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Deutsche Mädchen Weinen Nicht
Ich weiß noch ganz genau, dass das Radio eingeschaltet war. Es spielte ein Lied über ein Mädchen mit grünen Augen. Er hat mir an dem Tage gesagt, spielerisch und beiläufig, wie es nun einmal seine Art ist, es sei mein Lied. Dann hat er nur verschmitzt gegrinst und den Kopf geschüttelt, um zum Ernst des Lebens zurückzukehren und mir meine nächsten Aufgaben aufzutragen. Ich glaube, er ist sich der Anmut und Faszination seiner Art gar nicht bewusst, ebensowenig seiner Wirkung auf die Menschen. So ist er halt. Auf ganz persönliche Weise schön, einzigartig, sogar graziös. So gar nicht selbstzentriert und gleichzeitig so arrogant. Manchmal albern, an anderen Tagen so voller Lebensweisheiten. Meistens, das spüre ich genau, obwohl er es mir so niemals sagen würde, unterbewertet er sich, doch das ist mehr als ungerecht. Es könnte nicht weniger wahr sein.
Ich kenne ihn so gut, ich muss es wissen, obwohl er niemals spontan auf diesen Gedanken kommen würde. Ich bin nämlich seine Sekretärin, und das seit einigen Jahren. Alle Unterlagen, persönliche Angelegenheiten, Termine und Geschäfte, all das wird von mir verwaltet. Ich weiß alles, ich gebe mir Mühe. Detail für Detail habe ich mir sein Wesen eingeprägt. Auch das Hintergrundwissen, das täglich durch meine Finger in Form von Briefen, Diktaten und Formularen geht, vermag ich zwischen den Zeilen herauszupicken. Die Schönheit, die Einzigartigkeit seiner Selbst und seiner Persönlichkeit, das sind die offensichtlichen Dinge, davon spreche ich nicht. Aus den Schriften, aus den Telefonaten, die er führt, aus der Tonlage seiner Stimme, wenn er einen morgens früh begrüßt, habe ich seine Stimmungen einschätzen gelernt. Zum Beispiel die bestimmte Art, mit der er seinen Bleistift in den Fingern dreht, den schönen, feingliedrigen Fingern, wenn er einer Sache auf die Spur gekommen ist, oder wie er mit der Spitze des Stiftes den Radiergummi durchlöchert, wenn er sich konzentriert. Wenn er böse ist, beachtet er die Schreibutensilien gar nicht. Derer Subtilitäten gibt es natürlich viel, viel mehr, alle wunderbar auf ihre Weise.
Allein an der Art, mit der er das Büro morgens früh betritt, vermag ich schon abzusehen, wie es um seine Laune steht. Dann bin ich, und allein ich, darauf vorbereitet, und kann mich dementsprechend verhalten. Ich ordne dann die Blätter auf seinem Schreibtisch auf die verschiedenen Arten: Vertikal wenn irritiert, horizontal wenn gut drauf, in mehreren Schichten wenn nachdenklich. Mein Lächeln, meine Gebärden und auch die Lautstärke der Musik im Radio werden minuziös darauf eingestellt.
Die Art, wie er sich kleidet, und das ganz bestimmte Räuspern, wie auch jenes Greifen nach dem Ohrläppchen, all das sind unbewusste, jedoch glasklare Signale, die ich bereits instinktiv aufschnappe und denen ich mich anpasse.
Es gibt Tage, da möchte er die ganze Welt umarmen, ich bemerke es am Funkeln seiner Augen, und die Welt gibt sich feindlich. Da ist es meine Aufgabe, mich diskret seiner Stimmung anzupassen, um sie nicht von den Unwissenden zerstören zu lassen. Es gibt für mich nichts Schlimmeres, als ihn betrübt zu sehen, weil jemand ihm einen Anlass dazu gegeben hat. Ein Misserfolg ist zu überwinden, aber eine menschliche Enttäuschung schwerlich. Soweit ich ihm die kleinen Sorgen und Ärgernisse abnehmen kann, tue ich es auch, da nehme ich keine Rücksicht auf mich.
Es gibt so viele Dinge, die ich über ihn sagen könnte. In seiner Komplexität gibt er sich oft so wahnsinnig unkompliziert. Seine Stimme ist lieblich, seine Gebärden unverkennbar. Wenn er den Raum mit seiner Gegenwart beglückt, und das unabhängig von seiner Stimmung, ist es, als ob die Sonne hinter trüben Regenwolken hervorgekommen wäre, und das Leben ergibt, wie verzweifelt auch die Lage sein mag, wieder einen Sinn.
Zum Beispiel bewundere ich über alle Maßen die Art, mit der er es schafft, immer elegant und souverän zu wirken, egal, wie schlimm es um ihn steht, welche Sorgen er hat und was für schauderhafte Situationen zu überstehen sind.
Was ich gar nicht ertragen kann, das sind die ewigen Miesmacher, die gar nicht verstehen können, was sie an ihm haben. Mein Gott, begreifen die denn nicht, dass ein solcher Mensch, der so wunderbar und einzigartig ist, einfach auf natürliche Art über den anderen steht? Ja, das Gefühl habe ich immer öfter. Wie schon gesagt, ich nehme in Bezug auf ihn gar keine Rücksicht auf mich. Warum sollte ich auch? Auf mich kann die Welt verzichten, doch er ist unersetzlich. Eine Welt ohne ihn ist unvorstellbar, ich mag gar nicht daran denken! Dann jedoch denke ich, dass sein Leben viel unangenehmer und bedrückender wäre, stände ich nicht an seiner Seite. Vielleicht ist es sogar meine Bestimmung. Ich hoffe es wenigstens. Es wäre mein größtes Glück.
Die Tage sind nicht immer einfach, und in letzter Zeit hatten wir schwere Schicksalsschläge zu verkraften. Das Geschäft hat seine Tiefen, was sich natürlich auch auf sein Gemüt auswirkt. Dann ist er manchmal schroff oder unerbittlich zu mir. Ich aber weiß, dass er mich eigentlich mag und mir niemals etwas Böses wollen würde.
„Sie sind meine treueste Mitarbeiterin, unersetzlich. Ich weiß gar nicht, was ich ohne Sie anfangen würde,“ hat er mehr als einmal zu mir gesagt. Wenn er das oder Ähnliches tut, dann drückt er meine Hand oder klopft mir sachte auf die Schulter. Er kann doch so reizend sein!
Aber, wie gesagt, es gibt dann und wann diese ungünstigen Situationen, doch ich nehme Rücksicht auf die Umstände und verzeihe die Unfreundlichkeiten sehr, sehr schnell. Jede Talfahrt hat irgendwann ein Ende, und dann kommt wieder der Sonnenschein. Wenn er mich mitten in der Nacht oder morgens früh anruft, weil er eine Idee hatte, oder eine Konferenz einberuft und nicht auf meine Anwesenheit verzichten mag, obwohl ich krank bin, so bin ich ihm nicht böse. Er beweist lediglich, dass er meine Arbeit und Hingabe sehr schätzt. Ich habe auch noch niemals die Fassung vor ihm verloren, muss er doch einen Pol der Ruhe und Ausgeglichenheit um sich haben, turbulent und wechselhaft, wie er ist. Niemand, niemand kennt ihn so gut, wie ich es tue. Ich weiß es, ganz im Innern, dass er seinen Tag nur gut anfangen kann, wenn ich ihm zur Seite stehe. Das erkenne ich in seinem Blick. Ja, wenn ich nicht da bin, dann geht alles drunter und drüber. Ich kann mir wenigstens vorstellen, dass es so wäre, denn ich habe ihn noch niemals allein gelassen.
Wie heute.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und tippe ein Steno ab. Meine Hände haben Gott sei Dank schon aufgehört, zu zittern. Ich möchte ihn doch nicht enttäuschen! Er sitzt in seinem Büro, die Tür ist geschlossen. Ich weiß, dass er brütet und grübelt, denn es gibt viel zu tun.
Ich tippe weiter, denke gar nicht darüber nach. Ich versuche im Übrigen, alle Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Nur das Bild der verzweifelten Forderung und Erwartung in seinem Gesicht kann ich nicht vergessen.
Es war noch heute morgen. Wie gewohnt war er zur Arbeit gekommen, aufgekratzt, wie elektrisiert, voller Tatendrang. Eine Krise ist mitten im Gange, jedoch ist er optimistisch und kampfeslustig. Manchmal braucht er eine Schlacht, um sich nützlich zu fühlen. Das kann ich verstehen. Ich war auch gut darauf vorbereitet. Dann aber klingelte mein Telefon. Ich nahm ab. Es war meine Schwester. Der Mutter ging es nicht gut. Schon seit Tagen war sie im Krankenhaus, doch nun war ihre Lage sehr schlimm. Sie fragte nach mir.
„Der Doktor meint, es gehe mit ihr zuende,“ schluchzte sie in den Hörer. Ich fühlte mich hin- und hergerissen, denn ich hatte tonnenweise wichtige Arbeit zu erledigen. Er würde hohe Verluste wegstecken müssen, falls ich mit dem Papierkram nicht fertig würde. Doch es ging um meine Mutter. Zaghaft stand ich auf und klopfte an seine Tür. Er bat mich knapp und optimistisch herein. Ich tat wie geheißen. Er sah mich aus großen Augen erwartungsvoll an und grinste kurz. Der Bleistift tanzte zwischen seinen schönen Fingern anmutig und kriegerisch hin und her.
„Ah, Sie sind es. Wunderbar! Woher wussten Sie, dass ich Sie in diesem Moment rufen würde? Na ja, egal! Ich habe manchmal nur das Gefühl, Sie könnten meine Gedanken lesen.“
Ich lächelte unsicher.
„Danke.... Brauchen Sie mich jetzt denn?“
Sein Lächeln strauchelte und eine Augenbraue hob sich. Er ist diese verzagte Unsicherheit meinerseits nicht gewohnt.
„Aber ja doch, unbedingt! Stimmt was mit Ihnen nicht? Was immer es ist, es kann warten! Die Arbeit, oh, die Arbeit, sie kostet mich den letzten Nerv.... also wenn wir das heute nicht gewickelt bekommen, dann weiß ich gar nichts mehr.“
Ich zögerte noch immer. Seine Haltung verunsicherte mich in dem Entschluss, mein Anliegen vorzutragen. Er war so voll verzweifeltem Tatendrang, eine Stimmung, in der ich ihm erst recht nichts abschlagen kann! Doch meine Mutter, ich musste doch an meine Mutter denken!
„Wissen Sie, es geht um meine Mutter, sie ist sehr krank,“ warf ich mit zitternder Stimme ein, bevor er was sagen konnte. Er hatte das Kinn in die Hände gestützt und beobachtete mich prüfend. So etwas tat er normalerweise nur, wenn er jemandes Handlung, die ihn benachteiligen könnte, missbilligte. Mit diesem Blick war ich vorher noch nie bedacht worden. Mein Herz verkrampfte sich noch mehr und ich schluckte hart. „Wenn Sie mich nur für ein paar Stunden entbehren könnten, würde ich gerne zum Krankenhaus fahren....“
Wie vom Blitz getroffen, sprang er vom Stuhl auf und schritt schwer auf mich zu, die Augen so weit und ungläubig aufgerissen, wie die eines Rehs.
„Aber was sagen Sie mir denn da?“ fragte er entgeistert, die Stimme fest, jedoch leise. „Sie wollen mich tatsächlich im schlimmsten aller Momente im Stich lassen? Jetzt, wo ich Sie mehr als je zuvor brauche, jetzt, wo unser aller Zukunft auf dem Spiel steht? Wir bewegen uns auf des Messers Schneide, vergessen Sie das nicht! Ich brauche Sie!“ Er stand kaum einen halben Meter von mir entfernt und ich wagte nicht, mich zu rühren.
„Aber.... meine Mutter.... sie kann nicht warten.... sie hat nach mir gefragt....“ stotterte ich fassungslos. Er griff nach meinen Armen und drückte sie hart, als wäre er im Begriff, mich zu schütteln und die bösen Geistern aus mir zu vertreiben.
„Was ist denn in Sie gefahren? Ich erkenne Sie gar nicht wieder!“ erwiderte er scharf. Er hielt meinen Blick im seinen gefangen. Ich war wie gebannt. „Sie haben doch noch nie dazu geneigt, sich Gefühlsduseleien hinzugeben! Ist das jetzt ein neuer Trend oder was? Ihre Mutter wird es verstehen, wenn Sie Ihre Pflicht erfüllen! Was wären Sie für eine Tochter, wenn sie obgrund persönlicher Querelen vor Ihrer Verantwortung fliehen würden!“
„Aber....“
„Nichts da aber! Das Schicksal vieler, vieler Menschen steht hier auf dem Spiel! Wenn ich nicht mit Ihnen rechnen kann, so bricht das ganze Geschäft zusammen! Sie wollen unzählige Familien ins Verderben treiben, nur um egoistischen Sehnsüchten nachzukommen? Ich habe Sie vorher niemals um etwas bitten müssen, und ich hoffe, das wird auch weiterhin so bleiben!“
Seine Argumente waren einschlägig und der Schmerz, den ich ihm in diesem Moment zufügte, unerträglich. Wenn ich mich entschließen würde, zu gehen, dann hätte ich ihn im Tiefsten enttäuscht und für immer verloren. Ein Leben ohne seine Präsenz wäre doch leer, so leer! Doch der Gedanke an meine Mutter quälte mich und, gespalten in meinen Gefühlen, ließ ich zu, dass meine Augen sich mit Tränen füllten. Er ließ mich nicht los, schüttelte mich jedoch leicht und sachte.
„Nun lassen Sie das doch bitte sein! Reißen Sie sich zusammen!“ befahl er, halb irritiert, halb erschüttert. „Beschämen Sie das baldige Andenken Ihrer Mutter nicht! Gefühlsduseleien sind hier völlig fehl am Platze, das sagte ich Ihnen doch schon! Außerdem: Deutsche Mädchen weinen nicht!“
Ich biss mir also auf die Zunge, schluckte die Tränen nieder und nickte.
„Sie meinen also, es sei wichtiger, hier zu bleiben, als meiner Mutter Beistand zu leisten?“ erkundigte ich mich vorsichtig.
Er bemerkte, dass ich wieder gefasst war und lächelte charmant. Mit einer Hand hielt er noch immer meinen Arm umklammert, mit der anderen hielt er mein Gesicht. Ich spürte, wie meine Knie weich wurden. Sie zittern ja noch immer.
„Prioritäten müssen gesetzt werden,“ antwortete er sanft. „Das Wohl der Gemeinschaft geht über das Ihrige. Sie könnten es doch wohl niemals verantworten, uns alle in den Ruin zu treiben?“
„Nein,“ stammelte ich benommen. „Ich könnte Ihnen doch niemals so etwas antun.....“
„Sie werden sehen, Ihrer Mutter wird es sofort besser gehen, wenn Sie ihr berichten, wie standhaft, selbstlos und aufopfernd Sie sich verhalten haben. Sie wird stolz sein.... wie ich es bin. Sie sind die Beste.“
„Danke.....“
„Das ist mein Mädchen,“ sagte er, tätschelte noch einmal meine Wange und ließ mich los. „Und nun, zurück in die Schlacht!“
Ich nickte nur benommen, warf ihm noch einen wehmütigen Blick zu, den er mit einem strahlenden, selbstsicheren und zufriedenen Lächeln quittierte, und wankte zurück zu meinem Schreibtisch.
Das war heute morgen. Ich bin noch immer etwas benommen, habe mich aber wirklich wieder gefasst. Er hat ja Recht. Wie dumm und egoistisch, aus einem selbstsüchtigen Impuls die Arbeit im Stich lassen zu wollen. Wieviel Schaden ich hätte anrichten können! Gott sei Dank gibt es ihn in meinem Leben, der mich leiten kann. Sonst wäre ich verloren, das hat er selber einmal gesagt. Manche Menschen brauchen feste Führung. Ich gehöre dazu. Ich bin glücklich. Ja, das bin ich. Durch dieses persönliche Opfer habe ich bewiesen, wie sehr ich ihm und dem Geschäft zugetan bin.
Nach Weinen ist mir selbstverständlich nicht mehr zumute. Ich bin stark, standhaft und selbstlos. Ich habe ihn nicht enttäuscht. Ich bin ganz ruhig und bewältige jeden Selbstzweifel, wie auch das krampfhafte Zittern meiner Hände.
Deutsche Mädchen weinen ja nicht.