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Diamantillusion
Ich erinnere mich noch daran, wie bitterlich kalt es an diesem Morgen war. Wie für mich üblich, erreichte ich um Punkt 4 Uhr das Gleis. Der Zug würde erst in einer viertel Stunde eintreffen, aber es war über die Jahre eine Art Ritual geworden, so früh aufzuschlagen. Damals schlief ich nicht besonders gut, und, eigentliche auch zum jetzigen Augenblick mangelte es mir sichtlich an Schlaf. Vielleicht sogar noch mehr als damals, als ich verstand. Als ich das erste Mal wirklich verstand.
Die meiste Zeit am Gleis verbrachte ich damit zu lesen. Kein spezielles Genre, mir gefiel eigentlich alles, was ich in die Hände bekam. Die Mehrheit der Menschen sehen Bücher nur als einen Stapel Papier an, gefüllt mit Buchstaben. Einige wenige genossen es, sich mit dem Prozess des Lesens von ihrem tristen Dasein abzulenken. Und dann gab es jene, mit einer Fantasie gesegnet, die die Bücher als Tore nutzten. In meinem Leben bin ich durch viele Welten gewandelt, habe teilgenommen an Expeditionen in die raue Schneewüste der Antarktis. Habe Tempel nach ihren Schätzen durchforstet. Habe die Höhen des Himmels und die sieben Kreise der Hölle mit den Augen von Genialen, oder Wahnsinnigen, gesehen. Habe die Welt gerettet oder sie ins Chaos gestürzt. Menschen, die sagen, lesen wäre langweilig oder gefiele Ihnen nicht, haben noch nie ein Buch in der Hand gehalten. Aber ich schweife ab.
Wie bereits erwähnt, an diesem Morgen war es bitterlich kalt. Zudem hatte ich nichts dabei, um mich zu beschäftigen, und somit ging ich einem Gedanken nach, jagte ihn durch ein grünes Labyrinth, immer kurz davor, einen Blick auf seine Essenz zu erhaschen. Auf einmal wurde ich wieder in die Realität gerissen.
Bildete ich es mir nur ein oder hörte ich dort hinten, am Ende des Gleises, jemanden weinen? Die Beleuchtung war in einem miserablen Zustand; nur eine Laterne funktionierte noch, und diese befand sich am anderen Ende der Treppe, an der ich für gewöhnlich auf den Zug wartete.
Angestrengt versuchte ich, im Zwielicht der bald aufsteigenden Sonne die Quelle des Geräusches ausfindig zu machen. Saß dort jemand auf einer der Bänke? Für wahr, meine Augen nahmen einen Umriss wahr, und so zögerte ich nicht länger, rückte meine Wollmütze gerade und schritt meinem Schicksal entgegen.
Nach wenigen Metern, als sich meine Augen an das fehlende Licht der Laterne gewöhnten, erkannte ich einen alten Mann, tief versunken in einen alten Mantel. Zwei Schritt weit von der Bank blieb ich stehen und fragte: “Ist alles in Ordnung bei Ihnen?”. Relativ plump, aber ich war zu verwundert, um wortgewandter an die Situation heranzugehen.
Es schien, als erschrak der Mann, ein kurzes Zucken durchlief seinen Körper und er sah mich mit tränenüberströmten Gesicht an. Die Tränen bahnten sich einen Weg durch sein von Alter zerfurchtes Antlitz, wie der erste Tau durch die Schluchten eines Berges, wenn es im Frühjahr wärmer wird. Er hatte strahlend grüne, wache Augen, und eben jene blickten gerade heraus durch mich hindurch.
Seine Stimme klang alt, aber durchaus noch kraftvoll, was mit seinen Augen einen starken Kontrast zum Äußeren hervor rief: “Alles ist in Ordnung. Nichts ist in Ordnung.”
Ich konnte nichts mit diese kryptischen Aneinanderreihungen anfangen, so widersprachen Sie sich doch selbst. Entweder wollte er mir sein Geheimnis nicht anvertrauen, oder ich hatte es mit einem Verrückten zu tun.
Ich wünschte ihm eine gute Besserung und einen schönen Tag, was angesichts der Situation ein wenig deplatziert wirkte, und nahm Abstand. Mein Zug würde ohnehin gleich ankommen, und ob er nun dort sitzenblieb oder einstieg, ich würde wie gewohnt meinen Stammplatz, jener Sitz direkt neben der Tür hinter dem Fahrerhaus, einnehmen. Also ging ich wieder zurück an den Abstieg der Treppe und grübelte über die Worte des Alten nach.
Er stieg nicht ein. Durch das Fenster konnte ich im Vorbeifahren des Zuges einen Blick auf ihn erhaschen, wie er aufstand und ging. Welch’ sonderbares Verhalten doch einige Menschen an den Tag legten.
Am nächsten Morgen, so traute ich meinen Augen anfangs nicht, saß er wieder dort. Gleiche Stelle, gleicher Mantel und offenkundig auch die gleiche Gefühlslage.
Ich kann nicht behaupten, dass ich heute noch weiß, warum ich dies tat, was ich an jenem Morgen tat.
Diesmal hatte ich an ein Buch gedacht.”Face au Drapeau – Erfindung des Verderbens, seiner Zeit verfasst von Jules Verne; Der, dessen Name längst in Vergessenheit geraten ist. Die Front des alten, vergilbten Werkes war rau und verlieh ihm mit seinen dick gedruckten, roten Buchstaben etwas infernalisches. Es war eine der seltenen Ausgaben, illustriert mit 42 Bildern von L. Benett, aus dem Jahre 1968. Wahrlich, ein Schatz, den ich mein Eigen nennen durfte. Ich schlug den Folianten auf, doch bevor ich anfing zu lesen, bemerkte ich, das der Alte neben mir plötzlich aufgehört hatte zu weinen.
Jetzt starrte er nur noch stumpf geradeaus. Ich nahm meinen Mut zusammen und fragte: “Auf wen warten Sie hier, so früh am Tage, inmitten des Schnees?” Keine Antwort. Es war einen Versuch wert gewesen.
Als ich gerade mit der dritten Seite meiner Lektüre begonnen hatte, sprach er. “Auf alles und jeden, auf niemanden. Worauf warte ich, fragst du? Ich warte nicht, ich trauere.” Verblüfft schaute ich von dem Buch auf, und blickte ihn von der Seite an. Die tiefen Falten, das weiße Haar und der wirre Bart, er musste schon an die 70 Jahre alt sein. Falls er merkte, das ich ihn ansah, so zeigte er es nicht. Und dann herrschte wieder Stille. Die Zeit verstrich, und er antwortete nicht auf meine Frage des Grundes seiner Trauer. Er blickte einfach nur geradeaus. Der Zug kam, ich ging, beobachtete ihn wieder durch die vereisten Scheiben hindurch, wie er aufstand, wie er ging.
Wieder schwebten mir die Worte durch den Kopf. Wieder grübelte ich über sie. Wieder kam ich zu keinem Schluss.
Es sollte eine lange Zeit vergehen, bis ich seine Stimme erneut vernehmen sollte.
Das Jahr neigte sich seinem Ende hin, der Frühling kam, und mit dem Frühling ging der Alte. Ich wiederholte das Prozedere jeden Tag, setzte mich neben ihn und las. Ab und an fragte ich ihn nach dem Grund seiner Trauer, doch er strafte mich mit dem selben Schweigen, dem selben starren Blick, in die Ferne gerichtet. Dann war er plötzlich weg.
An dem Morgen seines Verschwindens schmolz der Schnee. Die Zeit war gekommen, an dem die Nacht nicht mehr fror und alles mit Frostreif überzog. Dieser machte jetzt dem Tau platz, und es gab Zeiten, an denen es tagelang regnete. Diesem Fakt schrieb ich das Verschwinden des Alten zu, jedoch strafte mich der Sommer und das bessere Wetter einen Lügner.
Die Zeit ging ins Land, und ich sollte ihn erst am Tage des Neuschnees wiedertreffen.
Dieser Winter war härter als der vorherige. Die Landschaft hatte sich in jungfräuliches Weiß gehüllt, alle Konturen wirkten verschwommen. Reinheit. Das war das erste Wort, das mir einfiel, als ich den Treppenaufstieg beendete und meinen Blick über die Szenerie gleiten lies. Es war immer noch dunkel, aber der Schnee reflektierte das Licht des Mondes und der Sterne. Dort, wo im Herbst einst Mauern zu sehen waren, Wege, Straßen, Gesträuch und Bänke, Autos und Schrebergärten, überlagerte der Schnee alles. Es sah aus wie ein riesiges Labyrinth, ein Labyrinth aus purer Reinheit. Ich löste meinen Blick und sah den Alten dort auf der Bank sitzen, versunken in seinen Mantel, der gleiche, weiße Bart, die gleichen, wirren Haare wie im Vorjahr. Der Wächter der Reinheit.
“Warum trauern Sie?”. Diesmal drehte er seinen Kopf, und er schaute nicht durch mich hindurch. Seine smaragdgrünen Augen blickten geradewegs in meine Seele.
“Ich trauere um dich, den, den ich nicht kenne. Ich trauere um deine Eltern. Ich trauere um den Mann, der seine Frau verlor. Ich trauere um die Frau, die ihre Liebe fand. Ich trauere um die Menschheit und ich trauere um nichts.” Ich hielt den Atem an, hoffte, dass er diesmal weiter sprechen möge. Er richtete seinen Blick wieder nach vorn.
“Wie gern würde ich dich teilhaben lassen an meinen Gedanken, die Last, die auf meinen Schultern lastet, teilen, doch würdest du es nicht verstehen. Niemand versteht es, der es nicht gesehen hat. Es ist zwecklos.” Nach diesen Worten schien er zu schrumpfen, versank noch tiefer in seinen Mantel als je zuvor und ich hatte Sorge, das er sich wieder verschloss. Darum antwortete ich hastig: “So urteilen Sie nicht zu schnell. Wir beide können nicht wissen, ob es vergebens ist. Lassen Sie mich teilhaben an Ihrem Kummer, schenken Sie mir Einsicht.”
Nun wendete er mir wieder sein Gesicht zu, wieder blickte ich ihm in seine Augen, versuchte zu verstehen, warum ich so impulsiv war, warum ich unbedingt wissen wollte, was in diesem Alten vorging. Das Grün war unergründlich und doch strahlte es Kraft aus. Kurzzeitig dachte ich, ich würde mich darin verlieren, einsinken in diese Meere aus Smaragden, die mich da traurig, müde, jedoch stark und wach zugleich anschauten.
“Worte können es nicht ausdrücken. Sie sind zu limitiert, zu festgefahren. Ein jeder, der Fantasie besitzt, mag vielleicht an diesem Stein rütteln können, ihn ein kleines wenig aus seinem festen Sitz lösen, jedoch nicht begreifen. Worte verlieren an Bedeutung, die größte Angst, die stärkste Liebe, der tiefste Zorn verliert an Kraft, wenn man ihn ausspricht.” Endlich wandte er sein Gesicht wieder nach vorn. Ich atmete unabsichtlich auf, spürte, wie meine Verkrampfung sich ein wenig löste.
“Träume sind das wahre Bild. Hast du schon einmal versucht, einen Traum oder die Empfindung, die du während dieses hattest, in Worte zu fassen? Man kann das grobe Bild beschreiben, aber man wird ihm nicht getreu. Der Menschheit fehlt es einfach an Fantasie. Es mangelt ihnen nicht an Worten, aber sie begrenzen sie, nehmen ihr ihren Zauber, berauben sie der Schönheit. Und so ist es mit der Welt. Sie war rau, damals, sie war gefährlich, aber wunderschön und unergründlich. Doch dieser Bann wart gebrochen, als der erste Mensch das erste Wort hervorbrachte. Und mit den Worten kamen die Fragen. Warum ist es so, wie es ist? Warum funktioniert dies so, warum funktioniert jenes so? Und mit den Fragen kamen die Antworten, mit den Antworten das Licht.
Es vertrieb die Dunkelheit, das Mysterium um all jenes, was vorher nicht begreifbar war. Erst die Worte, dann die Fragen, dann die Antworten. Und mit jeder Antwort, die gefunden wart, so ging ein neues Licht auf in dieser Welt, lies keinen Raum mehr für Fantastik, der reinen, absoluten Fantastik.
Wenn du etwas siehst, was du nicht kennst, willst du es in Worte, in dreckige Lumpen kleiden. Das ist der Moment, ab dem der Moment gestorben ist, entzwei gerissen, aus dieser Welt gestoßen ins Licht. Die Menschheit entwickelte den Drang, alles zu erforschen, jedes kleinste Stückchen Land, jedes größte Stück Technik, bis hin zu den Sternen und darüber hinaus. Wir sind an einen Punkt angelangt, an dem es keine Wunder mehr gibt. Niemand glaubt mehr daran, und doch sind sie überall, nur verschließen wir mit unserer Ignoranz und den Worten unsere Augen vor Ihnen. Ein Wunder existiert ohne den Menschen, es ist sich ihrer nicht bewusst, es ist einfach da. Aber nein, wir mussten alles wissen, haben nach allem gesucht, wonach man suchen kann.”
Nun setzte er sich auf, straffte die Schultern, und auf einmal sah er nicht mehr alt aus, nur noch wütend, enttäuscht und… ich fand keine Worte mehr.
“Jetzt stehen wir an einem Punkt, an dem wir alles zu wissen glauben. Nichts kann mehr unter unserem Himmel geschehen, ohne das ein Wissenschaftler dafür eine Erklärung hat.
Und alle fragen sich nun: Was geschieht jetzt? War das alles? Wir haben das verzehrt, was wir liebten, und sind nicht mehr in der Lage zu lieben. Wir wollten die Wunder dieser Welt mit unseren eigenen Augen erblicken und haben sie doch für immer vor Ihnen geschlossen. Darum trauere ich um all jene, die hier wandeln im aufgeklärten Land. Wir haben alle Träume zerstört, jedes noch so kleine Fragment pulverisiert und verbrannt. Wir sind alle tot, ohne das wir es merken. Wir haben aufgehört zu leben, noch bevor wir geboren wurden.
Weißt du, warum ein Neugeborenes bei der Geburt schreit? Einige sagen, dass es allen Schmerz sehen kann, dessen er sich entgegenstellen muss im Leben. Ich sage, sie schreien, weil sie wissen, dass sie schon tot sind, ohne jemals gelebt zu haben. Sie werden keine Wunder erblicken, keine Träume erträumen, nichts dergleichen. Sie werden einfach in einen Käfig aus Worten gesteckt und nie mit ihren Flügeln schlagen können.
Wir sind tot, noch bevor wir geboren werden…”
Ich war sprachlos, nein, wortlos! In all den Jahren ist mir nicht einmal der Sinn gekommen, die Sprache, mit der ich groß geworden bin, als eine Bürde anstatt eine Gabe anzusehen. Wie konnte ich nur so abgestumpft sein, wie konnte ich nur wirklich glauben, ich hätte jemals gelebt.
Die Tränen flossen während seines Pamphlets gegen alles und nichts in Strömen, gefroren an seinem Bart und bildeten kleine Kristalle. Fasziniert beobachtete ich diesen Prozess und fragt mich, wie es wohl wäre, hätte ich das Wahre gesehen, nicht beschränkt durch irgendwelche aneinander gereihten Buchstaben, die nur in unseren Kopf einen Sinn zu ergeben scheinen. Ich blickte auf, einerseits, weil ich den Zug heranfahren hörte, andererseits, weil der Alte, der nicht mehr alt war, auf etwas im Himmel zeigte. Nein, nicht in den Himmel, auf die zugeschneiten Oberleitungen des Zuges.
In diesem Moment zeigte die Sonne ihr brennendes Antlitz am Horizont, hinter den Leitungen, und der Zug fuhr an uns vorbei. Da wir am anderen Ende des Gleises saßen, wurde uns wieder der Blick auf den Horizont gewährt und auf etwas, was ich zu Lebzeiten nicht hätte beschreiben können. Trotzdem will ich es versuchen.
Der Zug, mit seinem schnellen Tempo, wirbelte die Schneeflocken auf den Oberleitungen auf. Diese verstreuten sich in jede Richtung und fingen das Licht der aufsteigenden Sonne ein, nein, spiegelten es in alle Himmelsrichtungen. Es sah aus, als würde der Himmel in tausend Farben brennen, ein riesiges Kaleidoskop über unseren Köpfen, ein Himmelsdach, gespickt mit Myriaden, in allen Farben schillernden Sterne. Sie rieselten langsam auf uns herab, und so schön es anzusehen war, so schnell war es auch vorbei. Gefesselt von diesem leibhaftigen Wunder saß ich da und betrachtete die Sonne, das Labyrinth, den Zug, der weiter fuhr, einfach alles, und ich sah die Dinge, wie sie wirklich waren. Fast wurde mir ein wenig schwindelig von der Intensität, den Kanten, den Spiegelungen. Ich erblickte zum ersten Mal in meinem Leben, oder aber meinem Tod, die absolute Reinheit, die Reinheit aller Dinge, die wir für fast alle Zeit als so normal hinnahmen. Wie dumm ich doch war, geblendet von den Worten, die die Schönheit unterwarfen.
Erneut wendete sich der Mann zu mir, und sprach mit seiner glockenhafter Stimme: “Verstehst du jetzt? Begreifst du es?”. Ich sah ihn nur an, nicht in der Lage richtig zu antworten, nickte ihm zu und genoss, ja ich genoss alles um mich herum. Ich hatte so eben meine eigene Renaissance miterlebt.
Von diesem Tage verließ kein Wort meine Lippen mehr. Ich saß noch oft neben dem Alten, betrachtete die Welt durch die Augen des Verstehens. Betrachtete die Wunder, die überall um uns herum erblühten. Und ich weinte, weinte jeden Tag um all die traurigen Seelen, die nie das sehen würden, was wir sahen.