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Deutsche Zustände
1993
Mit festem Schritt ging Uwe heran, der Nebel wich zurück und augenblicklich verließ ihn seine Standhaftigkeit. Er schwankte einige Sekunden, gab sich dann allerdings einen Ruck und zog den aufgequollenen, in Verwesung begriffenen Körper ans Land. Die männliche Leiche war mit Hämatomen übersäht, und die langen, schwarzen Haare hatten sich mit Seetang verbunden. Ein grausamer, unwirklicher Anblick.
Bis zum heutigen Tag war er immer gern hierher gekommen. Es war für ihn jedes Mal eine faszinierende Reise, raus aus der Platte, durch die Stadt und letztendlich entlang der naturbelassenen Ufer der Warnow bis zum Wehr, das die Grenze zwischen Süß- und Brackwasser bildete. Hier lag sein angestammter Angelplatz. 1950 war die Schifffahrt auf der Warnow eingestellt worden und so war es für Uwe, der im selben Jahr geboren war und hier seine ersten Schwimmversuche unternommen hatte, auch eine Reise in die Kindheit. Zu guter Letzt war dieser Ort sogar vergleichbar mit einer Zeitmaschine. Eine Maschine der Entschleunigung, da er hier die alles mitreißende Geschwindigkeit der Umwälzungen, welche die letzten Jahre diktiert hatte, für ein paar Stunden ausblenden konnte.
Seit der Wende hatte sich einiges geändert, und Uwe machte sich seine Gedanken dazu. In der DDR hatte er sich auch seine Gedanken gemacht und nach einem kurzzeitigen Aufenthalt in der JVA begriffen, dass er dies lieber leise als laut tun sollte. Bei dieser Vorgeschichte eigentlich ungewöhnlich, hatte er trotzdem auf einem DDR-Tanker von Rostock aus auf See fahren können und dabei seine Liebe zur See und zum Unbekannten entdeckt, die ihn bis heute nicht losließ.
Oft saß er, über eine seiner Fahrten und die unterschiedlichsten Begegnungen sinnend, auf seinem Klappstuhl und beobachtete die Posen, wie sie sich auf dem seichten Wasser langsam Auf und Ab bewegten.
An so etwas würde er nach diesem Tag sicher nicht mehr denken...
Er war geschockt und konnte den Blick doch nicht von der Leiche abwenden. Man mochte kaum glauben, dass es sich hierbei um einen Menschen handelte, und für Uwe war es unvorstellbar, mit was für einer krankhaften Wut man diesen Körper malträtiert haben musste, um ihn so zuzurichten. Einige Sekunden verharrte seine Augen auf der Leiche und nachdem er seine Blick endlich losgerissen hatte, dauerte es wiederum eine Zeit bis er wieder so klar bei Verstand war, dass er die Polizei alarmierte.
Ob es die kurzzeitigen, medialen Auswirkungen der Lichtenhagener Pogrome waren oder die Unverhohlenheit mit der die Täter sich kurz darauf in der Nachbarschaf ihrer Tat brüsteten, blieb ungewiss. Aber selbst die damalige Rostocker Polizei konnte davor nicht die Augen verschließen und nahm nach einigen anonymen Hinweisen auf mögliche Täter, die Ermittlungen auf.
Uwe beschäftigte sich möglichst wenig mit den nach und nach zu Tage tretenden Details der Tat, damit der Körper nicht allzu oft vor seinem geistigen Auge auftauchte. Nachdem die örtlichen Boulevardblätter von verfeindeten „Ausländerbanden“ aus dem Drogenmilieu berichteten und den Tod als begrüßenswerte Verbrecherauslese verkauften, setzten ihm die kommenden Wochen stark zu. Ähnlich verhielt es sich in seiner Stammkneipe „Utes Eck“, wo man immerhin schon weiter war als die örtliche Presse. Ein Arbeitskollege schrie ihm, einen mit Speichel angereicherten Schluck Sternburger aus dem Mund spuckend, zu: „NA DA HABEN ES DIE JUNGS DEN REISFRESSERN MAL RICHTIG GEZEIGT - WISSEN JETZT MAL, DASS MAN SICH HIER NICHT ALLES ERLAUBEN KANN!“ Auch gewöhnliche Menschen in seiner Nachbarschaft sinnierten gegeneinander abwiegend: „Als dat da letztens mal im Sonnenblumenhaus gebrannt hat, da Lichtenhagen, da haben doch schon alle geschrien, die vom Fernsehen und so waren ja auch da. Jetzt sollen die doch sonen Streit nicht so aufblasen. Menschenskind!“
Es hatte nicht allzu lange dauert, bis die Polizei die Täter, die nahe von Uwes Wohnung lebten, festnahm. Am Ende des Prozesses stand das Geständnis: Nachdem sie zusammen gesoffen hatten, zog eine Gruppe Neonazis auf die Jagd durch Rostock und suchte unter „Sieg Heil“-Rufen nach Ausländern. Als eine Gruppe Vietnamesen auf die Meute traf, gelang nur drei der vier Gastarbeiter die Flucht. Heu Mi Chan, 23 Jahre alt, schaffte es nicht.
Nachdem er zu Tode getreten worden war, schmissen sie den schon zu diesem Zeitpunkt unkenntlichen Leichnam in die Warnow und gingen zurück in die Kneipe, um weiter zu feiern.
Wenn man Politik mit klaren politischen Positionen gleichsetzt, wie es in Deutschland gern getan wird, war Uwe kein sonderlich politischer Mensch. Die Worthülsen der Parteien und deren Showmastern hatten ihn desillusioniert. Was auf der Welt passierte, nahm er dennoch wahr und dachte viel darüber nach. Meist kam er dabei eben nicht zu einer konkreten politischen Forderung, bestimmte Grundwerte und Erkenntnisse hatte er im Laufe seines Lebens jedoch als feststehend und als universell gültig erklärt:
Meist klangen sie für die politische Elite nach naiven Wünschen eines Kindes oder nach Stammtischparolen, die nicht weiter gingen, als die Sicht des Kippen-Qualms vorm Bier. Aber gerade weil sie so einfach und knapp waren, schienen sie Uwe als für jedermann verständlich. So hatte er einmal in eines seiner Seetagebücher geschrieben:
- Wenn ein Mensch Hilfe braucht, bietet man die auch an.
- Es gibt „gute“ und „schlechte“ Menschen, überall.
- Meistens geht's nur um's Geld.
Das Pogrom von Lichtenhagen und der Umgang mit dem Schicksal der Person, die er aus der Warnow gezogen hatte, bestürzten ihn und ließen ihn kurz an diesen Werten zweifeln. Ab und zu las er den „Spiegel“ gelesen, doch auch hier fand er die gleichen Parolen, wie sie, mit Beschimpfungen angereichert, auch in „Utes Eck“ zu hören waren. Selbst vor seiner liebsten Freizeitbeschäftigung, den zweiwöchentlichen Besuchen bei Hansa, machte es nicht halt. In der Zeit nach dem Leichenfund und den Pogromen hatte er in der Kneipe oder beim Fußball oft durch ganz unverfängliche Gespräche versucht, Leute davon zu überzeugen, dass diese Vorkommnisse nicht einfach so vergessen werden konnten und vor allem, dass es nicht wieder passieren dürfe. Ein halbes Jahr hielt er es durch, erntete aber meist nicht mehr als Hohn, üble Beschimpfungen und zuguterletzt eine Menge Selbstzweifel.
An einem Samstag Nachmittag stand er einmal mehr auf den Stehrängen des Ostseestadions und sah einen Zweitliga-Kick, der wenig mehr zu bieten hatte als Fehlpässe und Flanken ins Nirvana. Während Uwe an seinem Bier nippte und seinen Nebenmann davon zu überzeugen versuchte, dass es eigentlich unerheblich sei, ob der Innenverteidiger nun aus Polen oder Deutschland komme, begannen fast alle der Umstehenden, Affenlaute zu imitieren. Fassungslos blickte er auf das Spielfeld und sah in die genauso fassungslosen Augen des senegalesischen Hansa-Stürmers Patrice Diouf. Uwe verspürte Ohnmacht, verschränkte dann aber demonstrativ die Arme. Zu einer größeren Handlung war er in diesem Moment nicht fähig. Wohl auch aus instinktivem Selbstschutz. Als sich diese Szene mehrmals bei den Ballberührungen Dioufs wiederholte, stapfte er schließlich, sich an den Stahlgeländern festhaltend und von lähmender Resignation befallen, in Richtung Ausgang. Seine Beine kamen ihm bleiern vor und die Treppe schien nicht enden zu wollen. Gerade als er die triste Betonwelt des Stadions verließ, drangen noch einmal die Affenlaute zu ihm durch und es brach aus ihm heraus. Er schrie den ganzen Frust, die Enttäuschung, ja die Hoffnungslosigkeit auf Verbesserung, die sich im letzten Jahr angestaut hatte, aus sich hinaus. Eine bierseelige Hansa-Gruppe, die es wohl nicht bis ins Stadion geschafft hatte, amüsierte sich prächtig über ihn und fragten lallend: „Rennen die Neger heut mal ein bisschen schneller?“
Fast laufend, eilte er zur Kneipe „Die Kogge“ und bestellte ein Herrengedeck. Und noch eins und noch eins und noch eins...
An diesem Abend, eigentlich war es noch später Nachmittag, fasste Uwe seinen Entschluss. Weg! Weg aus Rostock! Es schien als hätte dieser Gedanke schon lange in seinem Innern gegoren und suchte sich nun, in diesem dunklen Loch mit nikotingelben Gardienen, einen Weg nach draußen. Gefolgt von den 8 Runden Korn und dazugehörigen Bieren, die er taumelnd vor der Kogge erbrach.
Seinen alten Klappstuhl aufgestellt, warf er die vorher präparierten Ruten bis knapp vor die Fahrrinne des Kanals. Während er früher mit Posen gefischt hatte, angelte er nun mit Grundmontagen. Eigentlich auf die Gegebenheiten des Gewässers zurückzuführen, bildete diese Umstellung eine Metapher seines Lebens, über die er sich gar nicht bewusst war.
Uwe führte das Leben eines Untergetauchten. Ruhig, ohne Aufsehen zu erregen und ohne sich von den Veränderungen rund um ihn herum aus seinem Trott herausbringen zu lassen.
Er war nicht unglücklich mit dieser Wendung. Er hatte nach seinem Weggang aus Rostock einige Jahre als Busfahrer gearbeitet. Im Gegensatz zu vielen seinen Kollegen, die keine Gelegenheit für einen Schnack ausließen, hatte er seinen Bus ruhig und nüchtern die immergleichen Routen, mit den immergleichen Insassen an die immergleichen Bushaltestellen gefahren und meist nicht mehr als „Guten Tag“, „2,90“ und „Auf Widersehen“ gemurmelt.
Nach Ratonalisierungsmaßnahmen beim lokalen Busunternehmen hatte er bei der Bahn angeheuert und musste mit seinen 56 Jahren oft den beschwerlichen Weg auf die gut 50 Meter hohe Eisenbahnbrücke auf sich nehmen. Die Arbeit war hart, der Ausblick von hier oben jedoch fantastisch und entschädigte für die Maloche ein wenig. Die Kollegen kamen, wie damals auf See, aus verschiedensten Ländern und Uwe war glücklich, dass die Vorurteile, die ihn einst aus seiner Heimatstadt hatten weichen lassen, hier anscheinend nicht so krass vorherrschten.
Ab und Zu hörte er mal hier mal dort noch die Ansicht, dass der Pole mehr Stahl von der Hochbrücke klauen würde, als er verbaue. Doch das war die Ausnahme.
Und so saß er am Kanal und wartete, dass das kleine, in die Sehne gehängte Glöckchen zu klingeln begann und er einen fetten Aal aus dem trüben Wasser ziehen könne.
Im ersten Moment dachte er nur, es wäre eine gräßliche Erinnerung an den Wintertag an der Warnow. Die Erinnerung kam auch heute noch oft in ihm auf, gerade wenn er beim Angeln war. Aber dann sah er sie ganz deutlich, und dumpf klatschte die Leiche, von einer Welle getragen, gegen die Mauer.
Der Mann konnte noch nicht lange im Wasser getrieben haben, denn er erkannte die Person, in dessen Kopf sich ein Loch gebohrt hatte. Der Mann hatte Uwe einmal nach dem Weg zum Kreishaus gefragt und mit Händen und Füßen hatte er es ihm verständlich machen können. Nun verstand er nichts mehr und Uwe auch nicht.
Die folgenden Tage lösten in ihm Verzweiflung aus. Die Presse spekulierte, warum der Mann aus dem Flüchtlingsheim wohl erschossen worden war. Die Wörter „Döner-Mord“ und „Gyros-Gangster“ wurden von der BILD-Zeitung eingeführt und hatten in den Medien Hochkonjunktur.
Überhaupt schien sich die Presse gegenseitig mit Gruseltheorien über die Machenschaften der „ausländischen Parallelwelten“ überbieten zu wollen.
Dass das Opfer weder aus der Türkei, noch aus Griechenland stammte, war dabei Nebensache und zynisch machte sich Uwe Gedanken, ob Journalisten für Alliterationen in der Überschrift wohl Prämien bekämen.
Er wusste, dass dieser Mann, er hieß Ashkan Azad, weder aus einem kriminellen Milieu stammte, noch in irgendeiner Weise wohlhabend war. Dieser Mann war vor Krieg und Armut geflüchtet - Nun war er tot. Und auf seiner Biographie trampelten die Medien herum, als gälte es auch den letzten Tropfen Blut aus ihm herauszupressen.
5 Jahre später sollten sie alle die Betroffenen mimen.
Doch es war 2006 und Uwe verdächtigte sich selbst der Paranoia, als er erneut, wie bei der Wasserleiche vor acht Jahren, an ein rassistisches Motiv für diese Tat dachte. Denn auch er hatte bemerkt, dass der plumpe Rassismus, den er aus Rostock kannte, zurückgegangen war. Aber hatte dieser Wandel wirklich Einzug in die Köpfe der Menschen erhalten hatte oder war es bloße Fassade? Er wusste es nicht.
Bei der Vorladung auf dem örtlichen Polizeirevier sagte er aus, dass er den Mann kurz kennengelernt habe und dieser keinen angsteinflößend, kriminellen, sondern vielmehr einen hilflosen Eindruck gemacht habe.
Gutmütig lächelte der Polizeibeamte, nachdem er seine Bildzeitung zur Seite gelegt hatte und sagte, obwohl 20 Jahre jünger als Uwe, väterlich zu ihm: „Wenn Sie wüssten, wie gut die sich tarnen und verstellen können...Da würden ihnen die Augen aus dem Kopf fallen.“
Uwe schluckte und verkniff sich zu erwidern, dass diesem Bengel die Augen aus dem Kopf fallen würden, wenn er sich nur einmal ernsthaft mit dem Schicksal dieser Menschen auseinandergesetzt hätte.
Er zuckte mit den Achseln und schlich aus dem Revier. Mit einem mechanischen Surren flog die Tür auf und schnappte hinter ihm wieder zu. Er stand alleine auf der Straße und die Welt brach über ihm ein. Die Ohnmacht obsiegte. Die Ohnmacht aus „Utes Eck“, die Ohnmacht gegenüber den Affenlauten im Stadion, die Ohnmacht gegenüber den Schlagzeilen der Zeitungen, die Ohnmacht gegenüber dem allwissenden Polizisten.
Uwe lief rastlos durch die Stadt und kletterte schließlich auf die Hochbrücke, wo er so oft den Ausblick über die Dächer dieser Stadt genossen hatte. Dann pinselte er einen Satz auf einen der Stahlträger.
„Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht!“
Der aktuelle Werbespruch der BILD-Zeitung.