Was ist neu

Die Abkürzung

Mitglied
Beitritt
22.06.2003
Beiträge
355
Zuletzt bearbeitet:

Die Abkürzung

Die Abkürzung


Ich hoffe, jemand findet diesen Brief. Ich muss ihn verstecken, eigentlich dürfte ich sowas gar nicht schreiben.
Es ist gefährlich, mir könnte schlimmes widerfahren, wenn er den Brief entdeckt.
Doch ich bin ihn euch schuldig, ich kann euch nicht einfach so verlassen. Ich hatte ein hartes Leben, aber auch einige Freunde, die ich nur ungern verliere. Es tut mir weh, mich von meiner kleinen Familie trennen zu müssen. Ich habe keine Wahl, aber ich hoffe, dass ihr den Weg auch finden werdet. Vielleicht werden wir uns irgendwann wiedersehen.

Das wichtigste ist, dass ihr wisst, dass ich euch liebe. Aline, du warst eine wunderbare Ehefrau, wir haben uns geliebt, wie kein anderes Paar. Jetzt ist mir richtig klargeworden, was du mir bedeutest. Pierre, du weisst, Papa wird dich nie vergessen, bitte verzeih mir, wenn ich manchmal böse gewesen bin, jetzt weiss ich, es hatte keinen Sinn. Du bist erst vier, aber irgendwann wirst du verstehen.
Grüsst alle Freunde von mir, sagt ihnen, mir ginge es gut.
Es würde keinen Sinn haben, die Polizei zu rufen, um nach mir zu suchen. Nur ihr könnt zu mir finden. Mit diesem Brief.

Ich werde euch nun erklären, wie alles passiert ist. Ich kann es selbst noch nicht wirklich fassen. Soll ich mich freuen oder soll ich bereuen? Ich weiss es nicht. Die Wirklichkeit ist bald nur noch Traum und der Traum ist Wirklichkeit. Aber ich bin euch eine Erklärung schuldig.

Es war glücklicher – oder trauriger? – Zufall, als ich das Tor entdeckt habe. Ich war deprimiert und wollte es darauf ankommen lassen. Ihr wart eine Woche in Kroatien, aber ich habe gearbeitet. Ich musste arbeiten. Ärzte in gering bewohnten Gegenden Rumäniens können sich kaum Ferien leisten. Erstens verdiene ich nicht einen Zehntel des Lohns, den ich in Frankreich erhielt, zweitens sind sehr viele Leute hier auf mich angewiesen, ich kann sie nicht im Stich lassen.
Ich konnte nicht. Jetzt kann ich, denn ich weiss Bescheid. Ich habe kein schlechtes Gewissen mehr.
Es war ein heisser Tag, ich hatte lange gearbeitet.
Ich hatte zwei Operationen versaut. Zwei an einem Tag, das war mir nie zuvor widerfahren. Einer meiner Klienten musste einen Tag später nochmals amputiert werden, jetzt lebt er noch, aber nicht mehr lange. Der andere ist auf der Stelle gestorben.

Mir ging es an diesem Tag furchtbar schlecht. Ich sah nur alles negativ, dachte, das Leben sei gestern gewesen und nun käme die Qual. Alles traurige, was mir einfiel, bildete eine düstere Wand um mich, die jeden Blick auf die Hoffnung und auf den Sinn verwehrte. Es kamen mir Gedanken, die ich zum letzten Mal vor fünfzehn Jahren als Jugendlicher hatte. Ich dachte an Suizid.

Also lief ich nach den Operationen, etwa um sieben Uhr, in den grossen Nadelwald hinter unserem Haus. Der Wald ist gefährlich, die Bäume und Pflanzen verdecken die Sicht so gut, dass man immer nur sehr spät sehen kann, wo es runtergeht. Ist man nicht vorsichtig genug, fällt man mit ziemlich grosser Wahrscheinlichkeit einen Felsen runter.
Ich wollte nicht vorsichtig genug sein.
Da habe ich an euch gedacht, wie schrecklich das für euch wäre, wenn ihr mich, keine fünfzig Meter vom Haus entfernt, eine halb verwitterte Leiche, finden würdet. Das konnte ich euch nicht antun.

Ich ging tiefer in den Wald, immer in die gleiche Richtung. Ihr wisst doch, einen wirklichen Weg gibt es nicht, aber vor drei Wochen haben wir diesen kleinen Pfad neben dem ersten grossen Felsbrocken gesehen, den die Tiere gemacht haben. Er führt tief in den Wald hinein.
In Wirklichkeit stammt dieser Pfad gar nicht von den Tieren. Es ist ein sonderbarer Weg. Es ist eine Abkürzung und sie führt an einen ganz besonderen Ort.
Der Pfad ist uralt, er wurde nicht von den Tieren gemacht, aber auch nicht von den Menschen. Es ist Gottes Pfad, es ist der Weg, den er beschreitet, um sich unter die Menschen zu mischen. Nur hat er ihn nicht genug verborgen, sodass ihn auch Menschen benutzten können.

Ich will, dass auch ihr den Weg gehen könnt, wenn ihr wollt, deshalb erkläre ich ihn euch.
Wie gesagt, geht ihr auf diesem kleinen Pfad. Nach dem ersten grossen Felsen folgen einige andere, nicht sehr grosse. Schliesslich seht ihr eine riesige Tanne auf der linken Seite und neben dieser steht ein Felsbrocken. Auch darauf wächst eine Tanne, eine kleine. Diesen Ort müsst ihr euch merken, bevor ihr weitergeht.
Seht euch ab dort die rechte Seite gut an. Etwa zweihundert Meter weiter, nach einer Ansammlung Dorngestrüppe – die ich am Tag meiner Depressionen absichtlich gestreift habe – werdet ihr den genau gleichen Felsen, die genau gleichen zwei Tannen sehen. Ihr denkt wohl, das sei unmöglich? Dachte ich auch, doch schliesslich entschloss ich mich, zwischen dem Felsen mit der Tanne und der riesigen Tanne hindurchzugehen. Tatsächlich öffnete sich meinen Augen ein weiterer Pfad, der ebenfalls aussah, wie von den tierischen Waldbewohnern errichtet. Nur machten keinen Tiere Wege, die vor gähnenden Abgründen aufhörten. Dieser Pfad aber war keine fünf Meter lang.

Unweigerlich wurde ich dort an meine Absicht erinnert, mir das Leben zu nehmen. Dieser Ort schien mir geeignet: Ein kaum sichtbarer Weg, an dessen Ende ein Riss im Boden, vielleicht fünfzehn Meter tief. Auf der anderen Seite ging der Wald weiter, als ob nichts wäre, natürlich ohne meinen Pfad.
Ich sprang hinunter.
Als mein Kopf sich auf der Höhe des Weges befand, begann alles um mich sich zu verwandeln. An diesem Ort, wo es eigentlich dunkel sein sollte, entstand ganz plötzlich eine Menge Licht.
Es ist schwer zu beschreiben, es war so schön! Aber ich versuche es.
Der Fels war ein einziger Edelstein, bevor er verschwand.
Das Licht nahm Farben an. Immer nur meine Lieblingsfarben.
Plötzlich sass ich auf einer Wiese voller prächtigen Blumen, so weich wie das Bett einer Königin. Ich erinnerte mich an unseren guten Schäferhund, den wir in Frankreich hatten und mit dem wir auf ähnlichen Wiesen oft gespielt hatten.
Da tauchte unser toter Schäferhund auf. Er sah aus wie zu seinen besten Zeiten und leuchtete auf eine nicht unangenehme Weise. Ich streichelte ihn und bemerkte, dass auch meine Hand Licht trug.
Eine wunderschöne Serviertochter tauchte auf und bot mir zu trinken an. Sie leuchtete. Immer noch sehr verwirrt, erklärte ich, dass ich kein Geld bei mir hätte. Sie lächelte mich auf eine unheimlich liebenswürdige Art an und bemerkte, dass ich neu in der Gegend war.
Ich müsse überhaupt nicht zahlen. Ich könnte haben, was ich wollte.
Ich fühlte mich wie in einem fünf Sterne Hotel, in dem man keine Rechnungen bezahlen muss.
Ich lächelte ebenfalls und meinte, dass ich mich ja fast im Paradies befand. Die wunderschöne, freundliche Serviertochter sprach meinen Gedanken aus: „Vielleicht liegen sie dabei gar nicht falsch.“

Ich bat um Wein und überlegte, ob ich auch mein Lieblingsgericht haben könnte.
Die Frau stellte mir eine Platte auf einen wunderschönen Tisch. Ich sass unterdessen nicht mehr auf der Blumenwiese, sondern auf einem königlichen Stuhl. Auf der Platte war nicht nur der Wein, sondern auch eine grosse Portion köstlich duftender Lasagne.
Ich staunte, was man mir scheinbar sehr gut ansehen konnte; die Frau lachte sanft: „Ist doch dein Lieblingsgericht. Ich habe es in deinen Augen und auf deinen Lippen gesehen!“ – „Was, sie können meine Gedanken lesen? Das kann doch nicht sein! Wo bin ich? Können sie alle meine Gedanken lesen?“ – „Nein, nicht alle, einige Gedanken und vor allem deine Wünsche. Du bist an einem Ort, den die Menschen, die auf der Erde leben, Himmel nennen. Nach dem Tod kommt man hierher, doch einige wenige benutzen Gottes Pfad. Du gehörst zu ihnen, das kann ich sehen. Du bist noch nicht ganz Licht, noch nicht ganz Wunsch der anderen im Himmel. Du bist so wie du auf Erden bist und der Tod hat dich noch nicht geholt.“ ,erklärte die Frau der Wünsche und Träume, dann ergänzte sie: „Ich kann auch noch andere Gedanken lesen. Zum Beispiel sehe ich, dass dich die Menge Wein erstaunt, im Normalfall würdest du schon nach der Hälfte auf dem Boden liegen. Das ist hier nicht der Fall. Du kannst ruhig alles trinken. Dieser Wein füllt deinen Körper nicht. Er ist nur Genuss. Wenn du in getrunken hast, kannst du dich amüsieren, als wärst du besoffen, jedoch ohne die entsprechenden Nachteile, die du auf Erden hättest. Auch von den Lasagnen kannst du essen soviel du möchtest, es sind dir keine Grenzen gesetzt.“
Ich sprach eine Weile mit der Frau und sie erklärte mir alles, was ich wissen wollte. Auch die drei-keit-Regel. Der Himmel sei ein Ort der Freundlichkeit, Heiterkeit und Fröhlichkeit. Hier käme man gar nicht in Versuchung, zu lügen, zu betrügen, Angst zu haben, zu fürchten. Es wäre ohnehin alles, wie man es will. Im Grunde genommen hatte jeder Mensch seinen eigenen Himmel, der doch immer der gleiche war.
Die Frau hatte auch eine Schale Wein genommen, denn sie hatte in meinen Gedanken gelesen, dass ich nicht gerne alleine trinke.

Sie sass auf meinen Knien. Ich streichelte ihre schönen Beine unter dem Rock, während sie sich an mich lehnte und Anstalten machte, mich zu küssen. Plötzlich liess ich aber los. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich an dich, Aline, denken musste.
Die hübsche Frau schien das in meinen Gedanken gelesen zu haben, denn sie erklärte mit einer Stimme, die deiner ähnelte: „Du fühlst dich gemein, wegen deiner Frau? Das ist nicht nötig. Wie alle schlechten Gefühle, ist auch ein schlechtes Gewissen hier fehl am Platz. Es ist gar nicht nötig. Es sind deine Wünsche, deine Träume und deine Erinnerungen, die mir dieses Aussehen verleihen. Ich bin nicht eine Frau, die mit dir fremdgeht. Ich bin nur deine Vorstellung, deine Phantasie!“
Da merkte ich, dass sie dir stark ähnelte und hatte plötzlich furchtbar Angst, dass du es warst. Wie, wenn du in Kroatien ums Leben gekommen wärst?
Die schöne Frau schien meine Befürchtung verstanden zu haben, denn sie erklärte mir geduldig: „Nein, ich bin nicht deine Frau, sie lebt noch. Aber ich kann deine Frau sein, wenn du es dir wünschst. Ich kann sie sein, wie sie vor zehn Jahren aussah oder wie sie jetzt ist. Ich kann aber ganz einfach auch eine Traumfrau sein, eine herrliche Kreation deiner ureigenen Phantasie.“
Ich glaubte eine verwandte Art der Befriedigung zu kennen. „Das ist ja wie... wie onanieren!“ – „Genau! Hast du ein schlechtes Gewissen, wenn du das tust?“ – „Nein, nicht wirklich...“ – „Denkst du dabei immer an deine Frau?“ Sie griff mir zwischen die Beine. „Häufig, nicht immer.“

Dann hatte ich kein schlechtes Gewissen mehr, Aline. Zu Beginn wünschte ich, dass sie aussah wie du, dann aber liess ich meiner Phantasie freien Lauf. Als wir fertig waren, erklärte sie mir das, was die ganze, freundliche Atmosphäre dieses Ortes ausmacht. Sie sagte: „Mit der Zeit wirst du auch eines begreifen: Wenn sich hier zwei lieben oder sonst irgendwelche Freuden bereiten, – Geschenke gehören auch dazu – dann geschieht alles immer nur für den anderen. Wir lieben, weil wir es lieben anderen eine Freude zu bereiten. Wir schenken, obwohl hier jeder ohnehin selbst kriegen könnte, was er will.“

Es erschienen noch ein Dutzend andere Leute. Alle hatten ein Lächeln auf, dessen Freundlichkeit sich in der Stimme wiederholte. Ein netter Typ war dabei, von dem ich erfuhr, dass er auf Erden der Liebhaber der wunderschönen Frau gewesen war, doch es störte ihn überhaupt nicht, dass ich sie genossen hatte. Er freute sich für mich und sagte, dass ich ohnehin nicht die gleiche Frau gesehen hätte wie er. Es gäbe so viele Frauen, wie sie gewünscht werden, dasselbe bei Männern.
Dann setzten wir uns alle an einen herrlichen Marmortisch und spielten meine Lieblingsspiele. Ein Gedanken kam mir sofort in den Sinn: Was, wenn wir nun alle gar nicht das gleiche Spiel spielen? Bekommt jeder von uns in Wirklichkeit sein Lieblingsspiel und doch weckt es den Anschein, wie wenn sich alle mit Monopoly amüsierten?

Ich liess den Gedanken fallen und fragte auch noch nicht nach, denn ich wollte mich nicht zu sehr mit dieser unmöglichen Wirklichkeit verwirren. Stattdessen fragte ich meine Kameraden: „Kann ich wieder zurück? Ich bin ja nicht wirklich tot und habe noch eine Familie. Auch bin ich nicht so wie ihr. Ich bin nicht, wie soll ich sagen... perfekt.“ – „Das waren wir alle auch nicht, aber wir sind den eigentlichen Weg gegangen und unterwegs wurden wir so, wie wir jetzt sind. Du aber hast die Abkürzung genommen, nur wenige haben dieses Glück. Nun, zu deiner Frage: Selbstverständlich, du kannst zurück auf die Erde, wenn du willst. Du kennst doch den Weg?“ – „Ja, aber er ist nicht mehr hier. Ich kann ihn nicht sehen!“ – „Wir können ihn nicht sehen, aber du schon, du hast ihn bereits einmal gesehen, also brauchst du ihn dir einfach zurückzuwünschen. Stell ihn dir genauso vor, wie er ist.“
Es funktionierte. Ich verabschiedete mich und schon befand ich mich zwischen den Edelsteinen, die bald aber zu grauen Felsen wurden. Langsam stieg ich aus dem Spalt im Boden und sah vor mir den Pfad, Gottes Abkürzung.

Nach zwei weiteren Tagen hartem Leben in Rumänien sehnte ich mich wieder nach dem Ort. Auch wollte ich vor meinem Gewissen fliehen, das mir den Tod eines Patienten immer wieder vorspielte.
Ich ging in den Wald, auf den Pfad und stieg in das Loch.

Ich erlebte einige neue Überraschungen dieses Ortes.
Könnte man die Herrlichkeiten der Erde wie ein Adjektiv steigern, so würde man im Superlativ das Wort Himmel erhalten.
Das Beste, was ich bei diesem Ausflug erlebte, war die Begegnung mit meinem Patienten. Er sah so aus wie vor der Krankheit und vor meinem Versuch, ihn zu operieren. Er dankte mir tatsächlich noch dafür und sagte, es spiele keine grosse Rolle, er sei froh, dass er hier sein könne.
Ich kehrte wieder zurück.

Heute wollte ich auch wieder die Abkürzung benutzen; der Ort, an den sie führt ist einfach zu herrlich, um zu verzichten. Ich kam nicht dazu. Jemand klingelte an der Haustüre. Ich sah aus dem Fenster und erkannte einen der wenigen Nachbarn, die wir haben: den Förster. Er wartete gar nicht erst ab, sondern trat gleich ein. Ich führte ihn in die Gaststube und er setzte sich auf einen Stuhl, obwohl ich auf das Sofa hinwies. Der Mann faltete die Hände zusammen, stütze sein Kinn darauf und sprach: „Spielen wir mit offenen Karten. Ich weiss, dass sie die Abkürzung entdeckt und benutzt haben. Niemand sollte etwas davon erfahren, ich halte sie zwar nicht für eine Plappertasche, doch sicher spielen sie mit dem Gedanken ihrem Sohn oder ihrer Frau die Herrlichkeiten zu zeigen. Leider ist das nicht möglich. Es muss um jeden Preis vermieden werden, dass die Öffentlichkeit davon erfährt.“ ,der Mann zog die Brille ab. Ich kannte den Förster zwar nicht gut, doch ich war mir sicher, dass er schielte. Er tat es nicht. Bevor ich etwas sagen konnte, reagierte er: „Ach ja, der Förster schielt? Gleich gemacht...“ Er hatte meine Gedanken gelesen und passte sich nun ihnen an. Dieser Mann konnte nicht der Förster sein. Er kam von drüben um mich zu holen. War er vielleicht Gott selbst, der sich unter die Menschen mischte? Auf jeden Fall war er kein normaler Toter, erstens kannten diese den Weg nicht und zweitens sahen die toten Menschen so aus, wie andere es erwarten oder wünschen. Dieser Mann schien aber von sich aus jede beliebige Gestalt annehmen zu können. Ich versuchte ihn mir anders vorzustellen, doch es klappte nicht.
Der Mann hatte meine Gedanken gelesen und erklärte, dass er nicht Gott sei. Er sei ein Wächter des Himmels und zugleich der Erde. Der irdische Begriff Engel würde am ehesten zu ihm passen. Er hätte die Aufgabe mich zurück in den Himmel zu bringen. Für immer.
Ich protestierte. Nicht, dass ich plötzlich so sehr am Leben hing, doch ich wollte mich noch von euch verabschieden.
Das sei nicht möglich, der Geheimhaltung wegen, ich könne mich höchstens selbst einen Moment besinnen, um vom Haus und der Umgebung Abschied zu nehmen.
Ich fragte, wie es wäre, wenn ich mich ganz einfach weigern würde.
Diese Möglichkeit bliebe mir ebenso verwehrt. Ich solle mich vernünftig verhalten, er wolle nicht gezwungen sein, ernstere Massnahmen zu ergreifen.
Dann dachte er eine Weile nach, bevor er sprach: „Ich muss noch etwas erledigen. Es dauert etwa eine Stunde. Du wartest aber hier auf mich und sprichst zu niemandem, abgemacht?“

Er ging fort und ich blieb fünf Minuten lang einfach sitzen. Ab sofort immer im Himmel! Sollte ich mich freuen, oder sollte ich bereuen? Auf jeden Fall bin ich froh, dass ich wieder die Abkürzung gehen darf. Er hätte mich auch ganz einfach töten können.
Ich gab mir einen Ruck, stand auf, holte etwas zum Schreiben und verschwand damit hinter der Toilettentüre. Dort schrieb ich euch diesen Brief. Hoffentlich findet ihr ihn.
Ich liebe euch und ich würde euch so gerne wiedersehen!
Jetzt muss ich mich aber beeilen, er ist bereits drei Viertelstunden fort.
Ehemann und Vater Jean

*

Gerade rechtzeitig stopfte Jean, der Arzt, den verbotenen Brief unter den Deckel des Toilettenpapierhalters. Als er die Türe schloss, öffnete sich diejenige am Eingang und der schielende Förster trat ein.
„Bist du bereit? Hast du das Haus verlassen?“
„Ja, ich bin, muss ja wohl sein. Nein, habe ich nicht.“
„Hast du niemanden in der Zwischenzeit angesprochen?“
„Wie auch? Ich war hier!“
„Und das Telefon?“
„Hab nicht daran gedacht.“
„Hast du einen Brief geschrieben?“
Er weiss es, er spielt mit mir. Ich darf mir nichts anmerken lassen! Der Schäferhund ist tot.
„Nein!“
Verdammt, das war zu eindringlich.
„... habe lediglich etwas gegessen und getrunken, um mich damit abzufinden. Dann bin ich aufs Klo gegangen.“
Scheisse, das Schreibzeug ist noch auf dem Klodeckel und...
„Darf ich mal nachsehen?“ fragte der Engel und näherte sich der Toilettentüre.
...hoffentlich ist er blind!
„Ja, gerne.“ Der Arzt trachtete nach einem korrekten und glaubwürdigen Klang in seinen Worten, während er sich um alles in der Welt bemühte, an den toten Schäferhund zu denken und nicht an den Brief.
„Nein, schon gut, ich vertraue ihnen. Warum sollten sie ausgerechnet in der Toilette einen Brief übrig lassen? Nun kommen sie aber mit, die Zeit drängt!“

Der Engel und der gebrochene, kleine, kräftige Arzt, der viel zu früh aus dem Leben gezogen wurde, betraten nun den Wald. Der Förster lächelte auf diese himmlische Weise, was völlig fehl am Platz erschien. Jean aber war traurig. Tränen vermischten sich mit Schweiss, Tränen, weil er seine Frau, seinen Sohn vielleicht nie wieder sehen würde. Die Herrlichkeit des Himmels lieferte ihm nur bedingten Trost, zwar war dort alles besser, aber würde er die Streitigkeiten nicht vermissen?

Er wischte sich den Schweiss von der Stirn, während er seinem Abholengel auf dem ersten Pfad folgte. Der Förster blieb neben der ersten grossen Tanne und der kleinen auf dem Felsen stehen.
„Das ist aber noch nicht die Abkürzung, oder schon?“ fragte der Arzt verwirrt, während er sich mit der Hand durch sein nasses, blondes Haar fuhr. Er war nicht auf die Idee gekommen, dass dieser identische Weg auch ans Ziel führte.
Der Förster ging nicht sofort auf die Frage ein: „Ich habe noch nicht gefragt, ob du willst, dass dein Verschwinden hier wie ein Unfall aussieht, oder wie eine Entführung?“ – „Ähh, wie ein Unfall... oder was ist der Unterschied?“ – „Variante eins; du suchst dir einen beliebigen Felsen hier und springst hinunter. Bei einer Entführung dagegen verschwindest du spurlos, niemand findet deine Leiche.“ – „Dann doch lieber spurlos!“ erwiderte Jean entsetzt. Er hatte keine Lust, doch noch richtig zu ‚sterben‘.

Einen Moment lang war es still, dann aber sprach der fälschlich schielende Förster: „Wir gehen nicht den gleichen Weg, wie du ihn zweimal beschritten hast. Was du kennst ist die Abkürzung, aber du kennst noch nicht den richtigen Weg. Dieser ist viel länger. Je nach Person variiert die Dauer des Aufenthaltes. Die schlimmsten Menschen der letzten Jahrhunderte sind auch jetzt noch unterwegs. Gott will sie alle reinwaschen, damit sie so werden, wie die, welche du im Himmel gesehen hast.“

Jean gab keine Antwort. Er glaubte zu verstehen, was der Engel damit meinte.

Sie hatten nun den Spalt im Boden erreicht, aber wenn er nun hinuntersprang, würde er bestimmt keine Edelsteine sehen, bestimmt nicht auf einer sanften Blumenwiese landen.
Aber was würde es stattdessen geben? Ein immenses Flammenmeer, das seinen Körper verkohlte, so wie die meisten Menschen sich das Fegefeuer vorstellten? Oder eine Welt voller Hass, den Superlativ aller bösen Dinge auf Erden? Fand er vielleicht alle kürzlich Verstorbenen wieder, wie sie zu ihren schlimmsten Zeiten gewesen waren, oder einfach das Entsetzen seiner Träume, alles genauso wie er es befürchtete?
Ein anderer Gedanke überfiel ihn: Wenn selbst die schlimmsten Menschen ‚auf dem Weg‘ waren, gab es die Hölle nicht? War das Fegefeuer so schlimm, sie zu ersetzten? War Gott dann gleichzeitig auch der Teufel?

Der Engel riss ihn aus seinen Gedanken: „Bevor du gehst, ist es vielleicht gut, wenn ich dir sage, dass es die Abkürzung jetzt nicht mehr gibt.“ – „Deshalb warst du eine Stunde fort...“ Jeans Stimme zitterte. Nun hatte der ganze Brief keinen Sinn mehr, er würde seine Familie nie wiedersehen.
Er warf einen bösen Blick auf den Engel, der es gut meinte. Dann sprang er, begleitet vom Vogelzwitschern, Kopf voran in den gähnenden Abgrund.

Die Vögel verstummten, dafür erklangen nun zahllose Schreie; Angstschreie, Wutschreie, Schmerzensschreie.

Das war der Weg, der Weg, den alle gehen müssen. Das war der Preis für den Himmel. Das war die Strafe, die alle Bewohner der Erde traf, manche mehr, manche weniger.
Jean befand sich nun schon gut einen Monat in dieser Hölle und hatte einige Leute kennengelernt, die ihn hassten. Er wäre wahrscheinlich noch eine Weile geblieben, hätte er da nicht eine Abkürzung gefunden...

Ende

 

Hallo Clemens!

Danke für die Kritik/das Lob.:)

Ja, die Rubrikwahl hat mir auch grosses Kopfzerbrechen bereitet. Spannung kommt schon ein wenig auf...
Aber wo hättest du sie gepostet?
Sie ist zu wenig Phantasy, zu wenig Philosophisch und viel zu wenig Horror, sonstige ist es mE auch nicht.
Für mich sollte man eine Rubrik "Undefinierbar" öffnen:D !

Merci für deine Zitate/Korrekturvorschläge, bei den meisten muss ich dir völlig recht geben und habe die Stellen dementsprechend verändert.:)

Nun, zur Amputation: Ich stelle es mir so vor, dass man dem Typen mit dem kranken Bein(z.B.) zuerst ein Stück amputiert, jedoch nicht das ganze Bein, da vielleicht der obere Drittel okay ist. Nun hat Jean aber zu wenig amputiert und die Krankheit(z.B.) kann sich ausbreiten. Deshalb muss man nochmals ein Stück amputieren. Zweimal Amputieren ist relativ gefährlich!

Also diesen Satz finde ich voll genial, hab ihn mir ca. 20 Mal durchgelesen ohne jedoch hinter das Geheimnis zu kommen! *g*
Aber nachher bist du schon hinter das Geheimnis gekommen? oder war das ironisch gemeint...
Der Rock ist unterdessen auch nicht mehr knapp *g*
'wichsen' gelöscht, durch 'onanieren' ersetzt und einmal gelöscht(des passt odr?)
Zu Beginn wünschte ich sie mir genau so wie du,...
das ist so gemeint: er stellt sich die Frau im Himmel zu Beginn so vor wie seine Frau(Das kann er im Himmel ja), hab die Stelle aber ein bisschen klarer ausgedrückt neu.
Den Brief versteckt er nicht mehr unter der Toilettenbürste, hast recht, ist ein bisschen komisch. Jetzt steckt er ihn unter dem Deckel des Toilettenpapierhalters...

Ou, hätte ich fast vergessen: Das Doppel-s Problem... Die gibt es in der Schweiz nicht(mehr)! Selbst meiner Tastatur sind sie fremd... tut mir Leid. Problem unserer (oder eurer) Rechtschreibung.:D

Jo, schönen Gruss Van

 

Hi Van Horebeke!

Deine Geschichte hat mich sehr überrascht. Zu Beginn zieht sie einen förmlich in den Bann, packt einen und man liest gierig und gefesselt, doch plötzlich kommt der absolute Bruch (ungefähr dort, wo du den Weg mEn zu genau beschreibst), da kann man sich nicht mehr konzentrieren, der Bann ist weg und man liest nur noch flüchtig, versucht eine Stelle zu erhaschen, die einen wieder fesselt, gelingt nur leider nicht mehr. Die Begegnung mit der "Serviertochter" - der Ausdruck kommt mir sehr befremdlich vor - wird für mich in ihrem Verlauf immer abstruser und auch mir gefällt das obszöne nicht - wie immer du diese Stelle auch ausdrücken magst, es passt meiner Meinung nach nicht in den Text.

Die Idee gefällt mir ganz gut, du beschreibst zu Beginn eine packende Atmosphäre, hältst das aber nicht bis zum Schluss durch, das ist schade.

"Seltsam" wäre von der Rubrik her vielleicht wirklich am passendsten. Für Philosophisches ist es zu wenig tiefgründig, finde ich.

Liebe Grüße
Barbara

 

Hallo Barbara!

Schon wieder nur knapp Zeit...
Danke für Kritik und Lob. Freut mich, dass dir der Anfang gepackt hast und das du neugierig gelesen hast!

Ich überlege ernsthaft, die Story recht fest zu raffen, aber schon nicht so sehr, dass die Story plötzlich wieder in Spannung passt!

Hallo Pandora! Danke für das versetzen!

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom