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Deutscher Montag 3 - Das Volk
Auch ich bin dabei. Einer hat mir ein Schild in die Hand gedrückt, ich sollte es nur kurz halten, doch streckte ich es empor, er hat es nicht wieder zurückverlangt. Ich habe nicht einmal gelesen, welcher Unsinn darauf geschrieben steht. Ich halte das breite Schild, an eine kurze Latte geheftet, hoch, ganz hoch, eine ungewohnte Belastung für meine dünnen Arme. Schon nach kurzer Zeit spürte ich die Anstrengung wie ein Stechen, doch strecke ich sie noch immer so hoch ich kann, ich leide und in diesem Leiden liegt ein Genuß.
Den Montagnachmittag verbringe ich meist mit der Lektüre von Fachliteratur. Heute bin ich nach dem Mittagessen nicht in die Bibliothek zurückgekehrt, habe auch mein Dienstzimmer nicht wieder aufgesucht, sondern bin in den Park gegangen, in den Johannapark unweit des Instituts. Vielleicht hatte ich vorgehabt, mich auf eine Bank zu setzen, nachzudenken, es hielt mich nicht lange dort, ich mußte weiter.
Neben mir schiebt eine Frau einen Kinderwagen, sie ist noch sehr jung, sie lächelt mich an, ich versuche, das Lächeln zu erwidern, doch fühle ich mich ertappt, mein Blick gleitet von ihrem Gesicht auf ihren üppigen Busen, eine heiße Wallung steigt in mir auf, ich stoße mir den Fuß an einer kleinen Unebenheit und stürze. Man hilft mir auf, ich sage, wie ungeschickt von mir, nein danke, es geht schon, und marschiere weiter.
Im Park fand ich keine Ruhe. Ich ging ziellos umher, suchte schließlich Schatten unter den Bäumen, bis ich plötzlich vor der Lutherkirche stand, es war nicht meine Absicht gewesen, dorthin zu gehen. Es hatte sich zufällig so ergeben, es war ein Unfall, ein Versehen. Und dann ging ich hinein. Ich erinnerte mich, daß ich irgendwann früher einmal hier gewesen sein mußte, in meiner Kindheit. Vieles mußte sich seither verändert haben, die Fenster in jedem Fall, ich wußte nicht, was noch.
Ich betrachtete diese Fenster, dachte, man soll öfters in Kirchen gehen, es ist ruhig und kühl dort, die Luft ist anders, man ist von der Welt draußen abgeschnitten.
Doch die Welt draußen, der ich entkommen war, schuf Raum in meinen Gedanken für die Welt innen. Ich setzte mich in eine der hinteren Reihen, Gedanken strömten ungehemmt, wieder zu verschwinden wäre zu anstrengend gewesen.
Als ich da in der Kirche saß, war ich diesem Sturzbach von Gedanken wehrlos ausgeliefert, doch dann geschah etwas, die Sturmflut der Gedanken, in der ich glaubte, ertrinken zu müssen, ließ langsam nach, wurde ruhiger, noch konnte ich sie nicht kontrollieren, ich dachte zurück und nach vorne, an meine Kindheit und die letzten Jahre, an meine Überzeugungen, an die anderer.
Ich hatte eine christliche Erziehung genossen. So weit es die Umstände erlaubt hatten, war sie streng gewesen, die erstbeste Gelegenheit, dem Einfluß meiner Eltern zu entkommen hatte ich ergriffen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals wieder eine Kirche betreten zu haben, danach.
Ich habe meine Gemeinde anderswo gefunden, auch meine heiligen Schriften. Eine andere, eine mir angenehmere Religion. Was sollte auch der Unsinn mit dem Gottessohn, der die Menschen die Wahrheit in Form unverständlicher, wenn auch nicht uninteressanter Geschichten und Gleichnissen lehrt, um sich dann von Ihnen ans Kreuz nageln zu lassen? Wodurch er noch diejenigen erlöst, die ihm da Unrecht tun, ich hatte ihn nie verstanden.
Langsam glätteten sich die Wellen in meinem Kopf, ich konnte die Gedanken wieder ordnen, sie kontrollieren, wußte, was sie ausgelöst hatte. Es ging um heute abend. Um meine Entscheidung. Ob ich dabei sein würde.
Jetzt bin ich dabei, und ich spüre, wie sich langsam Schweißperlen auf meiner Stirn bilden, das Unterhemd klebt an Brust und Rücken. Ich keuche vor Anstrengung, und doch nehme ich die Arme nicht herunter, unbeirrbar strecke ich sie gen Himmel, das Plakat über mir, ich fühle mich, als müßte ich einen hohen Berg besteigen, Schritt halten mit meinem fliehenden Schatten, ankommen, bevor es Nacht wird.
Mein Keuchen wird zu einem Stöhnen, mein Sichtfeld verschwimmt, meine Schritte verlieren an Rhythmus, alles dreht sich und ich falle ein zweites Mal, schlage mir das Knie auf, wieder sind da Arme, die mir aufhelfen, Stimmen, die mich fragen, ob es mir gut geht, jemand bietet mir Wasser an, ich winke ab, nehme dann doch einen Schluck und dann gehe ich weiter, humpelnd, aber entschieden.
Ein Gedanke der mich in meinen Überlegungen immer wieder beunruhigte, mich zurückhielt, war die Frage, ob ich vielleicht nur nachholen, wiedergutmachen wollte, was ich damals verpaßt hatte, denn das erschien mir unsinnig. Hier, in dieser Stadt, hatte es angefangen, und ich hatte nur zugesehen. Aus sicherer Entfernung, aber es war geschehen, es war vorbei.
Und ich wußte, daß es heute nicht das Gleiche sein würde. Und ich hatte ernsthaft geglaubt, daß ich keine Angst haben müßte. Jetzt, hier, unter ihnen allen, habe ich Angst. Ich habe furchtbare Angst. Angst, sie könnten mich erkennen, erkennen, daß ich damals nicht dabeigewesen bin, daß mein Versuch, wiedergutzumachen, lächerlich ist, daß ich nicht das Volk bin, daß ich mich geirrt habe, verirrt, gar nicht zu ihnen gehöre.
Alle sind sie auf der Straße, ganze Familien, alte Mütterchen und junge Burschen. Und es ist eine Wut in der Luft, ich nehme sie in mich auf, ich mache mich zum Ziel ihrer Wut, ich schwitze und trotte weiter, meine Arme schmerzen, die Wunde am rechten Knie brennt, ich leide.
Man muß mir vergeben, man muß einfach, auch ich werde erlöst, man wird mir vergeben, ich bin mir sicher.