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Detrimentum
sondern in dem, was er dir nicht offenbaren kann.
Wenn du ihn daher verstehen willst, höre nicht auf das, was er sagt,
sondern vielmehr auf das, was er verschweigt.
Beim Betreten des Gasthauses schlugen ihm der Geruch der Kräuter und die Hitze entgegen. Dampfwolken, welche aus dem hinteren Teil des Hauses kamen, sowie der etwas hektisch wirkende Teemeister unterstrichen den Zustand reger Betriebsamkeit, auch wenn gerade einmal zwei Tische besetzt waren. Eratio ging zu seinem Sitzplatz in einer der hinteren Ecken. Von hier hatte er den ganzen Schankraum, sowie den Eingang im Blick. Eine Angewohnheit, die er wohl nie würde ablegen können…
Eine junge Bedienstete kam an seinen Tisch und erkannte ihn direkt: „Das Übliche?“ fragte sie mit einem freundlichen Gesichtsausdruck. Eratio nickte ihr geistesabwesend zu, während er aus dem Fenster auf einen kleinen Fluss schaute. Hier konnte er in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Das Fließen des Flusses, der Geruch des frischen Tees und das Köcheln der Töpfe und Kannen verschwammen für ihn. Wie in einem Traum sah er sein Leben vor sich liegen. Ihm war viel Leid geschehen und er hatte mindestens ebenso viel aufkommen lassen. All seine Fehler, all sein Scheitern wurde ihm wieder schmerzlich bewusst.
Kopfschüttelnd versuchte er die Gedanken aus seinem Kopf zu verdrängen und blickte direkt, zum Teil verdrießlich, zum Teil verwundert, die Bedienstete an, welche ihm seinen Tee gebracht hatte. Wie lange war er abwesend gewesen? Sehr lange konnte es nicht gewesen sein und dennoch… Dies passierte ihm in letzter Zeit zu häufig. Einer der Gründe, warum er seine Ruhe nie wirklich genießen konnte.
Es wurde langsam dunkler, das Gasthaus begann sich zu füllen. Auch die Stimmung wurde immer heiterer. Laute Gespräche kamen auf, man unterhielt sich über seinen Tag, über die Geschäfte und witzelte über jene, die sich zu einfach haben übers Ohr hauen lassen, wie auch über den Nachbarn, der in seiner Dusseligkeit eine Tasse heißen Tees über seine Kleidung hatte fließen lassen.
Es knarrte, als die Tür aufgezogen wurde. Hinein trat eine junge Frau, eingehüllt in einen Umhang und eine Miene der Teilnahmslosigkeit. Doch etwas stimmte nicht. Der Umhang war aus feiner Seide, mit filigran eingearbeiteten Ziernähten und zudem nicht, wie üblich, in dem vorherrschenden Braun- oder Grauton gehalten, sondern beherrscht von einem tiefen Schwarz. Und da war noch etwas. Ihre Haltung, ihr Benehmen, all das wirkte aufgesetzt, irgendwie falsch.
Sie setzte sich an einen der freien Tische genau Eratio gegenüber. Als sie sich einen Tee bestellte und ihren Blick über die nähere Umgebung schweifen lies, zeigte sie die ersten sichtbaren Anzeichen von Nervosität. Sie waren gering, aber dieser Blick und ihre Selbstsicherheit zeigten es allzu deutlich. Dies alles war eine Maskerade.
Keine schlechte jedoch, dass musste sich Eratio eingestehen. Er nahm sie etwas genauer in Augenschein, nutze ein wenig Magie um seinen Blick zu schärfen. Der Anblick welcher sich ihm bot war erstaunlich. Er sah die Vergangenheit der Besucher vor sich ausgebreitet. Bilder, welche vielleicht schon lange vergessen und nur unscharf waren und andere, wie den ersten Kuss, welche in erschreckender Deutlichkeit vor seinem inneren Auge schwebten.
Eratio versuchte alles auszublenden und sich nur auf die junge Frau zu konzentrieren. Er konnte sie lesen, wie in einem Buch. Ihre Eltern waren das Kaiserpaar. Zum Leidwesen ihrer Eltern, war sie wohl von klein auf trotzig gewesen und hatte sich nie an das halten wollen, was man von ihr verlangte. Er erkannte eine Burg, weit im Norden, wo sich schon der erste Schnee zeigte. Ein Trupp bestehend aus fünf Dutzend Soldaten, ungefähr derselben Anzahl Bediensteter und dem Kaiserpaar. Nur eine Person fehlte. Es war die junge Frau. Gerade einmal acht Sommer alt, die es wohl geschafft hatte, trotz der Bewachung durch eine Magd, aus einem der Wagen zu schlüpfen. Eratio musste grinsen, als er sie dort sah, wie sie sich nach hinten fallen ließ, nur um ein paar andere Kinder zu überreden, mit ihr in den Wald zu gehen. Als ihr Fehlen bemerkt wurde brach das Chaos aus. Der Kaiser war außer sich vor Wut und hätte die Magd beinahe exekutieren lassen, hätte er nicht gewusst, welch ein listiges Kind seine Tochter sein konnte.
Als man die Kinder eine Stunde später auffand spielten sie gerade an einem Bach, schienen unbekümmert und fröhlich zu sein. All diese Unbekümmertheit verging ihnen jedoch schnell. Zur Bestrafung wurde ihnen für einen Tag das Essen verweigert und sie wurden in die Wagen eingesperrt wie Tiere.
Eratio versuchte sich von dem Bild loszureißen, denn was ihm viel wichtiger erschien, war was sie hier machte. Das nächste Bild zeigte ihm ihren Ausbruchsversuch aus dem Palast. Es war ihr geglückt und so saß sie nun hier. Ihm gegenüber. Wartend auf ein Treffen mit einem Soldaten, einem Freund des Kaiser. Doch sie schien ihm zu vertrauen.
Eratio wurde schwarz vor Augen und er musste sich Mühe geben, nicht mit dem Kopf auf dem Tisch zu landen. Er wusste, wann er genug gesehen hatte, außerdem war mit dieser Art von Magie nicht zu spaßen, er kannte sie. Wusste, dass man in ihr versinken konnte, wie in einem Meer. Einem Meer der Erinnerungen. Und so saß er auf weiter auf seinem Platz, betrachtete die junge Frau und wartete mit ihr. Spürte geradezu ihren Drang nach Freiheit.