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Deutsch im NY Subway 1956
„Deutsch“ im NY Subway (1956).
Vor drei Tagen hat mich mein Bruder am Pier der Italian Line abgeholt, nachdem der Immigration Officer meine Einwanderungspapiere sorgfältig geprüft hatte. Sigi ist nach sechs Monaten Training als Jungbanker in Wall Street schon ein alter Hase in dieser Weltstadt. Nach kurzem Besuch in seiner Wohnung folgte ich ihm auf seinen Rat hin zu einer Unterrichtstunde in New Yorker Verkehrskunde. Seitdem weiß ich, dass der Subway mit seinen Local und Express Trains der Nord-Süd Verbindung dient. West-Ost fährt man in Bussen, deren Fahrer das Geldwechseln hassen. Zum Betreten der Subwayanlagen durch ein Drehkreuz braucht man einen Token, eine Münze mit einem eingestanzten Y. Ist man drin im Röhrensystem, dann kann man für den Rest seines Lebens dort bleiben. Aber wer will das schon. Übrigens haben die US Soldaten herausgefunden, dass man auch mit einem deutschen Pfennig hineinkommt. Er entspricht dem Token in Größe und Gewicht. Ich habe welche mitgebracht.
Bewundernd blicke ich noch einmal in der Straßenschlucht der 47 ten an den Häuserfronten zum schmalen Band des Himmels empor bevor ich unter dem „Uptown“ Schild der Subway hindurch auf der Treppe in die Tiefe trappele. Im grünlich gekachelten Eingangsraum mit seinem kleinen Kassenkabäuschen an der Wand und einer den Weg versperrenden Batterie von Drehkreuzen empfängt mich der schon beim ersten Besuch unvergesslich im Hirn verbleibende Geruch. Eine Mischung von morgendlich kaltem Kneipenmief mit scharfriechendem elektrischen KurzschlußOzon. Ich stecke meinen Token - oder war es noch mein letztes Pfennigstück- in den Schlitz und schiebe die Sperrstange mit lautem Knack nach vorn. Nun gibt’s zwei Rolltreppen nach unten „ Local“ und „Express“. Ich wähle Express, denn ich will in die Bronx, um mich bei meiner zukünftigen Quartierwirtin vorzustellen. Das Treppenband entlässt mich auf den kahl wirkenden Bahnsteig. Die Wand hinter dem durch seine dunkle Tiefe bedrohlich wirkenden Graben der Geleise ist mit ehemals grellfarbigen Reklameplakaten bepflastert, denen der Schmutz und die Zugluft arg zugesetzt haben.
Aus dem schwarzen Schlund des Tunnels rechts von mir dringt fernes Grollen, dass nach und nach in ein rasselndes Scheppern übergeht, beim Erscheinen des ersten Wagens am Bahnstein vom Quietschen der Bremsen übertönt wird und dann nach dem Stillstand des Zuges zu einem ungeduldig wirkenden Brummen abschwillt. Mit einem wie eingeübt erscheinenden „Klapp“ springen alle Türen gleichzeitig auf. Ich betrete den vor mir haltenden Wagen. Seine Sitzplätze sind bereits alle belegt. Das stört mich nicht, ich gehe in die Mitte des Wagens und ergreife eine der Halteschlaufen über meinem Kopf, denn der Zug fährt sogleich mit einem heftigen Ruck wieder an und kommt rasch in Fahrt.
Erst nach einigen Gewöhnungsminuten erkenne ich die Gesichter meiner Mitreisenden. Eine erstaunliche Mischung von Menschen aller Typen und Hautfarben. Sie reicht vom einem grauhaarigen Mann mit müdem, faltigem Gesicht in abgetragenem ehemals sicher maßgeschneiderten Anzug über einen stämmigen, jungen Burschen mit Bürstenhaarschnitt in blauem Overall und einer grellgeschminkten Tochter italienischer Einwanderer bis zu einer alten Dame in Rosa mit von einem Seidentüchlein verdeckten Lockenwicklern auf dem Kopf. In der kurzen Zeit meines Aufenthaltes in der Neuen Welt habe ich schon mehr Menschen kennengelernt als daheim in Deutschland in einer Woche. Wenn ich mit Amerikanern in einem Wartezimmer zusammensaß kam jedesmal mit den Leuten neben mir ein Gespräch in Gang, obwohl die New Yorker zurückhaltender sind als ihre Landsleute außerhalb der Großstadt. In der Subway seien sie allerdings abweisender hatte mir mein Bruder erzählt.
Das wollte ich jetzt ausprobieren. Daher versuchte ich den Augenkontakt mit einigen in meiner näheren Umgebung. Die alte Dame lächelte mir zu. Der junge Mann kniff mir ein Auge zu. Auch die Italienerin schien sich für mich zu interessieren. Der alte Mann jedoch blieb unbewegt ohne Interesse an seiner Umgebung. Auf der Bank direkt vor mir saß ein Farbiger. Mit den Abkömmlingen der ehemaligen Sklaven und den zahlreichen dunkelhäutigen frisch aus Porto-Rico eingewanderten Farbigen hatte ich noch keine Berührung gehabt. Daher traute ich mich nicht so recht ihn anzuschauen. Schließlich fasste ich Mut und versuchte es. Als er aufblickte lächelte ich ihm zu. Zu meiner Verwunderung kam erst einmal keine Reaktion zustande. Nach einigen Sekunden wurde sein Ausdruck böse und zornig. Fast sah es so aus als ob er aufspringen und mich angreifen würde. Seltsamerweise empfand ich keine Angst sondern nur Erschrecken und sagte ohne nachzudenken laut und deutlich:
„Leck mich am Arsch!“
Sein Zorn legte sich sogleich und machte einem Ausdruck völliger Verwunderung Platz. Dann lächelte er mich an.