Dezembernacht
„Manchmal ist es fast so, als wären wir noch am Leben, nicht war Hank?“- Murph klang ein wenig nachdenklich an diesem Tag, beinah, als würde er bereuen, dass sie beide gestorben waren.
Die ersten warmen Sonnenstrahlen schienen wie glänzende Fäden durch die jungen Blätter der Bäume am Rande der Allee. Hank und Murph saßen auf einer Bank in der Nähe des nahegelegen Parks und beobachteten Spaziergänger, eilende Aktentaschen, den Schatten der flatternden Blätter auf dem Gehweg.
„Nicht wahr, Hank?“, wiederholte Murph noch einmal. Hank kannte diese Nachdenklichkeit in Murphs Augen, die von Zeit zu Zeit aufkam. Es war nicht gut, wenn Murph so viel über das Leben, pardon, den Tod nachdachte. Hank hatte ihm oft erklärt, dass dies alles nur ein Spiel sei. Das sie nur spielen, sie würden nicht mehr leben. Er wollte, Murph würde ihm glauben. Jedoch, wenn er Murphs Augen an Tagen wie diesem sah, die banne Hoffnung spürte, er war nicht sicher, ob er noch mitspielte.
„Wir müssen gehen!“, Hank wollte der Situation ausweichen. Nicht heute würde er mit Murph darüber sprechen wollen, wie es sei zu leben. Also gingen sie. Die Allee hinab, durch den Park, so wie sie es jeden Tag taten. Murph stellte keine weiteren Fragen mehr. Und so gingen sie Seite an Seite bis zu einem See, der an die Villensiedlung grenzte. Sie setzten sich auf einen alten Baumstumpf und fütterten die Enten mit Brotresten. Selbst durften sie es nicht essen, hatte Hank erklärt, schließlich waren sie tot. Und Tote essen nicht. Aber die Wärme der Sonne konnten sie auf ihrer Haut spüren. „Wenn wir die Wärme spüren, vielleicht heißt das, wir leben noch? Das wäre doch möglich Hank?“ Murph hatte diese Frage oft gestellt, Hank ihn meist in der Hoffnung gelassen. Heute blieb sie aus.
So saßen sie da bis zum Abend. Tote haben nicht viel zu tun, dachte Hank ein wenig sarkastisch. Er hütete sich davor, solche Gedanken auszusprechen. Murphs Reaktion wäre nicht abzuschätzen. Hinter den Bäumen verschwand die Sonne, und es wurde spürbar kühler. Hank und Murphs alte Mäntel, die voller Löcher waren, die kaputten Schuhe, die zerrissenen Hemden, sie waren kein guter Schutz gegen die Kälte.
„Hank, mir ist kalt. Ich habe Angst, ich erfriere!“, Murph schrie beinah wie in großer Panik und klammerte sich an Hank, der doch das gleiche Schicksal teilte. Er beruhigte ihn, sie würden ein Feuer machen um sich aufzuwärmen, wenn die Nacht hereinbricht.
Oft war es für Hank nicht leicht, sich um Murph zu kümmern, ihn zu beschützen, eine Schlafstätte zu finden, und dabei alles so aussehen zu lassen, als sei es ein Spiel. Murph hatte schreckliche Angst in der Nacht. Er fühle sich so einsam in der Dunkelheit, wimmerte er. Hank versuchte ihn so gut als möglich vor Gefahren zu bewahren. Immer hatte er sich für ihn verantwortlich gefühlt.
Auch Hank mochte die Nacht nicht, doch er ließ es Murph nicht spüren. Und so saßen sie am Feuer und warteten auf den Morgen, so wie sie es immer taten. Schlafen durften sie nicht, schließlich waren sie tot. Und Tote schlafen nicht. Oder eigentlich doch, die ganze Zeit, dachte Hank. Für Murph jedoch musste er es so aussehen lassen, als ob sie wach waren. Schließlich sollte er den Glauben an das Spiel nicht verlieren.
Irgendwann kam dann immer der nächste Morgen, so dass Hank und Murph wieder zurück in die Stadt gingen, um sich die Lebenden anzusehen. Oft hatte Murph gebettelt, doch mal kurz mit einem von ihnen sprechen zu dürfen. Aber das ging nicht. Schließlich waren sie tot. Und Tote dürfen nicht mit Lebenden sprechen. Das waren die Regeln des Spiels. Murph kannte sie. Und Hank wusste, wie schwer es für ihn war, diese Regel zu befolgen.
So gingen Tage und Wochen dahin. Ziellos liefen sie durch die Stadt, den Park, fürchteten sich vor der Nacht, warteten auf den Morgen.
Doch je mehr Zeit verging, desto unerträglicher wurde die Situation für Hank. Murphs Angst nahm von Tag zu Tag zu, die Nächte wurden kälter. In jeder Nacht fror Murph mehr. Hank hatte ihm seinen Mantel gegeben, so dass er selbst keinen Schutz gegen die Kälte hatte, doch Murph wurde immer schwächer.
„Hank, ich erfriere!“, wiederholte Murph immer wieder. Aber dass konnte nicht sein. Schließlich waren beide schon tot. Schließlich war alles ein Spiel. Hank wollte Murph kein weiteres Mal in seinen Händen sterben sehen.
Und doch, wenn dies geschieht, dann würde er ihm diesmal folgen, das Spiel beenden. Hank war sich dessen sicher. In dieser eiskalten Dezembernacht.