschenkt hatte, deckte ich das Glas sorgfältig zu. Dann schob ich den Tisch etwas zur Seite, um mir etwas Bewegungsfreiheit zu schaffen. Ich behielt die Mücke immer im Auge, als ich nach meiner Strickjacke griff, die über dem Stuhl hing. Nachdem die nackten Handflächen und die Arme nicht ausreichten, das Insekt in Richtung Fenster zu bewegen, würde die großflächige Jacke sicher helfen. Es war also fast, wie mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Ich drehte die Jacke wie einen riesigen Ventilator, in der Hoffnung, genügend Luftbewegung zu erzeugen, um die Mücke aus dem Fenster zu komplimentieren.
„Venedig sehen und sterben“. Ich hatte Venedig gesehen. Es war meine einzige Auslandsreise, die ich mir je leisten konnte. Zwar bin ich danach nicht gestorben, statt dessen kaufte ich mir als Andenken eine schöne bunte Vase aus echtem Murano-Glas von einem Künstler in der Lagunenstadt. Und genau diese Vase fiel der rotierenden Strickjacke zum Opfer. Ob die Mücke über ihren kleinen Erfolg feixte?
Okay, die Mücke konnte sich keine Strategie ausdenken – trotzdem gelang ihr die Flucht hinter den Kleiderschrank. Wohl eher ein Zufallstreffer. Und dort blieb sie versteckt und in Sicherheit vor meinen wütenden Attacken. Leider nicht für immer. Ich hatte mir gerade ein zweites Bierchen eingeschenkt und genoss den ersten Schluck mit der schönen Schaumkrone, als das verdammte Tier wieder erschien. Das aggressive Geräusch war nicht zu überhören. Als es ganz nahe war, versuchte ich die Mücke mit einer ruckartigen Handbewegung zu erschlagen. Das Ergebnis ließ sich sehen: ein gekipptes Bierglas und das ganze schöne, kühle Bier auf dem Tisch. Und von dort tropfte es mit konstanter Bosheit auf den Teppich. Es stank danach noch tagelang nach abgestandenem Bier in meinem kleinen Zimmer. Der Geruch schien sich narkotisierend auf meine Mitbewohnerin ausgewirkt zu haben. Ich hatte einige Tage Ruhe vor ihr und wiegte mich schon in Sicherheit. Ich wertete unsere Situation als 1:1, was eindeutig zu voreilig war. Denn bereits am 1. September – ich saß gerade beim Frühstück – tauchte die Mücke wieder auf. Und dieser Angriff war besonders perfid, denn ich brauche regelmäßig mindestens eine Stunde nach dem Frühstückskaffee bis ich so richtig wach und voll da bin. Haben Sie schon mal versucht, sich im Halbschlaf einer Mücke zu erwehren? und das dazu noch mit ungeputzter Brille? Ein hoffnungsloses Unterfangen! Das Fenster war und blieb zu. Ich hatte mich gedanklich schon längst darauf eingestellt, es nie zu schaffen, die Mücke durch das Fenster aus dem Raum zu vertreiben. Mit anderen Worten: ich hatte mich damit abgefunden früher, oder später zum Mörder zu mutieren. Es fragte sich nur wann.
Ich hatte an jenem Morgen keine Zeit mehr, meine Jagdinstinkte zu aktivieren, denn ich musste pünktlich im Büro sein. Ich weiß ja, was man von mir erwartet.
Auf dem Heimweg kaufte ich eine Fliegenklatsche. Inbrünstig hoffte ich, dass ich mit dieser eleganten Waffe auch einer Mücke entgegentreten konnte – obwohl es eine Fliegenklatsche war. Immerhin sind Fliegen ja ein niedrigeres Volk als die Mücken, im Reich der Insekten. Einer der Passanten, der mich dabei beobachtete, wie ich mit dem neu erstandenen Gerät vor dem Laden einige Probeschläge machte, wies mich freundlich, aber diskret darauf hin, dass in nur zwei Minuten Entfernung eine moderne Badminton-Halle wäre. Er sei der Pächter, und er steckte mir auch gleich einen Gutschein für eine kostenlose Schnupperstunde zu.
Ich hatte andere Ziele. Mit blutrünstigen Absichten stieg ich entschlossen die unzähligen Stufen zu meinem Zimmer hoch und trat einigermaßen atemlos durch die Eingangstüre. Kaum hatte ich routinemäßig das Fenster geöffnet griff mich dieses Mistvieh wieder an. Um beweglicher zu sein zog ich behände meine Anzugsjacke und die Krawatte aus, öffnete den Hemdkragen und klatschte einige Male mit der neuen Waffe in meine flache Hand. Diese offensichtliche Demonstration meiner Macht trieb meiner Mitbewohnerin das Adrenalin genauso offensichtlich in die Adern. Sie stürzte sich buchstäblich auf mich. Es war richtig gemein: Ich hatte mich im Büro den ganzen Tag abgerackert und war rechtschaffen müde. Und dieses Mistvieh muss sich die ganzen Stunden auf die faule Haut gelegt haben. Jedenfalls waren die Angriffe so intensiv, daß ich, trotz meiner Wunderwaffe, in die Defensive getrieben wurde.
In einer Kampfpause setzte ich mich erschöpft an den Tisch und goss mir ein wohlverdientes Bier ein. Die vom Treppensteigen müden Beine streckte ich genüsslich unter den Tisch und mit einem Handtuch trocknete ich den Schweiß, der sich während des Kampfes bildete, von Gesicht und Hals. Doch ich blieb immer auf der Hut. meine Augen suchten Wände und Decke ab. Wo mochte sich dieses verdammte Luder wieder versteckt haben?
Und da war es plötzlich wieder: Ein hartes, hohes Summen der Flügel, das rasant lauter wurde und näher kam. Und dann.......ich traute meinen Augen kaum.......mit einem Flopp tauchte die doofe Mücke in mein Bierglas ein und ersoff in dem würzigen Gerstensaft. Ein Kamikazeflieger wäre vor Neid gestorben, hätte er diesen zielgenauen Todesflug gesehen!
Am Abend jenes denkwürdigen 1. Septembers kehrte mein Seelenfrieden wieder zurück.
Ich danke heute noch Gott dafür, daß ich ein pflichtbewusster Buchhalter bleiben durfte, und mich dieses Mistvieh nicht zum Mörder machte.