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Die Affenfrau
„Wir werden uns trennen!“ Er sagt diese Worte mit einer unermesslichen Selbstverständlichkeit und spricht sie fast beiläufig aus. Er sieht sie nicht an dabei, sondern sein Blick geht einfach durch sie hindurch. Als wenn sie schon nicht mehr da ist in seinem Leben, nicht mehr dazu gehört.
Sie spürt ihren harten Herzschlag. Die Gedanken wirbeln wie ein Novembersturm durch ihren Kopf. Und wenn sie versucht, einen davon zu packen und festzuhalten, dann entwischt er ihr wieder. Sie sucht nach dem rettenden Schlüsselsatz, der diese Farce beenden kann. „Das ist doch jetzt ein dummer Scherz, oder?“ Unsicherheit und Unglauben liegen in ihrer Stimme. Sie versteht nicht. Ein Güterzug hat sie gerade überfahren.
Er sagt nichts. Keine Reaktion, kein Blick für sie. Nicht die Spur eines Gefühls findet sie in seiner Miene. Stattdessen fängt die Wand seinen Blick auf und verbündet sich mit ihm. Gemeinsam mit ihr der Teppich, die Couch, der Fernsehschrank, die Stehlampe. Sie ist plötzlich ein Fremdkörper in seiner Wohnung. Nur noch ein Gast, auf dessen Aufbruch man ungeduldig wartet.
Er hat mit einem Baseballschläger ihre Träume zertrümmert, mit einem Gift ihre Atmung gelähmt, die Blutbahnen ihrer Zukunftsvisionen mit einem scharfen Messer durchtrennt, ihre Gefühle mit einem Kissen erstickt. Jede Emotion in ihr hat er tausend Tode sterben lassen. Mit nur einem einzigen Satz. „Wir werden uns trennen.“ Die Worte hallen wie ein unbarmherziges Echo in ihrem Kopf.
Die Bilder der Vergangenheit vollführen einen traurigen Festumzug vor ihren Augen. Ihre Begegnung beim Joggen. Die erste gemeinsame Nacht nach dem leicht eskalierten Kneipenbummel. Anstandsbesuch bei ihrer Großmutter. Die alte Dame ist hin und weg von ihm. Sein neues Auto. Gemeinsam entdeckt bei einem Straßenrandhöker. Der Urlaub in Kenia mit eindrucksvollen Bildern. Seine Fieberattacke. Doch keine Malaria. Glück gehabt. Zeitungen wälzen nach Anzeigen für eine größere Wohnung. Zusammen.
„Warum?“ Es ist nur ein kurzes flehendes Wort, aber sie vermag es kaum auszusprechen. Sie weiß nicht, ob er sie wenigstens jetzt anschaut. Die Tränen haben einen matten milchigen Schleier vor ihre Augen gehängt.
„Ich habe in der Firma eine andere Frau kennen gelernt. Es geht schon seit mehreren Wochen.“ Das ist also seine Erklärung. Klar, unmissverständlich, unumstößlich. Seit mehreren Wochen schon. Ach so. Na dann. Ihr Gehirn beginnt automatisch zu rechnen. Letzten Sonntag – der Strandspaziergang an der Ostsee. Das Kreischen der Möwen, das sich unter ihr Lachen mengt. Der Mittwoch davor – seine Wärme, als er sie in seine Arme schließt, um sie über den Streit mit ihrer Kollegin hinwegzutrösten. Noch eine Woche weiter zurückgespult – Hand in Hand schlendern sie aus der Bar und küssen sich innig, bevor er ihr die Autotür öffnet. Oder hatte nur sie ihn geküsst? Und er sie nicht? Gab es Zeichen, die sie nicht gesehen hat? Vielleicht nicht sehen wollte? War sie so glücklich gewesen, dass sie seinen latenten Rückzug nicht bemerkt hatte? Hätte sie gegensteuern, um sein Herz kämpfen, ihn halten können, wenn sie bewusster wahr genommen hätte? Wo waren die Zeichen gewesen?
Vielleicht die Montags-Runden, die sein Chef so spät angesetzt hatte, dass es sich nicht mehr lohnte, wenn sie abends zu ihm fuhr? Oder das edle silberne Feuerzeug? Ein Utensil, das seit etwa drei Wochen untrennbar mit ihm verbunden war. Von Karstadt, durch Zufall entdeckt. Das frisch bezogene Bett nachdem er das Wochenende bei seinem Freund in Berlin verbracht hatte. Berlin, das ganz nett war, aber ansonsten nichts Erzählenswertes bot. Das Telefonkabel, das er aus der Buchse gezogen hatte, weil seine Mutter ihn mit ihren ständigen Anrufen terrorisierte.
Es ist wie ein Mosaik und die kleinen Steinchen fügen sich mit erschreckender Leichtigkeit zu einem großen Ganzen zusammen.
Sie ist ja so dumm gewesen. Blind für das Geschehen um sie herum. Taub für die mahnenden Worte ihrer Freundin. „Er hat heute Abend schon wieder etwas vor?“ Stumm vor Befangenheit und aus der Angst heraus, ihn zu verlieren. Blind, taub und stumm vor Liebe. Wie die drei Affen, die ihre Hände über Augen, Ohren und Mund halten. So kommt sie sich vor in diesem Moment. Wie der größte Affe von allen, der nicht nur mit einem Handicap geschlagen ist sondern bei der Wahl seiner geistigen Einschränkungen aus dem Vollen schöpft.
„Ich bringe Dir die restlichen Sachen gerne noch vorbei und wir können doch Freunde bleiben.“
„Ja, ja.“ Sie sieht nicht zurück, als sie die Tür hinter sich zuzieht.