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Die Überfahrt

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23.02.2003
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Die Überfahrt

Am Horizont hängen ein paar dunkle Wolken. Liebes, deine Hand ist so kalt. Halt durch, es ist doch nicht mehr weit.
Der Wind tut so gut. Schmeckst du das Salz auf den Lippen? Liebling, wir sind auf dem Weg in die Freiheit, bald haben wir es geschafft. Wir sind mitten auf der Adria.
Ist dir nicht gut? Mach doch die Augen auf! Bald sind wir in Italien und dann sind wir frei. Schau nicht zurück, denk nicht mehr an die Wochen im Zeltlager. Vergiß die Nächte, in denen wir alle dicht an dicht in den Zelten lagen, die flimmernde Hitze über unseren verschwitzten Körpern. Auch ich werde diese Nächte nicht vergessen, ich weiß, wie schlimm sie für dich waren, liebes Kind. Nie mehr wirst du so einschlafen müssen, das verspreche ich dir. Sarajevo und das Lager liegen hinter uns.
Deine Augen waren so stumpf und trocken. Nächtelang habe ich neben dir gesessen, dir kühle Luft zugefächelt und dir die nassen Haare aus der Stirn gestrichen, mein Kind, halt jetzt durch, wir sind so nah am Ziel.
Die Wolken kommen näher. Aber sorge dich nicht, ich bin ja bei dir.
Ich habe dir versprochen, daß das Flüchtlingslager nur eine Übergangslösung ist und siehst du, ich habe mich daran gehalten. Wir haben die Enge, die Hitze und das Warten auf eine bessere Zukunft, auf Frieden, auf Hilfe hinter uns gelassen.
Liebling, wir sind auf dem Weg.
Die Menschen hier an Bord sind nervös und können es nicht abwarten, ihr neues Leben zu beginnen.
Wenn es uns gefällt, dann bleiben wir einfach in Italien. Ich werde mir eine Arbeit suchen und du wirst zur Schule gehen, wenn du alt genug bist. Alles wird gut.
Der Himmel wird nun dunkel, der Wind frischt auf. Laß die Augen ruhig geschlossen, ich wiege dich in den Schlaf. Mach dir keine Sorgen, es wird kein Unwetter geben, bestimmt nicht.
Schhhhh, Liebling, die schweren Zeiten sind vorüber. Es beginnt zu regnen, aber ich decke dich mit meiner Jacke zu. Kleines, hab keine Angst!
Das Boot schaukelt über die Wellen. Hoffentlich bleibt es bei ein wenig Regen.
Denk nicht mehr an zu Hause, denk nicht mehr an unser Dorf.
Ich bin froh, daß du so klein bist. Vielleicht kannst du dich später nicht mehr daran erinnern, wie wir aus Lukshan geflohen sind. Vielleicht hast du eines Tages die Blutbäder vergessen, die du mit ansehen mußtest, als die serbischen Polizisten in unser Dorf gestürmt sind und alle 10 Angehörigen des ehemaligen Bürgermeisters erschossen und erschlagen haben. Vergiß ihre Schreie, kleines Kind, vergiß, was du gesehen hast.
Der Regen ist stärker geworden, die Menschen, die viel zu dicht gedrängt auf dem kleinen Boot sitzen, sind nicht mehr als nasse Bündel, viele davon haben kleine Kinder bei sich. Aber sorge Dich nicht, mein Kind, richtige Unwetter sind selten. Alles wird gut.

Dann schwieg die Frau für einige Minuten. Und es waren die letzten. Als das Boot kenterte, hielt sie noch immer ihr Kind im Arm, das vor 2 Tagen im Flüchtlingslager vor Sarajevo an einer Lungenentzündung gestorben war. „Alles wird gut,“ lächelte sie, bevor sie ertrank.

 

Hi Regentänzerin!

Erst mal herzlich willkommen auf kg.de!

Zum Inhalt der Geschichte: ich fand, dass du die Situation in dem Flüchtlingslager gut beschrieben hast. Auch die Verzweiflung der Mutter kam gut zum Vorschein. Dann noch was: das Ende gefällt mir gut (bin eine Person, die ewige Happy-Ends nicht leiden kann).

Was mir allerdings ein wenig negativ aufgefallen ist, sind die Wiederholungen von "mein Kleines", "mein Liebling", usw. Sicherlich erfüllen sie ihren Zweck, denn sie zeigen, dass die Mutter verzweifelt ist. Allerdings bin ich der Meinung, dass diese Wortwiederholungen den Lesefluss hemmen.

Weiter so und viel Spaß auf kg.de! :thumbsup:

Liebe Grüße,
Alisha

 

Hallo Regentänzerin!

Auch von mir ein herzliches Willkommen auf kg.de! :)

Du hast die Gedanken Deiner Protagonistin zwischen Bangen und Hoffen in dieser kurzen Momentaufnahme (als Geschichte im herkömmlichen Sinn würde ich den Text nicht bezeichnen) ansprechend verpackt und einen kleinen Eindruck vermittelt, welche Tragödien sich da auf dem Meer manchmal abspielen.
Dass die Mutter nicht vollkommen verzweifelt (oder es nicht zeigen will), liegt wohl daran, dass sie dem Kind einen Hauch von Geborgenheit und Sicherheit vermitteln will.

Das „du“ schreibst Du manchmal groß und manchmal klein. Ich würde mich auf eine Schreibweise festlegen (und klein bevorzugen).

„Hoffentlich bleibt es bei ein wenig Regen.“
>>> unschöne Formulierung; vielleicht „Hoffentlich regnet es nicht stärker“?

Viele Grüße
Christian

 

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