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Diamantenes Nichts
I.
Julia genoss die Stille und die Lüge stand ihr nicht ins Gesicht geschrieben. Sie saß in der Mitte der ersten Reihe und trug ein schwarzes Samtkleid, dazu schwarze Lackschuhe. Das goldene Haar hatte sie zu einem großen Dutt gebunden.
Wie ein Vogel fühlte sie sich, der über alles Widrige hinweggeflogen war.
Ihre Schwester konnte heute zu der Ehrung nicht erscheinen; sie war auf einer Geschäftsreise im Ausland unterwegs und die Eltern würden wahrscheinlich das Spektakel am Radio verfolgen, eine extra Sondersendung war von der Veranstaltungsleitung vereinbart worden. Julia glitt in einen Dämmerzustand, in dem sie noch mal die Begebenheiten damals in der Hotelbar, im Hotel und ein Jahr danach durchlebte, die sie hier her, in diesen Saal, geführt haben:
„Was ich mache? Ich werde zum Mr. Hyde, wenn ich schreibe und eine Sau nach der anderen durchs literarische Dorf treibe. Ich bin Horrorschriftsteller“, sagte er belustigt und nahm einen Schluck Gin Tonic. Etwas Flüssigkeit lief über seinen langen grauen Bart.
„Ein Schreiber! Das ist ja interessant. Wie ist ihr Name?“, fragte sie und wischte eine Strähne ihres Haares aus der Stirn.
„Tom Tiefhof, schon etwas von mir gehört? Ich habe bisher sechs Romane und etliche Kurzgeschichten veröffentlicht. Hab heut Geburtstag. Mein Dreiundsechzigster. So lang wandele ich schon unter den lebenden Toten. Ich bin hier, weil ich morgenfrüh ein Treffen mit meinem Lektor habe, der auch nur ein lebender Toter ist und sich von Manuskripten ernährt. Darf ich Ihnen etwas ausgeben? Ich freu mich über Gesellschaft.“
Er lächelte und zeigte dabei seine gelben Zähne. Wie abstoßend, dachte sie.
„Herzlichen Glückwunsch! Eine Bloody Mary gerne. Ich heiße Julia Manosch, bin 27 und Pharmavertreterin von Beruf“, sagte sie.
Sie reichte ihm die Hand. Tiefhof bestellte.
Julia hatte sich neben ihm auf einen der dunkelroten Barhocker an der Hotelbar gesetzt, ihr war nach Small Talk zumute gewesen und diese Neigung hatte zu einem Gespräch geführt.
„Ihren Namen habe ich schon mal gehört, aber noch nichts von Ihnen gelesen; ich habe auch schon etwas geschrieben, einige Gedichte und etwa fünf Kurzgeschichten, zu einem Roman hatte ich nie den Atem. Ich habe Respekt vor der Herrschaft über fünfzigtausend und mehr Wörtern.“
Intellektuelle und ihre Schöpfungen erregten sie sexuell. Seine Augen waren wie zwei tiefe Teller und leuchteten. Julia funkelte mit ihren hellgrauen Augen zurück. Sie flirtete halbherzig und spielte mit ihrem kleinen linken Ohrring. Über den Barschränken war eine Neonleuchtstoffröhre schief angebracht, die in aufdringlichem hellgrünen Licht strahlte und gelegentlich Aussetzer hatte.
„Jeder hat schon mal was geschrieben und wenn es nur ein Einkaufszettel ist… Haben Sie schon etwas veröffentlicht?“, sagte Tom.
„Nein, alles dilettantisch, ich bin ja keine Virginia Woolf. Aber von Büchern war ich schon immer begeistert. Die Schwester meiner Mutter hat mir immer zum Geburtstag einen Packen Bücher geschickt. Mein Vater und meine Mutter haben nie viel gelesen. Ich auch nicht, aber es bereitete mir Vergnügen, die Bücher, die ich von meiner Tante geschenkt bekommen hab, anzusehen und die Titel zu lesen. Das war mir Verheißung und Abenteuer genug.“
„Das ist schade, denn ein ungelesenes Buch ist wie ein nicht gelesener Brief, dessen Empfänger wir sind. Man kann nie genug Bücher lesen. Bücher verändern uns.“
Sie lächelte und nippte an ihrer Bloody Mary.
„Meine Schwester ist da ganz anders, Herr Tiefhof. Der gelingt alles, sie ist schöner als ich, gebildeter als ich und geliebter als ich. Ich habe immer in ihrem Schatten gelebt. War die zweite Wahl. Ich hab nie etwas Großes vollbracht. Würde mich nicht wundern, wenn meine Schwester jetzt auch einen Bestseller schreiben würde. Haha! Mit ihr würden Sie sich wahrscheinlich auch besser unterhalten. Ich hasse sie manchmal.“
„Oh, ein Konflikt zwischen Geschwistern, daraus könnte man eine Story machen, haben sie schon mal daran gedacht? Denn jeder Mensch mit seiner Geschichte kann auch ein Abenteuer sein.“
Welch ein Pathos, dachte sie. Wieder lächelte er und zeigte seine gelben Zähne. Aber was sie jetzt noch mehr störte, war der Gedanke an ihre übermächtige Schwester.
„Wechseln wir das Thema.“
„Dann erzähl ich etwas von mir. Ich habe grad ein Buch zu Ende geschrieben. 599 Seiten, ich glaube mein bisher bestes Buch, und das nach einer so langen Krise.“
Er rückte näher. Das war ihr doch zuviel.
„Was war das für eine Krise?“
Julia beugte ihren Oberkörper etwas nach hinten. Für alle Fälle. Sie betrachtete Tiefhof genauer. Was für eine lange, graue Mähne er hatte, keinen Glatzenansatz, wie die meisten in seinem Alter. Und sein braunes Jackett. Wie konnte er nur ein braunes Jackett tragen. Aber es passte zu seinen braunen Augen. Der Filou. Er hob die rechte Hand, als ob er etwas suchen würde. Hoffentlich würde er sie nicht auf ihr Knie legen. Nein, er hatte sie wieder bei sich. Gott sei Dank. Sein Gesicht war so blass geworden. Irgendetwas schien in ihm zu kämpfen.
„Ja, das ist in so ein paar Worten schwer zu sagen. Es hat mein Innerstes zum Äußern gekehrt, denn ich hatte eine tiefgehende Paranoia, dass man mir meine Ideen stehlen könnte. Ich war verrückt geworden. Zehn Jahre ging das so. Ich hatte das Gefühl, dass man meine Gedanken lesen könnte. Jeder x-beliebige konnte das. Wie ein telepathischer Gedankenstaubsauger, der alles aus mir heraussaugt und nichts für mich übrig lässt.“
Er begann zu schwitzen. Er sah verzweifelt aus.
„Ich hatte deswegen eine 10-jährige Schreibblockade…“
„Das muss schrecklich sein, als Schriftsteller nicht schreiben zu können.“
Er wankte auf seinem Barhocker. Sie hatte ein ganz mieses Gefühl.
„Sie sind ein lieber Engel, dass Sie das sagen.“ Tränen waren in seinen Augen.
Na, ich bin ein bisschen Engelchen und ein bisschen Teufelchen.“
„Ja, das war schrecklich, nicht nur wirtschaftlich bekam ich Probleme. Ich kämpfte gegen diesen Teufel in meinem Kopf, der sich fest gefressen hatte. Ich war schließlich in ärztlicher Behandlung.“
„Bei einem Psychiater?“, riet Julia.
„Allerdings! Durch meine Paranoia litt ich an kreativer Impotenz. Denn ich wollte keine Ideen mehr haben, wenn sie nicht für mich wären.“
Er schnappte nach Luft, lächelte verzerrt, fasste an sein Herz und kippte mit seinem Kopf in Julias Schoß. Dabei hielt er sich an ihren Hüften fest. War er betrunken? Sie atmete tief ein und aus.
„Unsere Gespräche… sind ja ganz... schön intim... geworden… in ihren Armen, in ihren Armen!“
Er rutschte von seinem Barhocker, fiel mit seiner rechten Seite auf den Boden und rollte auf den Rücken.
„Rufen sie den Notarzt!“, rief Julia zum Barkeeper.
Jetzt starb ihr der Kerl noch. In ihren Armen, in ihren Armen. Was hatte er damit gemeint?
Vermutlich hatte er sie sich nackt vorgestellt. Das Schwein! Er hatte einen Herzinfarkt und dachte an sie, wie sie sich nackt in den Armen lägen. Der Filou. Das würde sie ihm heimzahlen, auch wenn sie Mitleid hatte.
Dieses Ereignis erinnerte sie an Geschichten von Arthur Schnitzler (Auch Geschenke ihrer Tante). Doch sie wollte nicht das Opfer der Vorstellungen eines geilen, lüsternen, alten Bockes sein. Das beleidigte sie!
„Notarzt kommt in zehn Minuten“, sagte der etwas verwirrte Barkeeper. Sie stand auf und griff erst in Tiefhofs linke, dann rechte Jackettasche. Ah, da hatte sie ihn, seinen Zimmerschlüssel. Sie knöpfte ihm aber erst mal das Hemd auf. Üppiges Brusthaar hatte er und er roch nach kaltem Zigarettenqualm. Ein alter Satyr. Er atmete noch, war aber ansonsten völlig weggetreten.
Sie dachte an den Herzinfarkt ihres Vaters, als sie ein kleines Kind gewesen war, und wie ihre Mutter ihm das Hemd aufknöpfte, als er reglos im Wohnzimmer auf dem Boden gelegen hatte. Damals hatte sie Angst gehabt.
„Können Sie mir nicht helfen“, sagte Julia grob zum Barkeeper.
„Moment, ich bin selber noch völlig hilflos. Das hatte ich noch nie hier, dass einer so umgefallen ist und mit dem Tod kämpft.“
„Helfen Sie mir bei der Herzmassage.“
Der Barkeeper trat hervor und sie beide bemühten sich, ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen.
Der Notarzt trat ein und begann sogleich den am Boden liegenden Tiefhof zu versorgen, nachdem er sich kurz mit dem Barkeeper besprochen hatte. Julia würde sich jetzt rächen, und sie ging zu den Fahrstühlen.
Sie guckte auf seinen Zimmerschlüssel. Die Nummer 54. Genau. Der fünfte Stock, das vierte Zimmer. Sie fuhr doch nicht mit dem Fahrstuhl. Sie ging lieber die Treppen hoch, damit es ganz unauffällig aussah. Sie lief schneller und geriet außer Atem. Was wollte sie in seinem Zimmer? Es trieb sie dorthin. Sie wusste nicht, was sie dort machen wollte. Nur sollte er ihr so nicht davon kommen. In ihren Armen, in ihren Armen. Wie bittstellerisch. Dachte er, er gefiele ihr? Nee! Seine gelben Zähne und sein langer grauer Bart. Scheußlich! Und sein Alter. Er hätte ihr Vater sein können. Auch wenn er ein kluger Geist war. Da fiel ihr auf, dass sie vielmals in ihrem Leben auch bittstellerisch gewesen war.
Sie hatte es bis zum dritten Stock geschafft. Es kam ihr ein Mann entgegen. Sie nickte ihm zu. Vierter Stock. Sie musste sich ans Geländer lehnen. Und da war sie im Fünften. 54! Sie schloss die Türe auf, trat ein und machte sie schnell wieder zu. Es roch säuerlich und nach Rauch in dem Zimmer. Sie sah den Mülleimer. Darin lag eine Windel. Es war der Urin, der so säuerlich roch. Er hatte wohl er sein kleines Geschäft nicht mehr unter Kontrolle.
Sie ging zum Schreibtisch, auf dem eine große metallene Schatulle, die aussah, als käme sie aus den Tiefen des Meeres, und ein übervoller Aschenbecher standen. Sie ahnte, was die Schatulle enthielt. Julia hielt Ausschau nach einem Schlüssel, doch es lag keiner herum. Mit dem Fingernagel des rechten Zeigefingers glitt sie in den Schlitz zwischen Deckel und Umrahmung und versuchte die Schatulle aufzuhebeln. Ihr Fingernagel riss ein, aber der Deckel bewegte sich kein bisschen nach oben. Sie öffnete die Schreibtischschubladen, doch da lagen auch keine Schlüssel. Vielleicht würde sie in der Schublade des Nachttischchens fündig werden, und tatsächlich war ein Schlüsselbund darin. Sie begutachtete die einzelnen Schlüssel und wählte einen womöglich Passenden aus. Mit dem Ausgewählten klappte es auf Anhieb. Als sie die Schatulle öffnete, sah sie, dass auf einem großen Stapel von mit Schreibmaschine beschriebenen Seiten Papier ein Revolver lag. Julia erschrak. Die Büchse der Pandora!
Sie nahm den Revolver in die Hand, spürte den kalten Griff. In seiner Trommel waren echte Kugeln, und sie stellte sich vor, dass sie Tiefhof erschösse. Sie lächelte. Julia gelangte ins Grübeln über seine Motive. Er wollte sich doch nicht umbringen! Wieso sollte er das tun? Es sei doch sein bestes Buch. Sie las die erste Seite, die auf dem Stapel lag. „Das Manuskript“ stand drauf. Sie blätterte, ja, es waren genau 599 Seiten. Ihr kam ein teuflischer und auch so freier Gedanken, dass es sie umhaute. Wenn er nun schon fast tot war…, dann könnte sie…
Julia war in ihrem Zimmer. Den Stapel „Das Manuskript“ hatte sie hinunter in den zweiten Stock genommen. „Es ist meins, es ist meins!“, schrie sie.
Ihre Schwester sollte sich noch wundern, wozu sie abgebrühter Weise fähig war. Sie zog erst die weiße Bluse, dann den BH aus. Darauf den schwarzen Rock und die schwarzen Strumpfhosen. Nur mit einem Slip bekleidet, fing sie an, ihre Hüfte zu bewegen und ihre langen Haare zu schütteln. Ihre Hand fuhr unter den Slip und sie begann, sich unbefangen zu reiben. Sie schiss darauf, was andere über sie denken mochten. Julia wünschte sich Zuschauer, die auch masturbierten, bei ihrer Selbstbefriedigung. Aus weiterer subtiler Rache sollte auch Tiefhof zusehen, nur zusehen; nichts da mit "in ihren Armen".
Sie würde Autorin sein.
Es war ein Jahr nach ihrer „Eroberung“. Sie hatte einen Verlag für „Das Manuskript“ gefunden und das Buch war wie eine Bombe eingeschlagen. Es wurde zum Bestseller.
Von Tom Tiefhof hatte sie nichts mehr gehört. Sie vermied auch den Gedanken an ihn. Für sie war er schon definitiv gestorben und aus dem Blickfeld geraten.
An einem Apriltag bekam sie Post. Es war die Einladung zur Preisverleihung für den besten Horrorroman des Jahres. Sie wurde endlich anerkannt! Jetzt spürte sie sich und Julia hatte ein Hochgefühl.
Als sie wieder aus ihrem Dämmerzustand erwachte, war der Veranstaltungssaal voll von Zuschauern und hunderte Stimmen durchkreuzten und verbanden sich zu einem großen Rauschen.
Sie fühlte eine unbestimmte Erregung in sich und dachte an den obszönen und dionysischen Tanz, als sie von dem Buch Besitz ergriffen hatte. Das war ihre erste Geburtsstunde in ihrem erwachsenen Leben gewesen.
Der Redner der Laudatio war ihr nicht genannt worden, es sollte eine Überraschung sein.
Die Vorstellung begann. Es wurde ruhig im Saal. Jetzt sprach der Moderator des Abends. Sie wurde ungeduldig, wann rief man sie denn auf, auf das Podium zu kommen und den Preis zu empfangen? Es kribbelte in ihren Händen und eine Gänsehaut überflog ihre Unterarme. Sie musste noch die Ehrenrede abwarten. Jetzt wurde der Laudatio-Redner angekündigt und er kam aus der etwas kitschigen Kulisse. Ihre Oberlippe begann zu zittern. Das Herz rutschte in ihre Hose, aber das ging ja nicht, sie hatte ja ein Kleid an. Sie lächelte schief. Ihr Oberkörper beugte sich nach vorne und es wurde ihr schlecht. Sie könnte jetzt kotzen! Aus purem Entsetzen pinkelte sie sich voll und durch ihr Kleid wurde ihr Sitz nass. Sie hatte die Kontrolle über sich und das Buch verloren, das durchzuckte ihr Bewusstsein. Der Redner war niemand anders als Tom Tiefhof. Von den Toten auferstanden. Er sah entspannt aus, hatte seinen Bart abrasiert. Seine große Statur stand im Rampenlicht. Tiefhof erhob seine Stimme und sagte: „Das Manuskript ist die Geschichte eines brutalen, totalen und dennoch lebensrettenden Plagiats. Kunst ist ein Akt verletzter Regeln, wie ungefähr Joyce Carol Oates sagt!“ Die Stimme drang in ihr Hirn und sie wollte sie nicht hören. Tom Tiefhof sprach und sie sah ihn sprechen, hörte ihn aber nicht mehr reden. Ihr Bewusstsein oder ihr Unbewusstes schützte sie. „Das ist eine andere Realität!“, sagte sie laut zu sich. Wenn er jetzt sagte, dass das Buch eigentlich ihm zustehe, wie stände sie da? Zu Tode schämen würde sie sich. In der Praxis war eben alles anders. Oder könnte er loslassen und seine Probleme bewältigen? Wie ein verletzter Troll wollte sie sich in irgendeine Falte der Erde verkriechen. Nur nicht mehr hier sein! Ihr war schwindelig zumute. Ein Glas Wasser könnte sie jetzt vertragen.
Julia wusste, was zu tun wäre. Morgen würde sie dem Verlag mitteilen, dass nicht sie das Buch geschrieben hatte. Käme es zu einem Prozess und zu Rückzahlungsverpflichtungen? Natürlich. Dem wollte sie sich aber stellen.
Und dann würde sie einen eigenen Roman schreiben! Sich die Seele aus dem Leib schreiben, ja die Seele aus dem Leib schreiben, dachte sie. Sie war leichenblass. Tiefhof kam zu seinen letzten Sätzen: „Loben wir die Gegenwelten, die uns die Schriftsteller schenken, diese Handwerker der Sprache. Denn es gibt in der Phantasie viele Welten und viele Ichs, die diese in einer Geschichte an- und ausprobieren.“ Das Publikum applaudierte. Nun sprach der Moderator wieder. Er forderte Julia auf, von ihrem Platz aufzustehen und aufs Podium zu kommen. Ihre Knie zitterten. Schaffte sie es bis aufs Podium? Sie stand auf, mit Grauen stellte sie sich vor, wie sie Tiefhof in die Augen blicken musste, der auf dem Podium stehengeblieben war und auf sie gespannt zu warten schien. Nur nicht hysterisch werden, sagte sie sich. Sie ging aufs Podium, mehr traumwandlerisch als bewusst. Und plötzlich wurde ihr schwarz vor Augen.
Die Schwärze! Sie fiel! Die Schwärze, sie fie…l! Sie fi…e…l.
Sie stürzte auf dem Podium zu Boden, ihr Dutt löste sich und sie war bewusstlos. Ein Raunen ging durch die Menge. Tiefhof rannte zu ihr hin und hob ihren Oberkörper an.
Sie wachte im Hotel auf. Sie lag auf dem Bett. Es war mittlerweile dunkel geworden. Sie hatte immer noch das schwarze Kleid an, nur Schuhe trug sie keine mehr. Das Haar floss um ihre Schultern, und Julia starrte an die Decke. War der Notarzt ihretwegen dagewesen? Sie wusste es nicht. Sie erinnerte sich nur, dass die Dunkelheit sie gnädig umfangen hatte. Was für ein schrecklicher Abend! Und es sollte eigentlich ihre zweite Geburtsstunde sein, der einer großen Schriftstellerin.
Auf dem Beistelltischchen lag ein Exemplar von „Das Manuskript.“ Hat er mein Geheimnis verraten, fragte sie sich. Sie nahm das Buch von dem Tisch und sah es genau an. Da stand es: Julia Manosch Das Manuskript. Sie blätterte zur ersten Seite und las die ersten beiden Sätze. „Ich wusste nicht, dass es mein letztes Buch sein würde. Das Buch hatte einen mysteriösen eigenen Willen.“ Sie sah Tiefhof vor sich, wie er langsam mit dem Kopf in ihren Schoß fiel und sie empfand zum ersten Mal Schuldgefühle.
Auf einmal blätterte sich das Buch von selbst um. Seite für Seite. Und die Buchstaben traten plastisch hervor, lösten sich vom Buch, sodass nur eine leere Stelle an deren Stelle trat, entwanden sich und wurden zu langen Messern mit scharfen, breiten und spitzen Klingen. Sie schauderte. Die Messer flogen auf sie zu. Stachen in ihre Augen, aus denen Blut und Glibber sogleich quoll. Zerschnitten ihre Brust. Durchbohrten ihre Hände und Füße. Ein Messer schnitt ihr den rechten Daumen ab. Sie schrie, wie sie noch nie geschrien hatte. Die Messer drangen in ihre Oberschenkel. Überall Blut. Sie versank in unendlicher Qual und gelangte an die Grenzen des Schmerzes. Das Buch vergewaltigte sie mit tausenden aus Buchstaben gewordenen Messern. Es war nun von Buchstaben leer, alles Messer. Das Buch rächte sich. Tiefhof rächte sich. Sein Mr. Hyde rächte sich. Und sie hörte Tiefhofs befreites Lachen, während ihr Körper grausam zerschnitten und zerstört wurde. Sie stemmte sich gegen ihr Schicksal und zog ein Messer heraus, das aus ihrer Brust ragte. Da fuhr ihr ein Messer in den halbgeöffneten Mund und durchstach ihren Rachen. Blut strömte aus dem Mund. Sie röchelte, versank im Todeskampf.
II.
An ihren Extremitäten erkannte sie Schnittwunden.
Der Traum, den ich diese Nacht hatte und der mir bis ins kleinste Detail im Bewusstsein verblieb, und das Buch sind dafür verantwortlich, dass ich diese Wundmale habe, dachte sie. Sie empfand Ekel. Julia hatte ihren schwarzen Kaffee ausgetrunken und saß frühmorgens am Küchentisch in ihrer Wohnung. Sie überlegte, was der Traum ihr wohl sagen wollte. Vielleicht war sie tatsächlich nur ein Stellvertreter-Mensch, eine Verliererin, eine lebende Tote, die brutal bestraft werden würde, wenn sie versuchte, etwas anderes zu sein. Darüber wollte sie später noch etwas nachdenken. Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer, um die Bettdecke auszuschütteln. Auf dem Nachttisch lag das Buch „Das Manuskript“ von Tom Tiefhof. Darauf lag ein blutverschmiertes Küchenmesser. Sie bemerkte all die Blutflecke auf ihrem Bett. Sie hatte sich in der Nacht selbst geschnitten.
III.
Tiefhof saß in seinem grünen Ohrensessel im Dunkeln und sann über den Traum nach, den er diese Nacht hatte. In ihm sah er sich aus einer anderen Perspektive. Er hatte den Traum einer Figur geträumt, die aus seinen Romanen hätte stammen können, und in welchem sich das Thema seines neusten Buchs spiegelte. Auf dem Beistelltischchen lag ein Exemplar von „Das Manuskript“. Darauf lag ein geladener Revolver. Im Traum hatte er eine Stellvertreterin, die die Bürde des „bösen Buchs“ statt seiner trug.
Er hatte es in die Welt gesetzt und das bereute er. Er wünschte sich die Stellvertreterin in der Realität. Er würde kein besseres Buch mehr veröffentlichen und das würde ihn beim Schreiben in Zukunft behindern. Eine nochmalige Blockade wollte er nicht wieder erleben. Es war sein Ende. Er hatte die Miene eines sterbenden Buddhas. Ohne Furcht vor dem Nichts zu haben, nahm er den Revolver in die linke Hand, steckte den Lauf in seinen Mund und drückte ab. Sein Körper fiel vornüber und am Ohrensessel war ein mittelgroßer Blutfleck gemischt mit Spuren seines Gehirns.