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Diagnosen

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11.10.2016
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Diagnosen

Mein Name ist Sarah Werner. Ich bin 26 Jahre alt und verbrachte die meisten Jahre meines Lebens in Heimen. In das erste Heim kam ich, als ich gerade neun Jahre alt wurde.
Zu früh?
Nein, es war viel zu spät.

Ich habe eine psychische Besonderheit, meine Umwelt leidet darunter. Autismus ist die Diagnose, die ich bekam, als ich zehn Jahre alt war. Diese Diagnose sollte anderen helfen, mich besser zu verstehen. Vielleicht ist diese und auch die Diagnose im Allgemeinen, nur eine Art der Ausrede. Eine Ausrede dafür, dass Menschen keine Ahnung haben, warum Menschen sich ungleich entwickeln und deshalb erhalten und stellen sie Diagnosen. Damit haben wir oder sie dann eine Erklärung. Eine Erklärung dafür, dass sich Menschen, ihren Besonderheiten gemäß, verhalten. Menschen verhalten sich, Punkt. Diagnosen sind Ausreden und gleichzeitig ein Verschiebewerkzeug. Es werden damit Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten verschoben. Meistens geht es um Finanzen: Autismus bringt halt mehr Geld als die Diagnose Downsyndrom. Manchmal geht es auch um die Würde des Einzelnen. Die unantastbare Würde! Eine Idee, die nach dem zweiten Weltkrieg entstand und im deutschen Grundgesetz als Artikel 1 sich textlich breit macht, von staatlicher Gewalt sei dieselbe zu achten und zu schützen. Natürlich ist das alles eine Frage der Sichtweise. Die muss ja auch keiner teilen mit mir, diese Sichtweise. Die Wirklichkeit ist eine Interpretation des jeweilig Wahrnehmenden.

Später, mit elf Jahren, bekam ich dann die Diagnose Schizophrenie hinzu. Die Zuständigen sind immer ganz erpicht darauf, etwas zu klassifizieren. Das ICD-System hilft! Klassifizierungen geben den Anschein von Redlichkeit und von Wissenschaft. Das lange Studium der Medizin scheint sich gelohnt zu haben und es schafft ja auch Wissen: Wissen, welches nicht über den eigenen Tellerrand hinaus Bestand hat. Die löffeln alle ihre eigenen Suppen und achten darauf, dass sich in der eigenen Suppe immer genug Einlage befindet. Da rühren die dann alle um und überlegen sich noch mehr Schubladen für die Menschen. Ich meine, es ist doch deutlich, eine Gesellschaft, dessen Bruttoinlandsprodukt steigt, weil Mitglieder der Gesellschaft krank sind und nach Heilung suchen, das ist doch deutlich deutlich deutlich, dass an so einem System etwas nicht stimmen kann.


Ich habe ein anderes als das genormte, zu erwartende Verhaltensrepertoire: Ich ecke oft an, bin laut, ruppig, stark und unbestimmt im emotionalen Ausdruck. Auch sehr wechselhaft im selben und gerate dadurch in Schwierigkeiten und Konfrontationen. Zum Teil weil mein direktes soziales aber auch das gesellschaftliche, strukturelle Umfeld von mir ein anderes Verhalten erwartet und verlangt, als es meiner Besonderheit entspricht. Wenn es nach mir ginge, würde ich täglich auf Hochtour fahren, emotional einen Meter über den Boden, denn: Der Boden tut weh. Das Schweben allerdings auch, doch den beim Schweben entstehenden Schmerz, bringe ich mir durch beißen, kneifen und schlagen selber bei. Stehe ich auf dem Boden, dann ist es anders, der dabei entstehende Schmerz ist ein anderer, weltlicher. Er ist der Terror in meinem Leben, das geschlossene Labyrinth meiner Erfahrungen im Vergangenen, mein inneres Zuhause seit vielen Jahren, ohne Ausgang…in Tiefen verschlungen…Heilige Abbilder der Pein und des Schmerzes und der Lust…

Keine Ausgänge? Natürlich gibt es Ausgänge!

Unter was ich wirklich leide, sind meine Erfahrungen in meiner Primärfamilie. Ich meine, dass ist so trocken und ausgewrungen, diese Rede vom Elternhaus, alle Gestörten geben den Eltern die Schuld. Scheint ja auch clever und alternativlos, denn dann braucht man sich nicht mit seinen eigenen Verantwortlichkeiten herumschlagen. Doch liegt meiner Erfahrung nach, dort ein Anfang. Dort, wo man die ersten weltlichen Erfahrungen der momentanen menschlichen Existenz macht und die bleiben uns dann für dieses körperliche Leben und manifestieren sich in uns als Themen, die wir vielleicht schon sehr lange bearbeiten, weil unsere Seelen ja unbedingt Erfahrungen machen wollen. Weil das Licht irgendwo zu sehen ist, wir uns aber einfach in diesen lausigen Körpern nicht daran erinnern können, wo das denn nun ist, dieses Licht und so „kristallisieren“ sich diese Themen zu Diamanten oder zu…ja, das kann man so sagen, zu Kopfsteinpflaster!

Kein Mensch, oder besser, die wenigsten Menschen wissen, wie lange sie schon mit diesen Themen durch die Leben wandern. Ich bekomme langsam eine Ahnung von meinem Thema und vom zeitlichen Ausmaß der Arbeit am selben. Trotz all diesem theoretischen Wissen oder Ahnen, der Schmerz ist oft einfach zu groß. Da gibt es nur Stillstand, negative Erdverbundenheit und meine Wunden halten mich in der Gegenwart an der Vergangenheit fest. Der Schmerz ist mächtig! Hass, Angst und dunkle Verzweiflung überschatten mich oft und ich flüchte in andere Zustände. Elterliche Liebe kann man nicht kaufen, nicht mit einem Euro und auch nicht mit einer Million, genauso wenig kann man sie erzwingen. Pustekuchen!

Wo wir gerade beim Thema parentaler Liebe und damit auch bei Zuneigung und Zuwendung sind:

Ich bin 1990 geboren, meine Mutter wurde am Tage meiner Geburt gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht, um mich in die Welt zu entlassen. Sie hatte 2,85‰ Alkohol im Blut. Sie trank zu dieser Zeit oft und gerne mit dem Mann, den ich als meinen Vater ausmachen konnte. Ein finsterer Geselle, der immer schrie und drohend sein Revier absteckte. Er schlug mich nie, schützte mich aber auch nicht. Sie, also meine Mutter, erzählte mal ganz stolz, die Ärzte hätten nichts von ihrem Alkoholwert in ihrem Verhalten bemerkt. Das war eine Leistung. Eine Leistung, die sie bringen konnte, andere nicht. Darüber baute meine Mutter ihre Art des Selbstwerts auf.

Vor einigen Jahren, hörte ich von einer Theorie, die da lautet:

Wir selbst suchen uns unsere Familien aus!

Nun ja, ich bin mir nicht sicher, warum ich mir diese Eltern und diese Geschwister aussuchte. Autismus, Schizophrenie und Spiritualität. Mein Verlangen oder Hunger nach Transzendenz begann auf 90X190CM in einer räumlichen Abmessung von 250X230CM. Die für mich wichtige Bedeutung meiner Art der Transzendenz aber, wurde mir erst im Alter der Adoleszenz bewusst. In dieser Phase gab es im Wohnheim eine Frau, keine Ärztin, eine Erzieherin glaube ich, die mir etwas beibrachte. Wenn ich hochfuhr und auf dem Weg war, mich zu verlieren, hielt sie mich an, zu meditieren und zu malen und sie gab mir Befehle, sie sprach im ständigen Imperativ zu mir, denn sie wusste so viel besser als ich, was für mich gut war. Ich liebe sie noch heute dafür. Mein Wortschatz zu dieser Zeit war dürftig, also den Umständen entsprechend meiner familiären Sozialisation und ich lernte durch diese Frau viele spannende Wörter und immer mehr auch, mich ihren Geschichten, die sie mir erzählte, hinzugeben. Es waren Worte, wie: Struktur, Meditation, Schwellenbrand, Stress, positive Grundeinstellung…ach, das sind zwei Worte, aber ist auch egal, soll nur als Einblick dienen.

Nun aber zurück, ich schweife wieder ab, das Wesentliche wartet schon in den hinteren Räumen meines Gedächtnisses.

Meine Erinnerungen beginnen mit meinem vierten Geburtstag. Menschliche Erinnerungen im Allgemeinen scheinen einer äußerst fragilen und wandelbaren Natur unterworfen. Ich glaube nicht, dass das rinnerungsvermögen eines Eichhörnchens ähnlich trügerisch ist. An meinen vierten Geburtstag jedoch, kann ich mich sehr gut entsinnen, trotz der reichlich fragilen Natur:

Ich bekam eine Matratze und einen Fernseher geschenkt. Dies beides wurde mir in eine kleine Kammer gelegt und gestellt, der Fernseher angeschlossen, dazu bekam ich einen Karton Cornflakes, eine Schüssel und einen Liter Milch sowie einen Löffel mit in die Kammer. Der Zehnlitereimer und eine Wolldecke rundeten die Einrichtung meines Reiches ab und dann, na ja, „Herzlichen Glückwunsch!“, Fernseher an und die Tür wurde abgeschlossen.

Ich war also gerade vier Jahre alt geworden und hatte schon mein eigenes Zimmer. Jedoch keinen Schlüssel und keine Macht, es mir zu Eigen zu machen. Am Anfang schrie ich oft und wollte auf mich aufmerksam machen, dass ließ ich schnell bleiben, denn die Aufmerksamkeit tat weh. Meistens kam die Aufmerksamkeit von meinem Bruder oder, wenn sie in der Lage war zu gehen, von meiner Mutter. Manchmal kam auch ein betrunkener Freund der Familie sich die Kleine ansehen, um diese, mit seiner scheinbar zeitlich uneingeschränkten Aufmerksamkeit, zu überschütten. Gelegentlich kamen sie auch zu zweit oder zu dritt.

Zum Thema Erinnerungen und Verdrängung fällt mir noch ein, dass ich schon vor meinem vierten Geburtstag irgendwo auf einer Matratze gelebt haben muss, da ich erst richtig laufen lernte, als ich bereits ein Jahr im Heim war, mit zehn. Es entwickelte sich bei mir ein Chaplin-Gang, eine Art Watscheln mit stark nach außen zeigenden Fußspitzen, wie es der Tramp in den schwarz/weiß Filmen von Charles Chaplin tat. Der Tramp hantiert in den Filmen immer mit einem Spazierstock. Diese Bewegungen entwickelte ich auch, ohne Stock, nur mit meinen Händen. Die Entfaltung meines Daseins unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, haben meine Eltern ja doch einen gewissen Humor an den Tag gelegt, wohl unbeabsichtigt.

Was weniger witzig war und so überhaupt keinen Humor in sich trug, waren die Zeiten der Leerung des Eimers. Das war die Aufgabe meines zehn Jahre älteren Bruders. Diese Aufgabe versah er mit einem Verfahren, welches er in den etwa viereinhalb Jahren meines dortigen Aufenthaltes perfektionierte. Da er den Eimer leeren musste, sah er mich in einer Art Schuld, er wollte eine Gegenleistung. Diese Gegenleistung war dann dergestalt…

Während er sich forschend ausprobierte, entwickelte ich fünfzehn verschiedene Persönlichkeitsmuster.

Eines dieser Muster schreibt gerade diesen Text. Wenn ich in diesem Muster stecke, bin ich intellektuell sehr gut lernfähig und habe diese tiefe, gierige Leidenschaft, mir Wissen anzueignen. In den vierzehn anderen Mustern, kann ich nicht schreiben. Sprechen kann ich nur in drei meiner Muster. An die anderen Muster mich erinnern, kann ich in einem, dem Intellektuellen. Ein interessantes Muster sei noch erwähnt:

Diese Persönlichkeitsstruktur ist eine mathematisch gefärbte. Ich kann nur Zahlen und mathematische Begriffe benutzen und aussprechen. Ich erkenne Abstände auf den Millimeter genau. Ich laufe eine Strecke und kann danach sagen, wie viel Millimeter ich gelaufen bin und grinse dabei blöd. Es stimmt immer! Die Abstände zwischen an der Wand hängenden Bildern oder beim Blick auf eine Landkarte. Die von mir genannten Abstände sind stets korrekt, auf Karten maßstabsgetreu, ohne dass ich den Maßstab kenne oder überhaupt wüsste, was ein Maßstab ist. Damit hatte ich auch mal im Fernsehen einen Auftritt, vielleicht haben sie mich gesehen? Allerdings sind die vom Fernsehen dumm. Die wollten irgendetwas Schräges von mir, hatten so eine Erwartungshaltung, ich würde denen gleich eine neue Art des Kopfstandes zeigen und setzten Aussagen in falsche Kontexte. Billig, aber halt von vielen Konsumenten so gewünscht, angeblich, vielleicht haben sie ja auch zugesehen?

 

Hej strandgigant,

ich find den Einstieg ungünstig, auch wenn ich davon ausgehe, dass hier eine 26jährige Frau mit "psychischen Besonderheiten" spricht. Diese Frage an ein imaginäres Publikum wirkt auf mich wenig autistisch, ebenso wie diese Selbstzweifel. Die führen für mich eher aus dem Text hinaus, ohne dass die Widersprüche der Figur deswegen deutlicher werden.

Autismus bringt halt mehr Geld als die Diagnose Downsyndrom.
Keine Ahnung ob es sich so verhält. Aber ich hätte gedacht, dass die Diagnose "Down-Syndrom" relativ eindeutig ist, während es bei Autismus Abstufungen und damit viel größere Hindernisse bei der Diagnose-Stellung gibt.
Insofern versteh ich den Vergleich nicht.
Insgesamt ein Absatz, bei dem ich nicht weiß, was er mir vermitteln soll.

Ich leide nicht direkt,
Hm. Sagen die vorangegangenen Worte nicht etwas anderes? Leidet diese Figur denn nicht unter einem inhumanen, grob strukturierten Klassifizierungssystem des Gesundheitswesens?

Heilige Abbilder der Pein und des Schmerzes und der Lust…mal ehrlich, kann man das so schreiben?
Es hat jedenfalls eine diffuse Wirkung, in Kombination mit Beißen, Kneifen und Schlagen. Ich seh nicht den Anlass, das so euphemistisch zu beschreiben, weder an dieser Textstelle, noch im Konzept des gesamten Textes, wie ich es verstehe (vielleicht ja auch vollkommen falsch).

Unter was ich wirklich leide, sind meine Erfahrungen in meiner Primärfamilie.
Ich find das tatsächlich ausgewrungen, als die Schuldfrage auftaucht. Weil das für die Geschichte nirgendwohin führt, weil ich ab hier weiß, wo es lang geht.

Kann man das so schreiben?
Hier fängt diese ständige Wiederholung an mich etwas zu nerven. Zumal sie nicht beschreibt, sondern nur andeutet.

Ich finde es sehr ehrenwert zu versuchen, eine psychisch belastetet Figur zu zeigen und erzählen zu lassen. Deren Geschichte wirkt auf mich dann aber zu plakativ, die Darstellung der psychischen Probleme irgendwie an den Rand geschoben und geschönt.

Ich find da leider nicht hinein.

Gruß
Ane

 

Hi Ane!

Danke für Deinen Kommentar und die Zeit, die Du Dir dafür genommen hast. Ich werde später ausführlicher Antworten.
Besten Gruß.
DA

 

Hallo Ane,

der Einstieg: passt für mich auch nicht mehr, weil die ganze Figur nicht mehr passt, ich habe einiges durcheinander gewürfelt. Ich kenne ja das reale Vorbild für diese Protagonistin (welches sich übrigens immer mit ihrem vollständigen Namen vorstellt und gesagtes ständig selbst wiederholt und auch ihr Gegenüber auffordert, dies zu wiederholen), habe sie jedoch zu frei interpretiert und wohl mit zu viel Persönlichem (hier die Gesellschaftskritik) übermalt.

Diagnosen sind in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen schon ein Geldfaktor, das ist so. Allerdings passt der Vergleich mit dem Downsyndrom auch nur spärlich, weil es völlig unterschiedliche Besonderheiten sind, obwohl, es sollte ja auch nur eine Metapher sein, für die strategische Willkür der Diagnosestellenden, achja, und da passt der Vergleich nicht besonders, da das Downsyndrom eben doch ziemlich klar definiert werden kann...oh,mann.

Ich finde mittlerweile, dass es diese Person so nicht geben kann, würde mich allerdings gerne von anderen Lesenden umstimmen lassen, wenn diese in der Geschichte etwas anderes finden.
Die Autisten, die ich kenne, interessieren sich nicht für Gesellschaftskritik, sind reduziert emphatisch, wollen eher zurückgezogen sein und sich, so glaube ich, auch nicht mit ihrer (dramatischen) Vergangenheit auseinander setzen.

Danke nochmal für Deinen Kommentar. Komme darauf zurück.

DA

 

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