Dialog mit einem Engel
Das letzte Mal hatte er an Weihnachten vor sieben Jahren vor dem Schaufenster des kleinen Kaufhauses gestanden. Die Auslage war aktuell geschmückt mit großen, dünnen, weißen Engeln mit goldenen Flügeln, aber ohne Gesicht. Hier hatte er sie ein Jahr vorher erstmals getroffen. Genau wie er, bewunderte sie damals die geschmackvolle Dekoration. Sie drehte sich lächelnd zu ihm um und sagte, dass sie eigentlich genügend Weihnachtsschmuck hätte und trotzdem zu jedem Fest etwas dazu kaufen würde. Über seine kitschige Antwort „Einen Engel für einen Engel“ amüsierte sie sich noch längere Zeit danach. Warum nur hatte er heute einen solchen sentimentalen Anfall, dass er sogar hierher fuhr? Noch ganz in Gedanken, ob er sich einen dieser ausdruckslosen Engel kaufen sollte, verspürte er hinter seinem Rücken etwas Rätselhaftes. Er erinnerte sich, dass sie es immer als Aura bezeichnet hatte. Er drehte sich instinktiv um und blickte geradewegs in ihre himmelblauen Augen.
„Hallo, junger Mann mit grauen Schläfen.“
„Mein Gott, Helen! Ich dachte schon, er hätte Dich für immer weggesperrt.“
„Was ist denn, Carlo? Zählst Du meine Falten?“
„Ich bin nur sprachlos, nein, überwältigt, wie unverändert schön Du aussiehst.“
„Na ja, ich werde bald Großmutter.“
„Du wirst die erotischste Großmutter auf diesem Planeten sein.“
„Du übertreibst. Erzähl’ mir lieber von Dir.“
„Ich versuche gerade, meine große Liebe zu entführen, um sie ungestört umarmen zu können.“
„Es ist so lange her und ich bin ruhiger geworden.“
„Nein, Du bist angespannt bis in die Haarspitzen und Dein Gesicht glüht.“
„Oh, wie peinlich, die halbe Stadt kennt mich, seit er Bürgermeister wurde.“
„Kennt er Dich auch?“
„Er wird mich umbringen.“
„Das wolltest Du selbst tun.“
„Weil Du mich verrückt gemacht hast.“
„Wer hat Dir das eingeredet? Dein Herz und Deine Seele waren zu mir gerückt. Wir waren Eins und hätten alles geschafft, für immer.“
„Der Altersunterschied bleibt - für immer.“
„Rede Dir nichts ein. Es war alles vollkommen und einzigartig, in jeder Beziehung. Jede Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, denke ich daran, wie meine Hände Deinen Körper berühren, an diesen gewissen Stellen, auf diese besondere Weise.“
„Du machst es Dir zu einfach.“
„Wieso, nur weil ich in einem anderen Jahrzehnt geboren bin als Du, kann ich nicht klar denken, planen, für Dich sorgen?“
„Hör’ auf damit, Carlo, ich habe während der Therapie genug gelitten.“
„Hilft das zu vergessen? Erlebnisse, Orte, Gerüche einer Liebe - einfach so vergessen?“
„Nein Carlo, aber man lernt dabei schöne Dinge in seinem Herzen zu bewahren, ohne dass man vor Sehnsucht danach sterben möchte.“
„Bitte, Helen, lass’ uns zusammen sein, auch wenn es nur noch ein einziges Mal sein sollte.“
„Vielleicht, Carlo, vielleicht.“