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Deutung
Deutung
Es war einmal eine bedeutende Stadt: Ihre Straßen führten an bedeutenden Häusern
vorbei. Auch die Gassen waren so bedeutend, dass die Nachtwächter sich an die Laternen fesselten, um den Spaziergängern zu zeigen wie schön die Häuser waren.
Viele Leute hatten einen wichtigen Posten im Rat der Stadt. Unter allen niederen Beamten waren wenige mit allen Befugnissen. Trotzdem sie so wichtig und bedeutsam waren, kannten selbst sie nicht die hohen Herren. Das waren die höheren Beamten, die wirklichen Meister des Rates. Auf vielen Bildern zeigten sie ihre geschmückten Roben und Hüte. Ihre Augen schlossen sich niemals auf den Bildern. In der Tat schienen sie bedeutsame Entscheidungen zu treffen. Man traf sie niemals persönlich. Das Bureau eines Meisters war nur von ihm selbst zu betreten, es gab kaum Ausnahmen. Gesetze und Regeln gab es nicht.
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Eduard war ein Schreiber. Es war seine dringlichste Aufgabe, wichtige Briefe der bedeutenden Meister zu verfassen. Sie sprachen ihre Mitteilungen immer in einen Parlographen. Dann kam ein Bote. Er hatte verbundene Augen, denn das Antlitz eines Meisters des Rates konnte niemand ertragen. Und der Glanz fuhr sogar durch die Augenbinde in die Köpfe der Boten. So waren unter den Augenbinden weitere Schichten von Tüchern.
Der Bote nahm die Aufzeichnung des Meisters schweigend an sich. Dieser nahm seine Hand und führte den Boten zur Tür hinaus. Voller Ehrfurcht gab er den Umschlag an einen der Diener weiter.
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Der Diener spürte großes Gewicht und tiefe Bedeutung in dem Umschlag, den er durch die Flure des Palastes trug. „Wie ein Kaiser“, murmelte er leise, während seine Schritte eilig und groß wurden. Ein solches Gewicht hatte er lang nicht mehr getragen. Gewiß mußte es eine unheimliche Nachricht sein, die in den Parlographen gesprochen wurde.
Mit Tränen in den Augen verabschiedete sich der Diener von dem Meisterwerk, denn die zitternden Hände des Schreibers Eduard nahmen den Umschlag an sich. Schnell lief der Diener in eine Ecke und weinte.
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Eduard ging in seine Schreibstube. Über dem Schreibtisch hing ein Gemälde eines Meisters.
„Habt Ihr in den Parlographen gesprochen ?“ fragte er demütig.
Das Gesicht des Meisters ragte über den Rand des Bildes hinaus in die Ferne des Palastes.
„So herrschen die Meister gewiß schon über die Welt. Ein Narr, wer es nicht glauben will !“
Eduard öffnete vorsichtig den Umschlag. Dann spielte er die Aufnahme ab.
Leise und laute Töne tanzten in seine Ohren. Eine sanfte Melodie voller Größe verteilte sich im ganzen Palast. „Diese Stimme zeigt den Meister“, flüsterte Eduard, um die Macht gänzlich hören zu können. Er notierte alles in ein Oktavheft und rief dann einen Diener.
Schließlich übergab Eduard dem Diener das Oktavheft, der es in die Posthalle brachte.
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Das Oktavheft glänzte noch in einem weißen Licht, während die demütigen Hände des Dieners es in die Hände des Postmannes legten.
Sofort rief er alle Angestellten zusammen. Jeder von ihnen bearbeitete genau ein Wort von dem, was geschrieben war. Ein einzelner Mensch konnte zwar die Stimme des Meisters ertragen, aber dessen Worte aufgeschrieben würden des Glanzes Krone sein. Das Ende wäre dann nicht aufzuhalten. So setzten sie mit den Schreibmaschinen den Brief zusammen.
Zuletzt falteten sie ihn alle gemeinsam und legten ihn in einen Umschlag. Dann beteten sie gemeinsam und legten sich schlafen.
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In dieser bedeutsamen Gegend erhielt ein Mann namens Richard Kurz diesen Brief. Er nahm den goldenen, bedeutsamen Brieföffner und fuhr in bedeutenden Gesten durch den Spalt des verzierten Umschlags.
Die Nachricht des Briefes war so unbedeutend, dass Richard Kurz sich vergaß. Er stürzte sich in ein bedeutendes Weinen, das die Nachtwächter auf den Straßen vernahmen. Sie rissen sich von den Laternen los und heulten wie Wölfe auf. Die Gassen fielen in einen tiefen Schatten, die Spaziergänger schrien bedeutsam auf. Man warf Steine auf die Laternen und an die Häuser.
In einem bedeutsamen Getöse fiel die Stadt in sich zusammen.
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„Ein bescheidenerer Richard Kurz hätte sich leis und heimlich in den Brieföffner gestürzt“, sagte eine der Frauen, welche die goldenen Trümmer in ihren Röcken versteckten.
„Wir hingegen, die wir in einer noch bescheideneren Gegend hausen, lesen den Brief und finden vieles darin wichtig, bedeutend. Bedeutungslos aber ist auch dieses Wissen“, sagte einer der Spaziergänger. Er konnte sich retten.
„Jemand sagte einmal, gleichzeitiges Verstehen und Fehldeuten einer Sache schließen sich nicht aus“, sprach einer der Nachtwächter.
Dabei hob er die Hand. Er wollte durch das helle Licht der Zerstörung nicht geblendet werden.